Neustettin, Pommern

Mormon Deutsch Gerda KleinMein Name ist Gerda Klein, geb. Klettke. Geboren wurde ich am 2. Dezember 1937 in Neustettin [heute Szczecinek] Landkreis Neustettin, Pommern. Mein Vater ist am 20. Januar 1909 in Deutsch Fier geboren und meine Mutter am 6. Juni 1915 in Petzin.

Mein Vater war ein Feinmechaniker und meine Mutter war eine Hausfrau, wie das damals so war. Ich war ein sehr behütetes Kind und für sieben Jahre das einzige. Meine Eltern hätten gerne noch ein Kind gehabt, aber es kam einfach keines. Doch dann, als der Krieg wirklich schlimm wurde, da wurde sie noch einmal schwanger, und ich bekam eine kleine Schwester. Ihr Name ist Renate.

Meine kleine Schwester wurde mit einem Leistenbruch geboren. Sie durfte sich nicht aufregen, bzw. laut weinen, weil dann der Leistenbruch aus der Bauchdecke herauskam und die Gefahr bestand, dass das Bauchfell reißen könnte. In keinem Krankenhaus oder Lazarett konnte sie operiert werden, weil alles voller verwundeter Soldaten war, und kein Arzt konnte sich so einem Fall zuwenden.

Mein Vater war an der Front. Wir wussten nicht, wo er sich befand. In einem der letzten Briefe, die meine Mutter erhielt, schrieb mein Vater: Meta, du musst nicht fliehen, denn man wird dir und den Töchtern nichts antun. Das schrieb mein Vater, der an die Anständigkeit im Menschen glaubte. Es waren aber schon viele Flüchtlingstrecks durch unsere Stadt gekommen, und wir wussten von den Gräueltaten, die uns erwarten würden, wenn wir blieben. Die Freunde meiner Eltern hatten meine Mutter überredet, mit ihnen zu flüchten. Meine Mutter packte das Nötigste zusammen und flüchtete mit ihnen. Das Nötigste war, was man tragen konnte. Die erste Station auf unserer Flucht war Köslin. Köslin war schon weitestgehend verlassen. Wir quartierten uns in einem verlassenen Haus am Stadtrand ein, von wo wir aber schon die russischen Panzer schießen hören konnten

Alle, mit denen wir bis hierher geflohen waren, gingen auf einen offenen Lastwagen, um weiter gen Westen zu fliehen. Meine Mutter sagte, dass sie mit dem Baby nicht auf einen offenen Lastwagen gehen könnte, denn das Baby würde ihr erfrieren. Es war ja erst ein paar Wochen alt. Wir blieben nun alleine zurück in dem Haus und traten jeden Tag die Odyssee zum Bahnhof an, um in einen der Züge zu kommen, die das Gebiet verließen. Aber wenn immer wir am Morgen losmarschierten, um endlich in dieser Kälte zum Bahnhof zu gelangen, waren alle Züge besetzt, und niemand ließ uns hinein. Auf diesen Wegen versuchte meine Mutter zu vermeiden, dass ich die toten Tiere und Anderes am Wege nicht wahrnahm.

Das letzte Mal, als wir diesen Weg zum Bahnhof antraten, da sahen wir Jungen, nicht älter als 12 Jahre alt, die Panzerfäuste in der Hand hatten. Ein Mann stand daneben und erklärte ihnen wahrscheinlich, wie diese zu zünden seien. Diese Jungen hatten eine solche Angst in ihrem Gesicht. Bis heute habe ich dieses Bild nicht vergessen. Und ich dachte nur: Oh, was für ein Glück, dass meine Mutter bei uns ist. Als ich diese Situation später hier im Westen erzählte, hat mir das kein Mensch geglaubt. Aber es war so.

Und als wir dann auf dem Bahnhof ankamen und wieder alles besetzt war, da kam ein Mann an vom Militär und sagte: Es wird doch wohl möglich sein, diese Frau mit ihren Kindern mit zu nehmen. Dann hat er Druck gemacht, und wir konnten in den Zug einsteigen. Es war der letzte Zug, der Köslin verlassen hat. Wir waren sechs Tage unterwegs. Vor und zurück, vor und zurück, weil schon so viel zerschossen war. Und wenn man über eine Brücke fuhr, so wusste man nicht, ob man auch hinüberkam oder mit dem Zug in die Tiefe ging. Einmal, als wir wieder einmal anhielten, verließ meine Mutter das Abteil, um von der Lokomotive Wasser zu holen für meine Schwester, damit sie etwas Wasser bekam. Ich hatte solche Angst, dass ich meine Mutter verlieren würde. Und ein anderes Mal kamen Kontrolleure durch den Zug, um die inzwischen Verstorbenen herauszuholen. Sie wollten meiner Mutter auch meine Schwester fortnehmen, weil sie dachten, sie sei schon tot. Aber meine Mutter wehrte sich natürlich mit Händen und Füßen.

