Wolletz, Angemünde, Brandenburg

Mormon Deutsch Helga Ida Martha KopischkeMein vollständiger Name ist Helga Ida Martha Kopischke. Mein Mädchenname ist Helga Haupt. Geboren bin ich am 31. Dezember 1934 in Wolletz, einer kleinen Stadt in der schönen Uckermark, im Kreis Angermünde in Brandenburg. Meine leiblichen Eltern waren Wilhelm Ernst Franz Haupt und Ella Ida Martha Jähnke. Als ich acht Jahre alt war, heiratete mein Vater ein zweites Mal. Die Mutter, die mich großgezogen hat, hieß Martha Haupt, geborene Röske. Ich habe insgesamt 4 Halbgeschwister, die ich allerdings nur in frühster Kindheit kennen gelernt habe.

Wir haben ungefähr zwei Jahre in Wolletz gewohnt und sind dann auf ein kleines Gut in Diko, in der Nähe des heute polnischen Neuenburgs, gezogen. Später sind wir dann direkt nach Neuenburg gezogen, wo auch meine Großeltern wohnten.

1939 brach der Krieg aus. Vielleicht lag es daran, dass meine richtige Mutter nicht so gut zu mir war. Das weiß ich nicht. Sie ließ meinen Vater und mich zurück und suchte ihr Glück wo anders. Eleanor und Manfred, meine beiden ersten Halbgeschwister nahm sie mit. Meinen Vater machte das sehr traurig. Weil meine Mutter so Hals über Kopf gegangen ist und ich noch sehr jung war, wohnte ich übergangsweise bei der Schwester meiner Mutter, Minna Wiese. Später brachte mich mein Vater zu meiner Tante und meinem

Onkel, Anni und Emil Krause nach Berlin, wo ich mehr sehr wohl fühlte. Hier verbrachte ich das schönste Jahr meiner Kindheit. Meine Tante und mein Onkel gingen oft mit mir ins Theater, in ein Konzert, in den Tierpark oder in den Zirkus. Ich war sehr glücklich zu dieser Zeit. Leider konnte ich aufgrund von zunehmenden Bombenangriffen nicht in Berlin bleiben.

Nach der Scheidung meiner Eltern nahm mich mein Vater 1942 mit zu seiner neuen Frau, einer Bäuerin aus der näheren Umgebung. Als mein Vater in den Krieg eingezogen wurde, lebten wir in Kleefeld, im Kreis Soldin, in der Nähe von Landsberg an der Warthe, fünfzig Kilometer von Stettin entfernt. Ab und zu hatte ich Kontakt zu meiner leiblichen Mutter. Aber ich fühlte mich dort nie sehr wohl. Ich bekam noch zwei Halbgeschwister, die Zwillinge Margot uns Ingrid, zu denen ich genau wie zu Eleanor und Manfred nur sehr, sehr selten Kontakt hatte.

1941 bin ich während des Krieges eingeschult worden. Leider war meine Schulzeit sehr bald vorbei, da im September 1944 alle Schulen mit Flüchtlingen belegt wurden. Die Schulen in den Städten waren als Lazarette eingerichtet worden und in den Dörfern wurden die Flüchtlinge in den Schulen untergebracht. Der Schulunterricht für die Kinder fiel aus.

Während des Krieges und in der kurzen Zeit nach dem Krieg, bis die russischen Soldaten kamen, ging es uns relativ gut. Wir mussten kein Hunger leiden und hatten auch sonst das Nötigste, was man zum Leben brauchte. Mein Vater hatte auf unserem Hof mehrere Verschläge aus Holz gebaut. In einem war Roggen, in einem anderen war Weizen, in noch einem anderen war Gemenge, in einem anderen war Hafer gelagert. Damit konnten wir die Tiere füttern und hatten auch selbst genug zu essen. In der Nähe war auch eine Mühle.

Nachts am 30. Januar 1945 kamen die ersten Russen durch unser Dorf. Das war eine sehr schlimme Zeit. Die meisten russischen Soldaten waren in Ordnung. Sie sind „nur“ durch die Dörfer gejagt und haben gekämpft. Am dritten oder vierten Tag wurde unsere Scheune in Brand gesteckt. Obwohl meine Mutter den Soldaten aus Angst um ihr Leben reichlich zu Essen gegeben hatte – wir hatten gerade vorher geschlachtet – sind sie rausgegangen und haben unsere Scheune niedergebrannt. Der halbe Hof ist dabei zerstört worden. Als wir sie fragten, warum sie denn unsere Scheune niederbrennen würden – schließlich konnten sie sich alles nehmen, was sie wollten, antworteten sie nur, dass sie die Soldaten der Front wären und die Nachhut wissen müsse, wie weit sie schon vorgerückt sind. Durch niedergebrannte Höfe haben die Soldaten ihren Weg markiert. Diese Soldaten haben uns aber ansonsten nichts weiter angetan. Doch es gab einige Soldaten, die viel Leid über uns brachten. Sie plünderten und machten vor niemandem Halt. Sie quälten und demütigten alte Männer, Frauen und Kinder. Noch heute verschlägt mir der Gedanke an die erlebte Grausamkeit die Sprache.

Ein paar Tage später wurden wir Zeuge einer weiteren schrecklichen Geschichte. Ein Panzer kam durch unser Dorf. Er kam an zwei Häusern vorbei, die direkt nebeneinander lagen. In dem einen Haus wohnte der Kutscher vom Gut, das andere Haus war das Doktorhaus. Dieser Doktor ist in seiner Wut auf die Russen mit einem Gewehr auf den Panzer zu gerannt und hat den Leutnant, der aus dem Panzer schaute, erschossen. Was dann folgte, werde ich wohl nie vergessen. Die russischen Soldaten nahmen Rache, indem sie die gesamte Familie des Doktors und den Doktor selber in sein Haus brachten und dieses anzündeten. Der Doktor, der erst Mitte fünfzig war, das ältere Fräulein Kaiser, das jüngere Fräulein Kaiser und die noch sehr kleinen Kinder wurden bei lebendigem Leibe verbrannt. Die markerschütternden Schreie drangen bis in unser Haus. Noch heute kann ich ihre Schreie in meinem Kopf hören. Doch der Rachedurst dieser russischen Soldaten war noch nicht gestillt. Sie zündeten das Dorf an sieben weiteren Stellen an und gingen durch den Ort und erschossen wahllos zwanzig weitere Menschen. Sowohl alte Leute als auch Kinder. Einen Tag später ist ein Pferdefuhrwerk gekommen. Sie wollten den Arzt holen, weil eine Frau im Nachbardorf ein Baby erwartete, und die Geburt wohl ziemlich schwer war. Die Häuser waren verbrannt und die Russen standen drum herum und ergötzten sich an ihrem Rachewerk. Dann kam dieser unschuldige Mann, der eigentlich nur Hilfe holen wollte. Sie haben einfach den Mann und das Pferd erschossen. Wir als Kinder mussten mit ansehen, wie der freundliche Mann plötzlich tot auf der Straße lag.

Zu dieser Zeit besaßen wir noch einen verhältnismäßig großen Hof von etwa vierzig Morgen. Das wurde uns alles weggenommen und davon haben wir auch nie wieder etwas gesehen. Wir hatten Pferde und vier Kühe. Die russischen Soldaten haben uns all unsere Pferde und drei Kühe weggenommen. Eine Kuh durften wir behalten. Darüber freuten wir uns sehr, denn damit hatten wir nicht gerechnet. Wir durften auch zwei oder drei Hühner behalten. Die restlichen Hühner haben sie weggeholt und geschlachtet. Das war die schlimmste Zeit, die man sich im Leben vorstellen kann. Dazu kamen die Bilder des Krieges, die sich in meinem Kopf unauslöschlich festgesetzt haben: tote Tiere auf den Straßen, schlimmer noch: tote Menschen. Kinder die mit einfach so herumliegender Munition spielten und sich dann daran schwer verletzten.

Obwohl der Krieg gerade vorbei war, ging im Sommer 1945 das Grauen weiter. Durch viele Flüchtlinge herrschte eine unvorstellbare Enge. Auch bei uns wohnte eine Flüchtlingsfamilie mit im Haus. Hunger und ein Mangel an Reinigungsmitteln für die Hygiene waren Alltag. Auf Grund dieser unhaltbaren Zustände brach eine Typhus-Epidemie aus. Die Krankheit verbreitete sich sehr schnell. Zwei Drittel aller Menschen in Deutschland erkrankten daran. Es gab keine Ärzte bzw. irgendeine Art von medizinischer Betreuung und auch keine Medizin. Der Arzt in unserem Dorf wurde ja getötet. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder man überlebte, oder man starb. Sehr viele Menschen starben in diesem Sommer. Als ich Typhus bekam, war ich elf Jahre alt. Ich habe die Krankheit glücklicherweise überlebt. Ich musste sechs Wochen im Bett liegen. Durch die fehlende medizinische Betreuung war es nicht sicher, ob ich überleben würde. Ich war durch das lang anhaltende hohe Fieber körperlich sehr geschwächt. Als ich mich nach einigen Wochen zum ersten Mal im Bett aufrecht hinsetzen konnte, hatte ich endlich wieder etwas Appetit. Und zwar auf Salzgurken. Meine Stiefmutter hatte einen großen Teller voll mit Salzgurken, die sie selber eingelegt hatte, auf den Tisch gestellt. Ich konnte ja nicht laufen, aber zum Glück stand der Tisch ziemlich nahe. Ich habe mir den Tisch mit der Tischdecke angezogen und habe dann genüsslich Salzgurken gegessen. Meine Mutter hat geschimpft, voll Angst, dass ich wieder krank werden könnte. Aber ich habe keinen Rückfall erlitten. Mein Körper hat wohl die Mineralstoffe der Gurke gebraucht, so dass er alles aufgenommen und zum Aufbau des Körpers verwendet hat. Es hat dann allerdings noch einige Monate gedauert, bis ich wieder richtig laufen konnte und vollkommen gesund war. Aber die lange Genesungszeit war typisch für diese Krankheit.