Zu der Zeit trugen viele Kinder ein Pappschild um den Hals gehängt, auf dem alle wichtigen Angaben aufgeschrieben waren, falls die Kinder von den Müttern getrennt würden. Ich wollte nicht so ein Schild tragen. Und so musste ich immer wiederholen, wann ich geboren war, wo ich wohnte, wie meine Eltern hießen usw. So dass meine Mutter ganz sicher war, wenn immer ich verloren gehen sollte, dass ich wüsste, wer ich war.

Nach 6 oder 7 Tagen kam dieser endlos lange Zug hier in Uetersen an. Uetersen hatte zu der Zeit noch einen Bahnhof. Alle aus dem Zug wurden dann zu einem Gasthof gebracht, und dort gingen dann die so genannten „Einheimischen“ herum und suchten sich dann die Leute aus, die sie bereit waren, in ihren Häusern aufzunehmen. Wir sahen nach den vielen Tagen ohne Wasser und Seife natürlich nicht sehr ansprechend aus. Wir wurden dann von einer Lehrerfamilie aufgenommen. Wir bekamen ein Zimmer zugewiesen, und wir hatten natürlich nichts, kein Bett, keine Sachen zum Wechseln, nichts. Und die Puppe, die ich mir heimlich eingesteckt hatte, die war natürlich auch verloren gegangen.

Ja, meine Mutter saß nun da, ohne Nachricht von meinem Vater, ohne jeden Besitz. Und wenn immer sie etwas erzählte von den Umständen, dann glaubte ihr niemand. Man bezweifelte, dass wir auch einmal ein Heim hatten. Oder je etwas besessen hatten. Wir waren die ungeliebten Flüchtlinge. Es war eine grauenhafte Zeit. Und keine Nachricht von meinem Vater. Nichts.

Ich lernte sehr früh lesen. In der Waschküche dieses Hauses, fand ich ein Buch, das zum Anheizen benutzt wurde. Wir lebten ja im Haushalt eines pensionierten Lehrers. Und dieses Buch war Heiliger Schrift, für Kinder oder Jugendliche geschrieben. Es war in diesem alten gotischen Druck. Und ich hatte so meine Schwierigkeiten es zu lesen. So sagte ich statt Saul Gaul und ähnliche Dinge. Und aus der Zeit resultiert mein gutes Verhältnis zur Bibel. Sie war für mich einfach wahr. Ich hatte nie den geringsten Zweifel. Aber meine Mutter sagte: Wenn es wirklich einen Gott gibt, hätte er das nie zugelassen, dass was uns oder anderen geschehen ist. Sie war der Meinung, dass es keinen Gott geben könnte. Doch ich wusste für mich, dass es einen Gott gab.

Hier möchte ich noch hinzufügen, was ich bei der Taufe meiner Schwester in Neustettin empfunden habe. Mein Vater wollte alles daran setzen, zu diesem Ereignis zu Hause zu sein. Wir warteten vergeblich. Wir befanden uns schließlich schon in der Kirche, und der Pastor begann mittlerweile ungeduldig zu werden. Ich schaute mir das Taufbecken an. Es war so ein altertümliches Gebilde auf einem hohen Sockel. Ich dachte: Oh, da passt Renate ja gar nicht hinein, und es ist ja auch viel zu wenig Wasser. Und es ist so kalt hier. Ich hatte damals also schon das Wissen, dass die Taufe, die an meiner Schwester vollzogen werden sollte, nicht das war, wovon ich in meinem Herzen wusste. Ich war 7 Jahre alt, und kein Mensch hatte mir je etwas über den Glauben oder Religion beigebracht.

Dieses ist die Geschichte, wie wir hierhergekommen sind und einiges über unsere Flucht. Wenn meine Mutter mit uns Kindern nicht hätte fliehen können, dann hätte sie uns und dann sich selber ertränkt. Meine Schwester hat aber überlebt, obwohl niemand es geglaubt hat, auch nicht die sie damals behandelnde Ärztin. Man konnte es sich nicht vorstellten. Aber sie ist eine zähe, kleine couragierte Frau. Das kann man so sagen. Jahrzehnte später, genau am 11. Mai 1998 erhielten wir ein Schreiben, welches ich nur Auszugsweise wiedergeben möchte

„Aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) ist uns jetzt eine Meldung bekannt geworden, nach der ihr Vater, Walter, Leo Ewald Klettke, geb. am 20. Jan. 1909 in Deutsch Fier Kreis. Flatow, am 15. Juni 1945 in der Kriegsgefangenschaft in Nowotroizk bestattet wurde.“

Obwohl es so lange her war, dass dieses geschehen ist, und ich auch immer wusste, dass er tot war. Doch als dann die Nachricht schwarz auf weiß vor mir lag, da erlebte ich einen wirklichen Tag der Trauer. Mein Mann wusste gar nicht, was mit mir los war. Denn er dachte, dass nach einer so langen Zeit so eine tiefe Trauer doch nicht möglich sein könnte. Aber Bestätigungen haben ihre eigenen Reaktionen.