1945 wurde Ostpreußen Polen zugesprochen. Vertreibung stand auf der Tagesordnung. Wir erlebten dies an eigenem Leib. Weil der Pole meinte, Anspruch darauf zu haben, mussten wir aus unserem Haus raus. Auch unsere letzte Kuh haben sie uns weggenommen. Wir hatten nun fast nichts mehr. Wir galten als Gefangene.

Wir sind in eine kleine Wohnung in der Nähe gezogen, die nicht schwer zu finden war, da es nach dem Krieg und der Typhus-Epidemie aufgrund der vielen Toten viele leer stehende Wohnungen gab. Meine Mutter hatte im März, nachdem die Russen in unser Dorf eingefallen waren, ihre zwei Schwestern zu uns geholt. Die eine Schwester hatte eine kleine Tochter, Elfriede, die drei Jahre jünger war als ich. Wir wohnten mit der Großmutter, meiner Stiefmutter, mit den beiden Tanten und meiner Cousine in einem kleinen Zimmer. Zusätzlich gab es noch eine kleine Küche. Im Raum gab es zwei Fenster. Ein Fenster hatten wir mit einem Schrank zugestellt, weil sonst nirgendwo Platz war – das andere Fenster war frei.

In dieser Wohnung erlebte ich im Dezember 1946 etwas Wunderbares. Wenn mich heute meine Kinder, Enkel und Urenkel nach meiner „schönsten Weihnachtsgeschichte“ fragen, erzähle ich ihnen folgende Begebenheit: Meine Cousine Elfriede und ich saßen auf der Fensterbank. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Tag vor Weihnachten war oder Heiligabend. Zu der Zeit gab es nichts. Wie alle Kinder warteten auch wir auf Geschenke. Wir beide saßen da und waren so traurig und sagten: „Keine Geschenke, keine Süßigkeiten, kein Obst, kein Kuchen“. Wir schauten raus und sagten wehmütig: „und noch nicht einmal Schnee.“ Abends sind wir früh zu Bett gegangen. Es war kalt und wir hatten kaum etwas, womit wir heizen konnten. Die einzige Licht- und Wärmequelle war eine Karbidlampe. Am nächsten Morgen riefen die Frauen: „Elfriede, Helga, steht mal auf und seht aus dem Fenster!“ Der Anblick war herrlich! Alles war weiß und glitzerte. Noch heute überkommt mich das gleiche Gefühl wie damals, wenn ich aus dem Fenster schaue und entdecke, dass es geschneit hat. Wenn die Sonne scheint und dadurch der Schnee glitzert und alle Bäume bedeckt von Schnee sind, dann habe ich immer noch ein Gefühl in mir, das so überwältigend ist, dass ich nicht weiß, ob ich nun lachen oder weinen soll. Daher kann ich heute sagen, dass es mein schönstes Weihnachtsgeschenk in meinem Leben war, als wir rausschauten und diese Schneepracht sahen. Meine Oma, meine Mutter und meine Tanten kamen später ins Zimmer und brachten einen Teller mit Kuchen. Der Kuchen war zwar so hart wie Stein, dass man sich damit ein Loch in den Kopf hätte hauen können, doch auch hierfür fanden die durch den Krieg kreativ gewordenen Frauen eine Lösung. Sie hatten Gerste in einer Pfanne geröstet, haben es gemahlen und davon Kaffee gekocht. Glücklich saßen wir nun auf der Fensterbank, haben die Schneelandschaft bewundert, haben unser Stück Kuchen in den Kaffee gestippt und genussvoll unser Weihnachtsmahl gegessen. Ich erhielt unerwartet das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je bekommen hatte.

Ab 1947 fing es allmählich an, wieder etwas aufwärtszugehen. Während es zum Beispiel direkt nach dem Krieg so gut wie keine Lebensmittel gab, konnten wir nun als Arbeiter auf den Feldern und Gutshöfen ein paar Zloty verdienen. Davon konnten wir uns mal ein Pfund Salz oder einen Liter Öl kaufen. Bis 1947 konnten wir noch in Kleefeld wohnen bleiben.

Im August 1947 mussten wir unsere Heimat verlassen. Wie alle Deutschen in der Gegend waren wir nun Flüchtlinge. Wir sind zu Fuß in die nahe gelegene Stadt Soldin [Myślibórz] gegangen. Die Frauen haben aus Handtüchern Rucksäcke genäht. Das waren natürlich keine Frottierhandtücher, wie wir sie heute haben, sondern Handtücher aus Leinen oder Baumwolle. Die Riemen wurden aus Geschirrhandtüchern gebunden. Wir Kinder bekamen eine Umhängetasche. In der neuen Heimat angekommen, wurden Rucksäcke und Umhängetaschen aufgetrennt, und wieder als Handtücher benutzt. Wie gesagt. In Kriegszeiten wurden die Menschen kreativ, wenn es um alltägliche Dinge ging.

Bevor die Reise losging, backten die Frauen Zwieback und Weißbrot, welches im Backofen geröstet wurde. Wir Kinder bekamen jeder ein Stück Brot in unsere Tragetasche, damit wir, falls wir von den Großeltern oder Tanten getrennt wurden, nicht hungern mussten. Dass Kinder von ihren Verwandten getrennt werden könnten oder verloren gingen, war eine gefürchtete Situation. In Soldin sind wir für eine Nacht in großen Häusern untergebracht worden.

Dann ging es weiter zum Bahnhof. In Viehtransportwagen sind wir dann Richtung Westen gebracht worden. Obwohl es sich bei der Strecke nur um ein paar Kilometer handelte, hat die Fahrt, weil die Gleise teilweise zerstört waren, eine Woche gedauert. Damit sich keine Krankheiten ausbreiteten, sind wir unterwegs oft entlaust worden. Das war für uns Kinder nicht so schlimm. Aber für die alten Leute war das eine schreckliche Tortur. Alle mussten sich nackt ausziehen. Dann wurden die Sachen mit dem größten Kleidungsstück zu einem Bündel geschnürt und abgegeben. Während die Kleidung durch Erhitzung gereinigt wurde, mussten wir nackt auf Bänken sitzen und warten, bis wir unsere Sachen wieder bekamen. Die Männer wurden gesondert von uns entlaust. So war es nicht so peinlich. Die kleinen Jungs bis 12 Jahre durften bei ihren Müttern bleiben. Nach etwa ein bis zwei Stunden war die Reinigungsprozedur abgeschlossen. Allerdings sahen wir danach aus wie Schneemänner. Unsere Kleidung war voll von weißem Pulver und unsere Haare standen, ebenfalls voll von weißem Pulver, in alle Richtungen ab.

Unser Ziel war vorerst Rudolstadt in Thüringen. Dort gab es eines von vielen Quarantänelagern, in dem Deutsche gesammelt wurden. Von dort ist man entweder, wenn man Glück hatte, von Verwandten abgeholt worden, oder wurde mit Zügen in verschiedene deutsche Städte verteilt. In diesem Lager waren wir zwei Wochen. Nach dem Krieg 1947 gab es nicht viel zu essen. Jede Person bekam eine dicke Scheibe Brot für den ganzen Tag und mittags gab es einen viertel Liter Kohlsuppe. Man konnte die Kartoffeln und die Kohlblätter darin zählen, alles andere war Wasser. Aber wenigstens hatten wir etwas, womit wir unseren Hunger stillen konnten. Die Kinder bekamen zusätzlich eine kleine Tasse Milch. Hier konnten wir uns auch endlich richtig waschen. Nach zwei Wochen kamen zwei Tanten von mir – unter anderem meine geliebte Tante Anni aus Berlin und holten meine Stiefmutter, meine Großmutter und mich ab. Da meine Tante und meine Cousine keine direkten Verwandten hatten, mussten sie in Rudolstadt bleiben. Sie sind von dort aus in die Nähe von Berlin gebracht worden.

Dann bin ich nach Wilsickow gekommen. Wilsickow liegt zwischen Strasburg und Pasewalk im hohen Nordosten von Deutschland. Die nächsten größeren Städte, Neubrandenburg und Stettin, befinden sich ca. 50 Kilometer entfernt. Mein Vater, der nach einjähriger Kriegsgefangenschaft wieder zurückgekehrt war, erwartete uns dort. Was für eine Freude es war, ihn nach mehr als fünf Jahren endlich wieder zu sehen!

Nach den fürchterlichen Jahren des Krieges und der Vertreibung begann dort nun eine schöne und ruhige Zeit für uns. Mein Vater hatte im Zuge der „Demokratischen Bodenreform“ einen Hof zugeteilt bekommen, zu dem vierzig Morgen Land gehörten und den wir bewirtschaften durften. Um eine Existenzgrundlage zu schaffen, wurde das Eigentum von Kriegsverbrechern, Kriegsschuldigen und aktiven Nazis an Landarbeiter und Vertriebene verteilt.

Ich ging nun auch wieder zur Schule. Mit 13 Jahren kam ich in die dritte Klasse der Volksschule Wilsickow, weil ich mit dem Lernen da anknüpfen musste, wo ich 1944 aufgehört hatte. Weil ich parallel aber auch immer auf dem Hof helfen musste, war für die Schule nicht so viel Zeit. Nach der Volksschule besuchte ich noch die fünfte Klasse der Hauptschule in Milow. Obwohl meine Lehrer sich für mich einsetzten, war danach die Schulzeit für mich vorbei. Ich wurde auf dem Hof als Arbeitskraft gebraucht. Manchmal bereue ich es, dass ich nicht länger zur Schule gehen durfte – vor allem weil mir dadurch mein Traum Kindergärtnerin zu werden, versagt blieb. Um mein Wissen über die Landwirtschaft zu vertiefen, ging ich dann aber noch drei Jahre zur landwirtschaftlichen Berufsschule in Milow. Die Landwirtschaft ist bis heute noch etwas, woran ich mich erfreuen kann. Heute ist es zwar nicht mehr die Arbeit auf dem Hof und dem Feld – aber der eigene Garten ist nach wie vor ein gepflegtes Hobby.

In meiner Jugendzeit gab es auch endlich wieder Zeit für schöne Dinge. So verbrachte ich viel Zeit mit meinen Freunden. Wir spielten leidenschaftlich gerne Theater und gestalteten bunte Abende im Dorf. Oft gingen wir tanzen. Wir gingen gemeinsam zur Schule, arbeiteten gemeinsam auf dem Feld, gingen gemeinsam zur Konfirmation und teilten Freud und Leid. 1950 wurde ich mit 16 Jahren zur Maikönigin gekrönt. Ich war beliebt und fühlte mich unter meinen Freunden sehr wohl.

Die Bilder des Krieges konnte ich nie aus meinem Kopf bekommen. Angst war, trotz immer besserer Zeiten, ein häufiger Begleiter. Aber wir versuchten nicht so viel darüber zu nachzudenken oder zu sprechen und einfach das Beste aus unserem Leben zu machen. So verdrängten wir langsam den Schrecken des Krieges.

1951, als ich 17 Jahre alt war, trat Kurt Kopischke in mein Leben. Es war auf einem Tanzabend der Maschinenausleihstation (wir nannten sie einfach nur MAS), als ich ihn zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Kurt, der bei der MAS als Motorenschlosser für Landmaschinen arbeitete, ging, genau wie ich und meine Freunde, gerne zu den geselligen Veranstaltungen, die regelmäßig von der MAS organisiert wurden. Ich kann mich noch an den ersten Gedanken erinnern, den ich hatte, als Kurt Kopischke mich zum Tanzen aufforderte. „So schlecht sieht er ja gar nicht aus“, sagte ich später auch zu meiner Freundin Irmgard. Weil Irmgard im gleichen Haus wohnte, wie die jungen Arbeiter der MAS, fragte ich sie über diesen Kurt aus. Sie erzählte mir nur Positives über ihn, sagte, er sei die „große Ausnahme“. Er sei nicht so ordinär wie die anderen Jungs aus dem Dorf, er sei nett, zuvorkommend und höflich. Als ich ihn dann das nächste Mal sah, war es um mich geschehen. Ich fand ihn umwerfend. Wir fingen an, uns zu unterhalten und Zeit miteinander zu verbringen. So verging der ganze Sommer. Zum Erntefest im Oktober kam Kurt extra wegen mir nach Wilsickow. Anfangs war er noch zögerlich – er brauchte bis 03.30 Uhr morgens, bis er sich endlich traute, mich aufzufordern. Ich kann mich noch genau an „unser Lied“ erinnern: die Band spielte „Wer weiß wann wir uns wieder sehn, am grünen Strand der Spree“. An dem Morgen begleitete er mich zum ersten Mal nach Hause. Wir schrieben und trafen uns regelmäßig. Langsam entwickelte sich unsere Liebe. Vier Wochen nach dem Erntefest erzählte er mir bei einem Treffen in Pasewalk, dass er Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sei. Er erklärte mir, was es bedeute, ein Mitglied der Kirche zu sein. Was mich dabei sehr beeindruckte, war das Gesetz der Reinheit. Mir wurde klar, dass, wenn ich Kurt heiraten würde, niemals Angst haben müsse, dass er mir untreu werden würde. Weil Kurt durch seine Religion die Ehe als etwas Heiliges ansah, konnte ich sicher sein, dass mir so etwas, wie es meinem Vater mit meiner leiblichen Mutter passiert ist, nicht widerfuhr. Wenn ich mich entschließen könne Mitglied der Kirche zu werden und warten könne, bis er seinen Dienst bei der Armee absolviert hätte, wollte er mich heiraten. Auch wenn ich oft daran zweifelte, ob ich wirklich gut genug für ihn bin, wollte ich auf ihn warten.

Eigentlich hätte Kurt gerne Maschinenbau in Leipzig studiert. Daraus wurde allerdings nichts, weil er als „Freiwilliger“ 3 Jahre lang für den Dienst in der Armee verpflichtet wurde. Kurt lud mich nach Strasburg ein, wo seine Familie wohnte. Da Strasburg nur 7 Kilometer von Wilsickow entfernt war, konnte ich ihn und seine Familie oft besuchen. Durch die vielen Besuche, vor allem in der Zeit, als Kurt bei der Armee war, entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zwischen mir und Meta Kopischke, seiner Mutter. Durch ein Rückenleiden, welches zu dieser Zeit entstand, musste ich oft nach Strasburg zum Arzt. Dadurch war ich noch öfters bei den Kopischkes. Meta erzählte mir sehr viel über die Kirche. Sie belehrte mich, indem sie mit mir die Lieder aus dem Gesangbuch sang, im Buch Mormon las und die Kirchengeschichte studierte. Ich genoss diese Zeit mit „Mutti“, wie ich sie später nennen durfte, sehr. Mein Zeugnis wurde mit der Zeit immer stärker. Alle vier Wochen nahm sie mich mit zur Kirche nach Prenzlau. Weil der Weg so weit war, konnten wir nur einmal im Monat diese Strecke auf uns nehmen. Wenn wir unseren „Kirchensonntag“ hatten, verließen wir morgens um 05.30 Uhr das Haus und kamen erst abends – wenn wir Glück hatten und der Zug nicht unterwegs kaputt ging – um 21.30 Uhr zurück. Mein Glaube wuchs von Tag zu Tag.

Ein ewiges Prinzip, welches sich in dieser Zeit sehr in mein Herz brannte, war das des Betens. Ich durfte immer wieder erkennen, dass der Herr Gebete beantwortete, auch wenn ich nicht wusste, wie das funktionieren sollte. Das eindrücklichste Erlebnis hiermit war etwas, was letztendlich auch zu meiner Taufe geführt hat. Im Sommer 1954 betete ich viele Wochen lang jeden Abend zum Vater im Himmel, dass ich doch gerne überraschend getauft werden würde. Ich traute mich aber nicht, jemanden darauf anzusprechen. Ich wünschte mir, dass man auf mich zukam. Nach meinem Verständnis aber war es für mich klar, dass ich es jemandem sagen muss, wenn ich getauft werden will. Denn wer kann schon Gedanken lesen?! Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie es funktioniert, dass Gott Gebete erhört und auch beantwortet. Aber ich betete weiter, weil da diese Ahnung war, dass Gott Wunder bewirken kann. Ich kämpfte also mit meinem Wunsch getauft zu werden und meiner Angst jemanden anzusprechen. Trotz meiner Zweifel und Ängste, bereitete ich mich auf die Taufe gut vor.

Am 19. September 1954 fuhren meine zukünftige Schwiegermutter und ich zur Distriktskonferenz nach Neubrandenburg. In der Mittagspause kam der Distriktspräsident Bruder Walter Krause zu uns. Er begrüßte uns freundlich und sagte: „Ach, Fräulein Helga, sie haben den Wunsch, sich taufen zu lassen?“ Ich sagte überrascht einfach nur „ja“. Ich war ziemlich sprachlos. Er fragte mich, ob ich denn alles mitgebracht hätte, worauf sich meine Freude beinah wieder in Luft auflöste. Denn mein Taufhemd, das ich zwar schon genäht hatte, lag zu Hause. Aber er beruhigte mich. Er erzählte mir, dass ein kleiner Junge von elf Jahren heute getauft werden solle, und es sich bestimmt arrangieren ließe, auch mich heute zu taufen. Ich konnte das alles gar nicht fassen und war überglücklich. Ich fragte mich, wie er darauf kam, mich gerade heute zu fragen. Erst später wurde mit bewusst, dass seine Frage eine Antwort auf meine Gebete war. Mein Zeugnis wurde noch unerschütterlicher, als ich später seine Ansprache hörte. Er berichtete, dass er aufgrund von Krankheit eigentlich nicht an der Konferenz hätte teilnehmen können. Er hatte hohes Fieber und musste das Bett hüten. Er entschuldigte sich im Gebet und sagte dem himmlischen Vater, dass er sich zu krank und elend fühle. Da hörte er eine Stimme, die ihm sagte, dass er auf die Konferenz gehen müsse, weil ihn dort jemand braucht. Nachdem ihm der Geist ein zweites Mal zuflüsterte, dass er unbedingt auf der Konferenz gebraucht wird, hat er zwei Tabletten genommen und seine letzten Kraftreserven mobilisiert. Ich bin im Nachhinein so dankbar für diesen glaubenstreuen Distriktspräsidenten, da er damals der Einzige war, der so spontan meine Taufe veranlassen konnte. Missionare gab es nicht. Bruder Krause hat ein paar Geschwister aus der Gemeinde Neubrandenburg zusammengetrommelt, mit denen wir zum nahe gelegenen Tollensesee gegangen sind. Meine zukünftige Schwiegermutter war skeptisch. Man brauchte doch Taufkleidung, Handtücher und so weiter. Es sah so aus, als ob niemand etwas dabei hätte und lediglich der kleine Junge heute getauft werden würde. Als es aber so weit war, zog einer der Männer eine Decke aus seiner Aktentasche, hinter der ich mich umziehen konnte. Ein anderer zauberte ein Taufhemd aus der Tasche, der nächste frische Unterwäsche für mich. Die Brüder hatten am Wasser eine wunderschöne, von Wald umgebene Stelle ausgesucht. In der Ferne konnte man eine kleine Insel sehen. Es war sehr idyllisch. Ich wurde von Bruder Hans Polzin getauft. Er hatte mir vergessen zu sagen, dass ich unter Wasser keine Luft holen durfte. Weil ich sehr wenig Erfahrung mit Wasser hatte, verschluckte ich mich. Aber er hat mich gut festgehalten. Es war ein wunderschöner Septembernachmittag. Nachdem wir uns umgezogen hatten, kehrten wir ins Gemeindehaus zurück, um einen Taufgottesdienst abzuhalten. Bruder Krause fragte mich, ob ich einen Liedwunsch hätte. Ich wünschte mir das Lied Nummer 92 im Gesangbuch: „Wie süß die Stund, da frei von Sorg die Seele in sich geht; wenn vor dem Herrn im Kämmerlein ich kniee im Gebet“. Ich wusste jetzt, dass Gott tatsächlich unsere Gebete hört. Nach dem Lied bin ich konfirmiert worden. Ich war nun ein richtiges Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Obwohl Kurt während seines Armeedienstes öfters vor allem am Wochenende zu Hause war, konnte er bei meiner Taufe leider nicht dabei sein. Aber er hat sich sehr gefreut, als ich ihm in einem Brief von meinem Tauferlebnis berichtete.