Ich begann dann im Atlas zu forschen, wo dieser Ort sein könnte, wo er begraben wurde. Und ich wurde noch trauriger, als ich mir vorstellte, unter welchen schrecklichen Umständen die russischen Kriegsgegangenen transportiert worden sind. Ich hatte nämlich gelesen, wie es diesen Männern ergangen ist. Das war furchtbar

Dann wurde in Deutschland die Bundeswehr gegründet. Und als es soweit war, dass mein ältester Sohn zum Wehrdienst gerufen werden sollte, da habe ich mich gewehrt. Dafür habe ich kein Kind groß gezogen. Für so ein Elend. Als der Tag der „Anhörung“ kam, an dem man nämlich beweisen musste, warum man den Dienst verweigerte, saß da auch ein einarmiger Mann, der wohl irgendetwas beweisen sollte. Ich hatte einen Brief geschrieben, in dem all das Elend beschrieben war, dem wir durch Krieg und Flucht ausgesetzt gewesen sind. Und als dieser Brief vorgelesen worden ist, da waren alle ruhig, und unser Sohn wurde vom Wehrdienst befreit. Er hat dann einen Ersatzdienst im Krankenhaus geleistet, der zwar länger war als die Wehrdienst, aber sicherlich sinnvoller.

Wie kam ich nun zur Kirche? Von Haus aus war ich evangelisch. Aber nur auf dem Papier. Zu meiner Zeit ging man zwei Jahre zum Konfirmanden Unterricht. Meine Mutter wollte, dass ich konfirmiert wurde. Und ich versuchte anzunehmen, was ich dort hörte. Aber nach und nach fühlte ich, dass es eigentlich nicht das war, was ich in der Bibel gelesen hatte. Immer wieder machte ich einen Versuch, um zu einer größeren Nähe zu Gott zu kommen. Und dann dachte ich, dass es wohl nicht mehr gäbe, was in der Bibel stand. Inzwischen war meine Mutter 48jährig an Krebs gestorben, was mich in eine ziemliche Krise stürzte.

Um aus dieser Krise herauszukommen, empfahl mir ein Arzt, Autogenes Training oder Yoga zu praktizieren. Ich entschied mich für Yoga. Später machte ich dann eine Ausbildung zum Yogalehrer. In einem Meiner Kurse saß eine sehr aparte junge Frau. Sie gefiel mir sehr. Ich wusste nicht, dass sie ein Mitglied der Kirche war. Eines Tages standen Missionare vor unserer Tür, die sie geschickt hatte. Ich war ein wirklich schwerer Brocken. Im Frühling begannen sie mit der Belehrung, und im späten Herbst war ich dann endlich bereit, nachdem ich so manchen Abgang und Neuzugang an Missionaren erlebt hatte. Offenbar wurde ich von Liste zu Liste „vererbt“. Welch ein Segen. Aber das Schwerste war es, meine Taufabsichten meinem Mann zu unterbreiten, der alles andere nur nicht begeistert war. Einer seiner Sätze war: Wenn du meinst, dass du es nötig hast, dann musst du es eben tun. Aber lass mich bitte aus dem Spiel. Er war dann auch nicht mit zur Taufe, die am 17. Dezember 1977 stattfand, kurz vor meinem 40. Geburtstag.

Ich habe später einmal diese ersten 40 Jahre als meine Wanderung durch die Wüste bezeichnet. Ein paar Jahre später hatte unser jüngster Sohn den Wunsch, sich taufen zu lassen. Er war 9 Jahre alt und bekam die Erlaubnis von seinem Vater. Cirka zwei Jahre später folgte mein Mann. Unsre Tochter, die alles sehr aufmerksam verfolgte, ließ sich dann auch taufen, nachdem sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihr Vater etwas Unüberlegtes tun würde. Sie ging dann auf Mission nach Kanada.

Ich weiß ganz genau, wenn wir am Ort meiner Geburt geblieben wären, dann hätte ich das Evangelium nicht annehmen können, weil es nicht vorhanden gewesen wäre, als ich es sehr nötig hatte.