An einem Wochenende, als Kurt zu Hause war, erzählte er mir die Geschichte, wie er zur Kirche kam. Weil diese Geschichte unsere spätere Familie auf so wunderbare Weise prägte, möchte ich sie hier mit aufnehmen:

1942: Als kleiner Junge wohnte Kurt mit seinen Eltern in Stettin. Einer seiner besten Freunde hieß Otto Dreger. Aus Spaß nannte Kurt ihn immer „Otto Dreger Gustav Ernst.“ Der zehnjährige Otto wurde jeden Sonntag von seiner Oma abgeholt, um mit ihr zur Sonntagsschule zu gehen. Eines Tages fragte Otto seinen gleichaltrigen Freund Kurt, ob er nicht mal mit ihm zur Sonntagsschule kommen wolle. Nachdem Kurt die Erlaubnis seiner Mutter hatte, fuhren sie beide gemeinsam zur Kirche. [In der Sonntagsschule lernten Kurt und Otto, dass sie Kinder Gottes waren. Sie sangen Lieder und lernten zu beten. Kurt ging gerne zur Kirche, denn er fühlte dort etwas Besonderes, nämlich Frieden und Freude. Er bat seine Eltern und seine Schwester, ihn zu begleiten. Die Mutter von Kurt hatte schon immer nach der Wahrheit gesucht. Sie war evangelisch, fühlte aber bald dasselbe, wovon Kurt sooft erzählte, nämlich einen besonderen Frieden und Freude im Herzen. Im September 1942 haben sich Kurt, seine Mutter und seine Schwester Anni taufen lassen. Als Kurt mir diese Geschichte erzählte, war ich sehr dankbar für den jungen Otto Dreger, der schon mit 10 Jahren das Herz eines Missionars besaß und einfach seinen Freund fragte, ob er ihn zur Sonntagsschule begleiten wolle.

Im Sommer 1955 hatte Kurt seine drei Jahre Armeezeit absolviert. Ich war sehr froh, ihn endlich wieder regelmäßig zu sehen. Wir wollten Weihnachten heiraten. Da allerdings Kurts Vater im November verstarb, mussten wir die Hochzeit verschieben. Am Samstag, den 11. Februar 1956 haben Kurt und ich geheiratet. Da wir nicht viel Geld hatten, gab es keine Hochzeitsfeier, wie wir es heute kennen. Wir sind einfach zum Standesamt nach Strasburg gegangen und haben uns trauen lassen. Unser „Hochzeitsmahl“ waren gebratene Flundern. Am Montag hat Kurts Mutter eine Torte gekauft, welche sie dann bei unseren Bekannten und Freunden verteilt hat – mit der Information, dass wir geheiratet haben. Am Sonntag in der Gemeinde hat Bruder Walter Krause unsere Ehe gesegnet, indem er uns beiden einen Segen gab. Eine Siegelung im Tempel war für uns zu dieser Zeit noch nicht möglich.

Dann kam die Zeit, in der jede Woche die Polizei oder Leute von der Stasi vor unserer Tür standen. Sie wollten Kurt anwerben, für sie zu arbeiten. Nachdem man ihn aber drei Jahre lang verpflichtet hatte, wollte er mit der Armee, der Polizei oder Ähnlichem, nichts mehr zu tun haben. Etwa zur gleichen Zeit schrieb uns meine Schwägerin Anni Röhl aus Elmshorn, ob wir sie nicht mal besuchen wollten. Sie deutete an, dass im Nachbarhaus eine kleine Wohnung frei wäre. Wir fassten den Entschluss in den Westen zu fliehen. Die Flucht bereiteten wir so gut wie möglich vor. Im Sommer 1956 stellten wir einen offiziellen Ausreiseantrag für 3 Wochen Urlaub in Westdeutschland. Ich war zu der Zeit im fünften Monat mit meinem ersten Kinde schwanger. Stück für Stück verkaufte Kurt alles, was wir nicht mitnehmen konnten, wie zum Beispiel sein Motorrad. Vor der eigentlichen Flucht packten wir viele Koffer, die wir mit dem Zug von Strasburg nach Westberlin brachten. Dort wurden sie aufgegeben und nach Hamburg geschickt, wo Anni sie dann abholte. In den Koffern verstauten wir all unsere Kleidung, Wäsche, Handtücher, unser Bettzeug und allerhand Kleinkram – alles, was wir eben in Koffer packen konnten. Einmal war ich mit meiner Schwiegermutter unterwegs, um einen großen Koffern nach Berlin zu bringen. Die „gefährliche“ Station war Bahnhof Friedrichstraße, eine Station vor dem Westen. An dieser Station wurden die meisten Flüchtlinge aus dem Zug gezogen. Jeder, der auch nur auffällig aussah, wurde kontrolliert und, wenn er Pech hatte, verhaftet. Man sagte, dass viele Familien in großes Unglück gestürzt wurden, weil sie versucht hatten, zu fliehen. Ich stand also ängstlich an der Zugtür, während meine Schwiegermutter im Abteil saß. Als die Soldaten mit aufgepflanzten Gewehren kamen, um jedes Abteil zu kontrollieren, bedeckte Meta den Koffer mit ihrem Kleid. Ich stellte mich mit meinem schwangeren Bauch so breit ich konnte in die Abteiltür. Wir schickten etlichen Stoßgebete in den Himmel. Als die Soldaten an unser Abteil kamen, schauten sie allerdings nicht in das Abteil, sondern scannten mit ihren Augen nur die Kofferablagen über unseren Köpfen. Sie ließen uns in Ruhe und wir konnten aufatmen. Wieder einmal hatte der Vater im Himmel unsere Gebete erhört.

Im Juli 1956 verließen mein Mann und ich dann endgültig die DDR. Da wir eine offizielle (Urlaubs-) Ausreisegenehmigung hatten, konnten wir relativ unbehelligt die Strecke von Strasburg nach Elmshorn zurücklegen. Ein mulmiges Gefühl hatten wir natürlich trotzdem. Erst als wir Anni am Bahnhof auf uns zukommen sahen, konnten wir endlich aufatmen. Kurts ältere Schwester Anni und ihr Mann Horst wohnen (auch heute noch) in Klein Nordende, einer zum Kreis Pinneberg gehörenden Ortschaft, die nur ein paar Kilometer südlich von Elmshorn liegt. Hier hatten sie eine kleine Wohnung für uns gefunden. Kurts und meine erste gemeinsame eigene Wohnung! Das war ein schönes Gefühl. Unser neues Leben konnte beginnen.

Mein Mann fand sofort Arbeit als Schlosser in einer Autowerkstatt. Auch in der Gemeinde in Pinneberg fanden wir schnell Anschluss. Es war zwar nur ein kleiner Zweig mit gerade mal 18 Mitgliedern, aber wir fühlten uns dort sehr wohl. Vor allem freuten wir uns, dass wir jetzt regelmäßig in die Kirche gehen konnten. Wir hatten nunmehr die Gelegenheit, die Kirche und das Evangelium richtig kennen zu lernen.

Am 20. Oktober 1956 ist unser Erich geboren. Da er fünf Wochen zu früh auf die Welt kam, durften wir ihn in den ersten drei Tagen nicht sehen. Das war schrecklich für mich. Der Arzt, der nach der Geburt zur Visite kam, war ziemlich kalt und herzlos. Wie man uns später erzählte, war er während des Krieges als KZ-Arzt tätig. Er verunsicherte mich, indem er sagte, ich sei ja noch eine junge Mutter und könne noch genug Kinder zur Welt bringen. Von den Strapazen der Geburt erschöpft, und verunsichert durch die Worte des Arztes, weinte ich stundenlang. Kurt tröstete mich, so gut er konnte, indem er mir sagte, dass Erich es bestimmt schaffen würde. Nach drei Tagen konnten mein Mann und ich unseren Jungen das erste Mal sehen. Wir waren so glücklich. Erich musste noch vier Wochen im Krankenhaus bleiben, weil er zu wenig wog. Erst wenn die Kinder sechs Pfund auf die Waage brachten, durften sie von den Eltern mitgenommen werden. Ende November konnte ich ihn endlich nach Hause holen.

Eine schöne Zeit brach für uns an. Als kleine Familie engagierten wir uns in der Gemeinde. Neben dem sonntäglichen Kirchenbesuch, gingen wir jeden Mittwoch zur GFV. Dort wurden wir belehrt, machten gemeinsam Sport, spielten und gestalteten bunte Abende. Sonntags fanden die Sonntagsschule und der Gottesdienst statt. Hierfür mussten wir eine Stunde zur Bahn laufen, 20 min. mit der Bahn fahren und dann noch mal eine halbe Stunde zum Gemeindehaus gehen. Das war sehr mühsam, vor allem im Winter. Doch aufgrund unseres immer fester werdenden Zeugnisses, wollten wir die Kirche nicht missen. Die PV machten wir zu Hause und für die FHV fuhr ich mit dem Fahrrad zu einer Schwester aus Elmshorn. Ich habe in dieser Zeit sehr viel über das Evangelium gelernt.

Am 21. Januar 1958 wurde unser zweites Kind geboren. Wir bekamen eine kleine Tochter, die wir Erika nannten. Ich blühte in meiner Rolle als Mutter und Ehefrau richtig auf und genoss es Hausfrau zu sein. Nun waren wir jeden Sonntag mit zwei Kinderwagen unterwegs. Wenn im Winter viel Schnee lag, konnten wir allerdings oft nicht zur Kirche gehen. Dafür war der Weg zu mühsam. Der Schnee setzte sich alle paar Meter in den Kufen des Kinderwagens fest und behinderte uns, vorwärtszukommen. Mein Mann und ich entschieden, dass ich an solchen Tagen zu Hause zu blieb. Das bekümmerte mich, vor allem wenn manche Schwestern zu mir sagten, ich müsse nur mehr Glauben haben.

Eine weitere Glaubensprüfung war, dass ich mit meinen Kindern während der Versammlungen auf dem Flur stehen musste. Der Gemeindepräsident hatte damals kein Verständnis dafür, dass es im Gottesdienst eventuell laut oder unruhig werden könnte. Er wollte nicht, dass Freunde der Kirche durch Kinderlärm „abgeschreckt“ werden. Kurt und ich waren kurz davor, nicht mehr nach Pinneberg in die Gemeinde zu gehen. Wir wollten lieber in eine Gemeinde gehen, wo wir mit unseren Kindern in den Gottesdienst gehen konnten. Doch wohin? Auch hier hat der Herr uns in unserer Not geholfen.

Zu einer großen Regionalkonferenz, kam Präsident Ezra Taft Benson, der damals noch Apostel war, zu Besuch nach Hamburg. Diese Versammlung wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Erich hatten wir dabei, Erika blieb bei meiner Schwiegermutter zu Hause, weil sie zu klein war. Ich erinnere mich noch heute, wie sehr sich die Worte des Apostels in mein Herz brannten, und mir außerdem eine große Last von den Schultern fiel. Er sprach in seiner Ansprache über Mütter. Er war überrascht, dass er so wenige Kinder sah. Er verdeutlichte die schweren Aufgaben einer Mutter und betonte die Heiligkeit dieser Berufung. Er rief die Mitglieder auf, vor allem die jungen Mütter zu unterstützen.

Seit dem hat mir der Gemeindepräsident nie wieder gesagt, dass ich während der Abendmahls-Versammlung rausgehen soll. Wir brauchten keine andere Gemeinde suchen, sondern konnten weiterhin in unsere eigentlich geliebte Gemeinde gehen. Die Ansprache kam in dem Moment, als wir sie dringend brauchten, und erreichte auch die richtigen Leute. Mein Herz war von Dankbarkeit erfüllt.

Im Mai 1959 hatten wir ein Erlebnis, welches ich auch heute noch als mein geistigstes Erlebnis betrachte. Der Tempel in der Schweiz hatte ein paar Jahre zuvor seine Tore geöffnet. Nun hatten wir endlich genug Geld gespart, um gemeinsam mit Erich und Erika nach Zollikofen zu fahren, um aneinander gesiegelt zu werden. Die Zugfahrt dauerte über 15 Stunden. Als wir in den Tempel gingen und die heiligen Handlungen an uns vollzogen wurden, erfüllte mich ein sehr friedevolles Gefühl. Kurt und ich wurden aneinander gesiegelt. Unsere Ehe war nun eine, die Gültigkeit für Zeit und Ewigkeit hatte. Als man uns unsere Kinder brachte, die ebenfalls weiße Kleider trugen, schwoll mein Herz fast über. Nach der Siegelung waren wir eine ewige Familie. Das war die Erfüllung unserer Wünsche. Wir wussten, dass wir für immer zusammengehörten. Wir wussten, dass die Kinder, die später noch geboren werden, im Bund geboren werden würden.

Die wunderbaren Gefühle, die ich an diesem Tag hatte, kann ich auch heute noch kaum in Worte fassen. Von da ab machten wir es uns zur Gewohnheit, jedes Jahr für eine Woche zum Tempel zu fahren. Anstatt in den Urlaub zu fahren, sparten wir unser Geld für diese Fahrt. Unsere Kinder sollten von Anfang an lernen, wie wichtig der Tempel für uns ist.

1960 kauften wir uns unser erstes Auto. Ich sehe noch heute das pink- und rosafarbene Auto mit einem beigefarbenen Dach vor meinem inneren Auge. Das Auto war von der Marke Lloyd. Ich hatte in einem Zeitungsvertrieb eine kleine Arbeitsstelle angenommen, damit wir uns das Auto überhaupt leisten konnten. Aber mit einem Auto ging alles leichter. Wir konnten damit zur Kirche fahren und auch zum Tempel.

1963 erlebten wir mit diesem Auto ein Wunder. Wir waren auf dem Weg zum Tempel. In Höhe von Hannover fing das Auto plötzlich an langsamer zu werden und Angst einflößende Geräusche zu machen. Trotz des kaputten Autos fuhren wir langsam weiter. Wir wussten, dass der Satan es immer wieder versuchte, uns von unseren Tempelfahrten abzuhalten. Wir fasteten und beteten, bis wir am nächsten Tag in der Schweiz waren. Dort brachten wir das Auto in eine Werkstatt. Als wir das Auto abholten, fragte uns der Werkstattarbeiter, wo uns das Auto kaputt gegangen sei. Als wir ihm erzählten, dass das bei Hannover war, schüttelte er immer wieder den Kopf und sagte „unmöglich“ – er fragte uns mehrmals, weil er es einfach nicht glauben konnte, dass wir es bis in die Schweiz geschafft hatten. Aufgrund eines defekten Zylinders, wie wir dann erfuhren, war eine ausreichende Motorenleistung eigentlich nicht mehr möglich. Wir wussten, dass genau wie die Handkarren der Pioniere damals, unser Auto von Engeln geschoben wurde. Wir hatten ein Wunder erlebt.

Die sechziger Jahre waren für unsere Familie genauso schön aber auch turbulent, wie die ersten Ehejahre. Unsere Familie wurde immer größer, wodurch ich natürlich auch immer mehr zu tun hatte. Dazu kam, dass Kurt neben seiner Arbeit auch Berufungen erhielt, die ihn sehr in Anspruch nahmen. Nachdem er zwei Jahre lang Gemeindepräsident war, wurde unsere Gemeinde eine Bischofsgemeinde, in der er als Bischof eingesetzt wurde. Nach sechsjähriger Amtszeit, war er noch zwei weitere Jahre als Hoher Rat in Hamburg unterwegs. Ich war also viel allein zu Hause. Aber nach wie vor, genoss ich es, Ehefrau und Mutter zu sein. Ich bemühte mich außerdem, Kurt, so gut ich konnte, in seinen Berufungen zu unterstützen. Wir bekamen in der Zeit noch drei weitere Söhne. Herbert wurde am 7. Februar 1961, geboren, Bernd am 8. Juli 1964. Klaus, unser blondes Nesthäkchen, erblickte am 11. August 1967 das Licht der Welt. Wir waren inzwischen umgezogen, weil die 24 m² große Wohnung in Klein Nordende für sechs Personen einfach viel zu klein war. Wir wohnten nun in Elmshorn und fühlten uns dort auch sehr wohl. Die 77 m² große Wohnung, war für uns wie ein Palast. In dieser Wohnung lebten wir mit unseren fünf Kindern von 1965 bis 1979.

Diese 14 Jahre in Elmshorn waren geprägt von allerlei Trubel. Die Kinder wuchsen auf, und gingen zur Schule. Ich war froh, dass meine Schwiegermutter einmal in der Woche zu mir kam, um mir im Haushalt zu helfen, da es doch eine ganze Menge war, was ich zu bewältigen hatte. Ich versuchte meine Kinder immer so gut ich konnte zu unterstützen. Ich las viel mit ihnen und animierte sie, regelmäßig ihre Hausaufgaben zu machen. Wenn sie in der PV Ansprachen vorzubereiten hatten, ließ ich sie ihre Gedanken selber formulieren und aufschreiben. Aber nicht nur ich unterstützte die Kinder, sondern sie Kinder unterstützten auch umgekehrt mich. So profitierte ich als Mutter von den Stärken, die meine Kinder in das Familienleben einfließen ließen.

Erich war zum Beispiel der Streitschlichter der Familie. Er versuchte oft dafür zu sorgen, dass Frieden und Harmonie unter allen herrschte. Nicht nur dadurch war er für seine Geschwister stets ein Vorbild. Außerdem war Erich jemand, auf den ich mich immer verlassen konnte. An seiner Ernsthaftigkeit und Liebe zum Evangelium konnten wir uns alle ein Beispiel nehmen.

Erika war die „zweite Mutter“ der Familie. Wo sie nur konnte, unterstützte sie mich, wenn es darum ging, auf die Kinder aufzupassen, die Kleinen zu füttern oder zu wickeln. Dass wir die einzigen beiden weiblichen Personen im Haushalt waren, verband uns natürlich. Ich versuchte ihr eine Freundin zu sein und ihr außerdem ein Vorbild darin zu sein, eine gute Mutter zu sein. Wenn ich sie heute betrachte, wie sie mit ihren Kinder umgeht, bin ich sehr stolz auf sie.

Herbert war der Handwerker der Familie. Schon mit elf Jahren zeigte ihm mein Mann, wie man z. B. kaputte Kabel reparierte oder Stecker montierte. Egal ob Staubsauger, Kassettenrekorder oder Fernseher – wenn etwas nicht mehr funktionierte, schaute sich das zuerst unser Herbert an. Meistens brachte er die Gegenstände wieder zum Laufen. Eine weitere Sache, die Herbert auszeichnete, war seine Ausdauer und sein Gehorsam, auch wenn ihm etwas schwer fiel. Als „Querkopf“ der Familie war er zwar oft Ursache für Trubel, aber gleichzeitig lernte ich durch ihn, eine geduldigere, liebevollere und verständnisvollerer Mutter zu sein.

Bernd war der Sonnenschein der Familie. Er machte oft Spaß und brachte alle zum Lachen. Er verstand es, schwierigen Situationen die Schwere zu nehmen, und mir deutlich zu machen, dass etwas mehr Leichtigkeit das Leben doch tatsächlich einfacher macht. Ganz der Gentleman war Bernd ein Vorbild an Höflichkeit. Schon als kleines Kind verstand er es, mich mit seinem Charme um den Finger zu wickeln. So brachte er mich zum Beispiel zum Schmunzeln, als er – obwohl er gerade eine Tracht Prügel von mir erhalten hatte – verzweifelt schluchzte: „Du bist doch meine charmante Mutti!“

Klaus war ein äußerst wissbegieriges Kind. Oft unterhielt ich mich mit ihm, über Themen des Evangeliums oder des Alltags. Er diskutierte gerne mit mir und es war mir eine Freude, ihm Rede und Antwort zu stehen. So saßen wir beispielsweise einmal am Esstisch, als der sechsjährige Klaus mich fragte, wo wir denn herkommen würden. Ich erzählte ihm vom vorirdischen Dasein, vom Rat im Himmel und dass wir uns schon im Himmel dazu entschlossen hätten, in unsere Familie zu kommen. Ich war erstaunt, wie interessiert er mir zuhörte und mit seinem kindlichen Glauben all das annahm, was ich ihm erklärte.

Etwas, was all unsere Kinder gemeinsam hatten, war die Liebe zur Musik. Auch wenn wir nicht viel Geld hatten, war es Kurt und mir wichtig, dass die Kinder lernten, ein Musikinstrument zu spielen. So spielten Erika und Herbert Gitarre, Erich Akkordeon und Bernd und Klaus Klavier. Vor allem an den Heimabenden aber auch zu vielen anderen Gelegenheiten musizierten oder sangen wir gemeinsam. Ich liebte es, mit Kurt zusammen alte Heimatlieder zu singen – und erfreute mich daran, wenn unsere Kinder uns dabei begleiteten.

Eine besondere Herausforderung war für mich, wenn ich merkte, dass meine Kinder um ein Zeugnis kämpften. Wie jede Mutter wünschte ich mir, dass meine Kinder glücklich sind. Deshalb war es für Kurt und mich sehr wichtig, dass Erich, Erika, Herbert, Bernd und Klaus an den Veranstaltungen der Kirche teilnahmen. So fuhr mein Mann sie regelmäßig mit dem Auto dorthin. Wir hielten unsere Kinder dazu an, am Seminarprogramm der Kirche teilzunehmen. In der Zeit, als das Seminar früh morgens in der Gemeinde stattfand, nahm Kurt die Jungen um 05.00 Uhr morgens auf dem Weg zur Arbeit mit. Sie legten sich dann in der Gemeinde in eine stille Ecke und schliefen noch ein wenig, bevor das Seminar schließlich losging. Wenn ein Kind partout keine Lust hatte, am Seminar teilzunehmen, las ich mit ihm im Buch Mormon. Die Auseinandersetzung mit dem Evangelium, die Teilnahme an Kirchenveranstaltungen, der Familienheimabend und das Familiengebet, sollten eine Grundlage sein, auf der die Kinder ihr Zeugnis vom Evangelium aufbauen konnten.

Zeitlich zwar eine Herausforderung, aber letztlich ein Segen, waren die Berufungen, die ich erhielt. So war ich in verschiedenen Ämtern in der PV zuständig, Lehrerin in der Sonntagsschule und Ratgeberin in der FHV-Leitung. In diesen Berufungen lernte ich vieles, was Organisation und Belehrung anging. Ich wurde sehr dadurch gesegnet, dass ich diese Berufungen annahm, und versuchte sie groß zu machen.

Alle vier Jungs und auch Erika beendeten ihre Schullaufbahn erfolgreich und erlernten für sie interessante Berufe. Erich, Herbert, Bernd und Klaus bereiteten sich außerdem darauf vor, auf Mission zu gehen. Sie alle kehrten ehrenvoll von ihrer Mission zurück. Kurt und ich waren sehr stolz auf sie. Ein Sohn, der eigentlich nicht vor hatte auf Mission zu gehen, bedankte sich später in einem Brief, indem er schrieb, dass er langsam anfange zu erfassen, wie viel er mir verdanke – er hatte sich vorgenommen, ein guter Missionar und Sohn zu sein. Das bewegte und rührte mich zu Tränen Die Briefe, die die Jungen mir schickten, erfüllten mein Herz stets mit Dankbarkeit und Freude.

Erich und Erika heirateten 1978 jeweils einen wunderbaren Partner. Ich war sehr dankbar und froh zu sehen, dass meine Kinder einen Partner, bzw. eine Partnerin wählten, die das Evangelium genauso liebten wie sie selbst. Ich war zutiefst glücklich, meine Kinder in den Tempel begleiten zu können, als sie ihre Ehe für Zeit und alle Ewigkeit besiegeln ließen.

Erika hieß nun mit Nachnamen Lange. Ihr Mann Hans-Werner Lange, zog mit ihr in die Nähe seiner Eltern, nach Niedernwöhren. Die kleine Ortschaft liegt etwa fünfzig Kilometer nordwestlich von Hannover. Erich heiratete vier Monate später Christiane Glück. Auch Erich verschlug es Richtung Hannover. Er arbeitete für Bruder Udo Klemusch aus der Gemeinde Stadthagen als Vertreter. Sowohl Erich als auch unser Schwiegersohn Hans-Werner überzeugten uns, auch in diese Gegend zu ziehen. Sie hatten ein Haus in Niedernwöhren gefunden, welches wir kauften und im Sommer 1979 bezogen. Das Haus war noch im unfertigen Rohzustand, als wir dort einzogen. Dennoch waren wir glücklich, endlich ein eigenes Haus zu haben. Ein Heim für die Familie. Bis das Haus endlich so war, dass wir uns darin wohl fühlten, vergingen noch zwei Jahre.

Die hauptsächliche Arbeit beim Hausbau leisteten Kurt und Hans-Werner. Nach und nach deckten sie zuerst das Dach, zogen Wände, verlegten Fußböden, und setzten Türen und Fenster ein. Rechtzeitig zum Winter war auch die Heizung fertig. Da wir Weihnachten 1979 noch kein Wohnzimmer hatten, feierten wir mit Erich und Christiane in ihrer Wohnung. Sie hatten eine winzige Wohnung schräg gegenüber gemietet. Stück für Stück wurden die Räume so fertig gestellt und renoviert, dass wir sie auch bewohnen konnten. Während des Baus erlebten wir zahlreiche Pannen aber auch witzige Geschichten. So lachten wir noch lange über eine Szene, die wir erlebten, als Kurt, Erika, Hans-Werner und ich einmal in der Diele standen. Die Decke war noch nicht fertig. Durch ein großes Loch konnten wir bis zum Dach sehen. Plötzlich fiel durch dieses Loch eine Maus vor unsere Füße. Erika und ich schrien und hüpften wie von Taranteln gestochen auf die Treppe. Kurt reagierte blitzschnell und beförderte die Maus mit einem Tritt ins Jenseits, da Mäuse die unliebsamen Bewohner unseres Hauses waren. Die Zeit des Baus war im wahrsten Sinne des Wortes eine turbulente Zeit.

Als wir gerade mal vier Wochen in der Gemeinde Stadthagen waren, bat mich Bruder Klemusch, der zu der Zeit Gemeindepräsident war, in sein Büro. Er eröffnete mir, dass er und seine Ratgeber das starke Gefühl hätten, dass ich die nächste FHV-Leiterin sein sollte. Da ich noch niemanden in der Gemeinde kannte, war ich etwas verwundert und auch ein bisschen ängstlich. Aber er sagte, dass er mir helfen wollte, Ratgeberinnen zu finden. Er gab mir eine Liste mit Namen von Schwestern, die würdig sind. Das war eine große Hilfe für mich. Als ich am Nachmittag im Gottesdienst saß, betete ich während des Abendmahls: „Vater im Himmel, wen soll ich mir denn bloß als Ratgeberin nehmen? Ich kenne die Schwestern hier doch alle nicht.“ Plötzlich stand im Geist eine Schwester vor mir. Ich erinnerte mich daran, dass das die Schwester war, die den Gesang leitete. Ich kannte mich mit Offenbarungen noch nicht sehr gut aus. Ich lernte erst im Laufe der Jahre, wie der Herr diesbezüglich mit uns arbeitet. Dann wurde das Wasser gesegnet und wieder habe ich gebetet: „Vater im Himmel, zeige mir, wen ich als Ratgeberin nehmen soll.“ Wieder stand Schwester Lorke vor meinem geistigen Auge. Da kam mir der Gedanke, dass das eventuell schon eine Antwort auf mein Gebet war. Als Kurt und ich nach Hause fuhren erzählte ich ihm von meinem Erlebnis und fragte ihn, wie das mit persönlichen Offenbarungen funktionierte. Er schlug mir vor, einen Tag auszusuchen, an dem ich fastete und betete, um ein deutlicheres Gefühl zu bekommen, wer meine Ratgeberin werden solle. Ich nahm mir seinen Ratschlag zu Herzen. Als ich am nächsten Sonntag in die Gemeinde kam und Schwester Lorke die Hand gab, fühlte ich sehr deutlich, dass sie meine Ratgeberin sein sollte. Ich hatte wieder einmal die Erfahrung gemacht, dass der Herr uns führt, wenn wir ernsthaft im Gebet um Führung bitten. Als ich der Gemeinde als neue FHV-Leiterin vorgeschlagen wurde, sank mir das Herz in die Hose. Ich hatte plötzlich große Angst, der Berufung nicht zu genügen oder der Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Auch hier hörte der Vater im Himmel mein stilles Flehen. Wir sangen das Lied Nr. 68 „Der Herr ist mein Hirte“. Besonders rührte mich ein Satz an: „Wenn dein Stab mich leitet, dann fürcht ich mich nicht; …“. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass jemand zu mir sagte: „Hier ist mein Stab, halte dich fest. Wenn du dich daran festhältst und deinen Teil tust, dann tue ich meinen dazu.“ Ich war sehr erleichtert, weil ich wusste, dass der Vater im Himmel hinter mir stehen würde. Ich diente schließlich sechs Jahre lang in dieser Berufung.

Die ersten zwei Jahre in Niedernwöhren, bzw. die zwei Jahre des Baus, waren für mich eine sehr anstrengende Zeit, da ich gleichzeitig versuchte meinen Söhnen eine gute Mutter zu sein und außerdem meine Berufung gut zu erfüllen. Kurt war mit der Arbeit und seiner Berufung ebenfalls sehr eingespannt. Aber ich lernte auch, dass der Vater im Himmel mir immer die Kraft gab, die ich brauchte – wenn ich ihn nur darum bat.

Im Frühjahr 1981 hatten wir dann endlich zwei Wohnungen mit jeweils einem Wohnzimmer, Schlafzimmern, Küche und Bad größtenteils fertig. Erika und Hans-Werner konnten, auch wenn noch nicht alles komplett fertig war, im Sommer 1980 die obere Wohnung beziehen. Wir waren froh, dass es endlich wieder sauber um uns herum war. Der viele Staub und Dreck – unser Flur diente als Baumateriallager – waren doch ziemlich unangenehm.

Zu Hause wohnten nun nur noch Bernd und Klaus. Erich und Erika waren verheiratet und Herbert war auf Mission. An die Zeit mit Bernd und Klaus erinnere ich mich sehr gerne zurück. Vor allem an die Sonntage. Jeden Sonntag nach dem Mittagessen saßen wir mindestens eine Stunde zusammen und sprachen über Themen des Evangeliums. Die Jungen stellten oft Fragen, wenn sie in der Kirche etwas nicht verstanden hatten. Kurt holte dann die Schriften und erklärte ihnen anhand von Schriftstellen die Prinzipien des himmlischen Vaters. Auch wenn den Jungen etwas nicht passte, bzw. sie mit Aussagen, die in Klassen oder Ansprachen getroffen wurden, nicht konform gingen, diskutierten wie dies gemeinsam. Wir wuchsen eng zusammen und nicht nur Bernd und Klaus, sondern auch ich als Mutter, lernte in dieser Zeit sehr viel.

1981 kehrte Herbert von Mission zurück. Er heiratete 1982 Tanja Romaniuk. 1987 heiratete Bernd Karin Ludwig. Wir waren, nach allem, was wir mit den beiden erlebt hatten, sehr stolz auf sie, dass sie ihre Mission erfolgreich abgeschlossen hatten und außerdem eine liebe Frau im Tempel heirateten. Klaus heiratete drei Jahre später Tanja Heinke. Alle Kinder hatten nun im Tempel geheiratet. Es ist nach wie vor ein unbeschreiblich schönes Gefühl, wenn ich daran denke, dass alle würdig genug waren, ihre Ehe im Tempel siegeln zu lassen. Denn ich wusste inzwischen, welch großer Segen auf einer Tempelehe liegt.

Etwas was mir außerdem immer viel Freude bereitete, war unser Garten und unsere Tiere. Schon seit Beginn unserer Zeit in Niedernwöhren hatten wir zahlreiches Kleinvieh. Da es immer unser Wunsch war, als Selbstversorger möglichst unabhängig zu sein, besäten wir unseren großen Garten mit Obst und Gemüse, nutzen einen Teil des Gartens als Acker für Kartoffeln und bauten Ställe und Gehege für die Tiere. Wir hatten Hühner, Kaninchen, Enten, Gänse und Puten. Anfangs hatten wir auch noch Schweine und Schafböcke, die wir aber abschafften, da der Platz zu eng wurde. Trotz vieler Mühen und Arbeit, erfreute uns die Aufzucht der Tiere, auch wenn wir dadurch nie spontan in den Urlaub fahren konnten. Die Erzeugnisse unseres „Mini-Bauernhofes“, sei es das Fleisch der Tiere, die Eier, das Obst oder das Gemüse, war uns ein guter Vorrat, von dem sowohl wir selbst als auch die Verwandtschaft zehrte. Klaus, der als Beruf Fleischer gelernt hatte, half uns dabei, die Tiere zu schlachten und leckere Wurst herzustellen. Später war uns das zu aufwendig und wir brachten die Tiere zu einem öffentlichen Schlachthof. Ich wurde ein Profi darin, Marmeladen zu kochen und Obst einzuwecken. Genau wie die Salzgurken meiner Stiefmutter vor 40 Jahren waren meine Salzgurken eine Leibspeise für die ganze Familie.

Inzwischen wohnte keines der Kinder mehr zu Hause. Trotzdem hatte ich mit meiner Rolle als Ehefrau und Hausfrau, dem Garten, den Tieren und meiner Berufung stets viel zu tun. Außerdem wurden nach und nach die ersten Enkelkinder geboren. Es war seltsam – schließlich war ich gerade mal 45 Jahre alt, als die erste Enkeltochter das Licht der Welt erblickte – aber doch sehr schön plötzlich eine Großmutter zu sein. In den 80er Jahren kam daher eine neue Aufgabe auf uns zu: Babysitter für unsere Enkelkinder. Wann immer die Kinder in den Tempel fahren wollten, kurzen Urlaub brauchten oder einfach Not am Mann war, fuhren Kurt und ich zu ihnen und halfen aus. Ich genoss die Rolle als Großmutter sehr und erfreute mich an meinen Enkelkindern, für die ich entweder „Oma“ oder „Mutti“ hieß.

1989 meldete sich plötzlich meine leibliche Mutter Ella bei mir. Wir hatten über die Jahre sporadischen Briefkontakt, und ein paar Mal hatten wir uns auch gegenseitig besucht. Sie fragte mich, ob sie bei uns wohnen könne. Ich war etwas verwundert, doch ich stimmte zu. Ich muss zugeben, dass sie mir fremd war, aber ich wollte mein Bestes geben, da sie schließlich meine leibliche Mutter war. Sie ließ sich 1990 taufen, was mich sehr freute. Sie wohnte 5 Jahre bei uns. In dieser Zeit lernte ich sie näher kennen und schätzen. In Bezug auf meine Kindheit und Jugend hatte ich hauptsächlich negative Erinnerungen an sie. Deshalb bin ich dankbar für die Zeit, in der ich auch positive Seiten an ihr entdecken durfte. Im August 1994 entschloss sie sich zu ihren anderen Töchtern zurückzukehren. Ich war sehr traurig, da es mich an alte Zeiten erinnerte, als sie mich schon einmal verlassen hatte. Zwei Monate später starb sie. Noch heute sind die Gefühle bezüglich meiner leiblichen Mutter gemischt – was mich oft sehr traurig macht.

Zu wem ich bis zum Schluss ein sehr gutes Verhältnis hatte, war meine Schwiegermutter Meta. Die besuchte uns oft in Niedernwöhren. 1991 starb sie mit 93 Jahren. Ich bin dem Vater im Himmel sehr dankbar, sie als „Mutter“, Schwiegermutter, Lehrerin und Freundin gehabt zu haben.

1996 änderte sich mein Leben drastisch. Ich erkrankte ich an Magenkrebs. Diese Diagnose schockierte mich und ich hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Als ich nach dem Arztbesuch nach Hause kam, fiel ich meinem Mann in die Arme und wir weinten gemeinsam. Kurt versuchte mich zu trösten, indem er mir immer wieder sagte, dass ich mir doch keine Sorgen machen solle – es würde alles gut gehen. Trotz eines Krankensegens, konnte ich kaum Trost finden. Meine sehr negativ gefärbten Gedanken kreisten ständig um den Tod und das Abschiednehmen. Das machte mich sehr traurig. Ich weinte viel. Einmal riefen Christiane und ihre Kinder mich an und sangen am Telefon „Ich bin ein Kind des Herrn“. Die Gebete der Familie waren in dieser Zeit die einzige Kraftquelle. Drei Tage vor dem Operationstermin, durfte ich am Wochenende nach Hause. Ich hatte das Gefühl Abschied nehmen zu müssen. Ich wollte ein Testament schreiben, doch das konnte ich nicht. Ich verspürte eine große Leere in meinem Kopf. Die Gedanken an den Tod rissen nicht ab. Ich bat Kurt um einen zweiten Segen. Darin wurde mir verheißen, dass ich zur Ruhe kommen werde. Kurt sagte mir außerdem sehr oft: „Er hat dich nicht vergessen. Du wirst sehen: Am Ende wird dein Zeugnis stärker sein als je zuvor!“ Am Tag vor der Operation wurde ein Venenkatheder gelegt. Ich musste eine Weile auf einer Liege liegen und warten, bis alles für die Operation vorbereitet war. Plötzlich hörte ich in meinem Kopf einen Chor singen: „Wie groß bist du – Wie groß bist du!“ und die Worte eines Gedichtes kamen in meinen Sinn: „Geliebtes Kind, nie ließ ich dich allein, schon gar nicht in Zeiten der Angst und Not. Wo du nur ein paar Spuren in dem Sand erkennst, sei ganz gewiss: Ich habe dich getragen.“. Ich fühlte plötzlich ganz deutlich, dass der Herr die ganze Zeit über bei mir gewesen ist und noch immer war. Dieses für mich hochgeistige Erlebnis erfüllte mich mit einem tiefen inneren Frieden. Die Angst war verschwunden und ich war ruhig und gelassen, als dann die Operation begann. Nach der Operation musste ich noch drei Tage auf die Intensivstation. Es sollten drei schwere Wochen, zwei Kuren und ein weiteres halbes Jahr dauern, bis meine Kräfte wieder vollständig wiederhergestellt waren. In den Kuren lernte ich mit der neuen Körpersituation umzugehen. Man hatte mir den Magen, einen Leberlappen, die Milz, die Gallenblase, ein Teil der Darmnetzhaut, eine Kleinniere und Lymphknoten entfernt. Ich fühlte mich wie ausgeschlachtet. Dennoch betrachtete ich es im Nachhinein als Wunder, dass mein Körper trotz der Entnahme dieser Organe weiter gut funktionierte. Mein Arzt führte es später auf die „solide Lebensweise“ zurück – doch ich wusste, dass es das Wort der Weisheit und der Halt meiner Familie waren, die mich so schnell wieder genesen ließen. Die Verheißungen aus den Krankensegen hatten sich erfüllt.

Im Jahre 2000 schockierte uns eine weitere Schreckensnachricht. Kurt war ebenfalls an Magenkrebs erkrankt. Genau wie vier Jahre zuvor, kam dieses Mal er vom Arzt nach Hause. Wieder fielen wir uns in die Arme und weinten gemeinsam. Selbst der Arzt zeigte sich betroffen, als er die Diagnose aussprach. Der Unterschied zu meinem Krebs war, dass sich bei Kurt bereits Metastasen gebildet hatten. Er musste ebenfalls operiert werden. Doch bei ihm verschwand der Krebs nicht. Ein halbes Jahr später waren wieder Metastasen sichtbar. Er erhielt eine Chemotherapie, die glücklicherweise auch anschlug. Wir erlebten wunderbare eineinhalb Jahre, in denen wir gemeinsam bewusst lebten, unsere Kinder besuchten und in den Tempel fuhren. Wir beide profitierten in dieser Zeit von den Erfahrungen meiner Krankheit. Ich begriff langsam, warum ich vier Jahre zuvor Krebs bekommen musste. Ich konnte ihm helfen und ihn verstehen. Manchmal brauchte es keine Worte. Wir wussten, wie der andere sich fühlte. Ich glaube er ahnte bereits, dass er nicht mehr lange leben würde. Im Februar 2002 war der Krebs so weit fortgeschritten, dass die zweite Chemotherapie abgebrochen werden musste. Er hatte keinen Hunger mehr und wurde von Tag zu Tag schwächer. In den Wochen vor seinem Tod konnte er kaum mehr aufstehen. Ich weinte sehr viel mit ihm. Er machte sich Sorgen, weil er mich alleine zurücklassen musste. Trotz Krankheit und Schmerzen vermochte er es, mich zu trösten und mich mit liebevollen Worten auf seinen Tod vorzubereiten. Ich war sehr dankbar, dass die gesamte Familie kam, um sich zum einen von ihm zu verabschieden und zum anderen um mich zu unterstützen. Am 02. Mai 2002 starb Kurt mit 69 Jahren im Kreise seiner Familie. Trotz aller Traurigkeit war ich dankbar, dass wir vorher noch die Gelegenheit hatten, eine kleine „Abendmahlsversammlung“ abzuhalten. Kurt nahm sich für jedes seiner Kinder kurz Zeit, um ein paar letzte Worte zu sagen. Wir nahmen vom Abendmahl. Es war ein sehr geistiges Erlebnis und schweißte unsere Familie sehr eng zusammen. Er schlief friedlich ein, während ich seine Hand hielt und Erich ihn in Armen hielt. In diesen schweren Stunden war ich sehr froh, dass so viele Familienmitglieder da waren. Ich fühlte mich getragen. In den ersten Tagen nach Kurts Tod betete ich viel, dass die Angst, die ich fühlte, verschwinden möge. Ich vermisste die Gespräche mit ihm und den Gesang. Ich vermisste es, ihn um mich zu haben und die Sorgen des Alltags mit ihm zu teilen.

Die Kinder halfen mir dabei, Kurts Tod zu verarbeiten. Sie waren oft bei mir und hörten mir zu. Jedes Kind half mir auf seine Art, so erklärte mir Erich, dass ich darum beten könne, dass Kurt bei mir ist, bzw. mir beisteht, wenn ich mich einsam und traurig fühle. Erika war einfach immer da, wenn ich sie brauchte. Und das war oft in dieser Zeit. Herbert erzählte die lustigen Geschichten, die wir mit „Vati“, wie wir ihn immer nannten, erlebt hatten, und heiterte mich damit auf. Bernd erklärte mir, dass ich nicht zum Friedhof fahren muss, um mich mit Kurt zu unterhalten. Ich lernte in Gedanken mit meinem Mann zu sprechen. Ich schrieb Briefe an ihn, um meine Gedanken in Worte zu fassen. Klaus und seine Familie riefen mich ebenfalls oft an. Er gab mir praktische Tipps, wenn die Traurigkeit mich wieder einholen wollte. Eine Aussage, die mich seitdem begleitet und die ich an verschiedenen Stellen in meiner Wohnung aufgehängt habe, möchte ich hier wiedergeben, da es mit zur Grundlage meines Glaubens geworden ist:

„Die glaubenstreuen Menschen, die uns in die Geisterwelt vorausgegangen sind, haben nicht aufgehört uns zu lieben, um uns besorgt zu sein, für uns zu beten oder in unserem Sinne zu wirken. Der Tod kann die Familienbande derer, die durch die Macht des Priestertums gesiegelt sind, nicht zerreißen. Der glaubenstreue Mensch, der im Erdenleben vor allem danach gestrebt hat, seine Familie zu beschützen und ihr Segen zu bringen, wird diesen Wunsch jenseits des Schleiers in noch viel größerem Maße verspüren. Wir sind nicht allein.“

Ich hatte das Gefühl, dass unsere Familie enger zusammengewachsen war. Kurt war es immer wichtig, dass wir starke Familienbande hatten und dass ich mich gut aufgehoben fühlte. Und es war so. Langsam kehrte der Alltag ein und ich gewöhnte mich daran, allein zu sein. Ich fuhr oft zu meinen Kindern und verbrachte Zeit mit ihnen und ihren Kindern.

Ein besonderes Erlebnis hatte ich, als Erich von 2003-2006 Missionspräsident in Berlin war. Als ich ihn und seine Familie einmal besuchte, fragte er mich, ob ich ihn nicht nach Neubrandenburg begleiten wolle und in der Versammlung mein Zeugnis geben würde. Ich stimmte zu. Ich erzählte dann der Gemeinde die Geschichte meiner Taufe. Fünf oder sechs Geschwister erklärten sich bereit, mit mir zu der Stelle zu fahren, wo ich getauft worden bin. Nach 50 Jahren habe ich an der Stelle gestanden, wo ich getauft wurde. Das war wunderschön und ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für die Entscheidung, die ich damals getroffen hatte, und die so sehr mein Leben beeinflusst hatte, erfüllte mich.

2005 erhielt ich meine letzte Berufung: Ein Ratgeber aus der Bischofschaft bat mich in sein Büro und fragte mich, ob ich mich bereit fühlte, Lehrerin bei den Jugendlichen zu sein. Ich sollte die Vierzehn- bis Sechzehnjährigen unterrichten. Als ich meine Söhne und Erika anrief, um ihnen davon zu erzählen, sagten fast alle nur: „Oh, das ist aber eine Herausforderung.“ Ich fragte mich, warum alle nur „oh“ sagten. Vielleicht war es besser so, dass mir nicht vorher bewusst war, wie schwer es ist, mit Jugendlichen zu arbeiten. Ich bereitete mich manchmal eine ganze lang Woche vor. Ich versuchte wirklich ein gutes Thema zu geben. Aber den pubertären Verhaltensweisen von Jugendlichen fühlte ich mich mit 70 Jahren nicht mehr gewachsen. Nach einem Jahr wurde ich wieder entlassen, wofür ich, auch wenn ich sehr viel gelernt hatte, dankbar war.

2006 war ich mit einem Großteil der Großfamilie in Friedrichsdorf beim Tempel. Ich passte auf zwei Kinder auf, als eine Schwester kam und uns fragte, ob wir nicht eine Tempelführung für die Kinder machen wollten. Ich war überrascht, weil ich nicht wusste, dass das möglich war. Wir stimmten alle drei begeistert zu. Im Gang hingen Bilder von vielen verschiedenen Tempeln. Ich erzählte den Kindern, was unsere Familie mit einzelnen Tempeln verband. So ich zeigte ihnen z. B., wo ich und ihr Opa oder ihre Eltern geheiratet haben. Wir kamen in einen Vorraum des Tempels, wo die Kinder voller Andacht das große Bild von Christus betrachteten. Plötzlich kam Bruder Wiborny und lud uns ein, mit ihm zu kommen. Er führte uns zu den Ochsen, die das Taufbecken tragen. Die Kinder und ich durften die Ochsen berühren, während oben die Geschwister, Cousins und Cousinen an einer Taufsession für Verstorbene teilnahmen. Ich habe diese Kinder vorher und nachher nie wieder so andächtig erlebt. Ich war zu Tränen gerührt, weil ich spürte, dass der Tempel nicht nur auf mich solch große Wirkung hatte. Auch die Kinder konnten den besonderen Geist, der in der Wohnstätte Gottes herrscht, spüren.

Kurt ist nun schon seit sieben Jahren nicht mehr bei mir. Ich vermisse ihn nach wie vor sehr oft. Schließlich haben wir 46 Jahre lang miteinander gelebt: Wir haben gemeinsam gearbeitet, gesungen, gelacht und geweint. Wir sind durch zahlreiche Höhen und Tiefen gegangen, die das Band der Liebe zwischen uns immer enger gemacht haben. Ich bin dem Vater im Himmel sehr dankbar für die Zeit, die ich mit Kurt hier auf der Erde verbringen durfte. Ich freue mich schon auf den Tag, wenn mein Mann mich wieder in die Arme schließen wird. Ich bin dankbar, das feste Zeugnis zu haben, dass Familien ewigen Bestand haben. Ich habe in meinem Leben so viel lernen dürfen, wofür ich dem himmlischen Vater sehr dankbar bin. Kurz bevor mein Mann starb, sagte er mir, dass ich noch eine Aufgabe zu erledigen hätte. Ich glaube, dass ich langsam anfange zu erkennen, wie diese Aufgabe aussieht. Ich habe neben meinen eigenen fünf Kindern, 29 wunderbare Enkelkinder und sieben Urenkel. Ich fühle mich reich gesegnet und spüre, dass es meine Aufgabe ist, für sie da zu sein. Ich möchte meine Erfahrungen und mein Zeugnis mit ihnen teilen, vor allem wenn ich merke, dass sie mich brauchen. Obwohl ich inzwischen 74 Jahre alt bin, wächst mein Zeugnis immer noch. Weil es die Grundlage meines Lebens ist, möchte ich meine Lebensgeschichte mit meinem Zeugnis beenden:

Ich weiß, dass Gott lebt. Ich habe ein Zeugnis davon, dass Jesus Christus unser Erlöser ist. Ich weiß, dass Joseph Smith ein wahrer Prophet war und dass Präsident Thomas S. Monson derjenige ist, der heute dazu eingesetzt ist, ein Prophet Gottes zu sein. Ich bin dankbar, dass ich immer noch lernen kann. Ich bete, dass ich treu bleiben kann und die Kraft habe, bis ans Ende auszuharren. Denn das möchte ich tun, solange ich noch auf dieser Erde bin.