Dresden, Sachsen

Mormon Deutsch Ruth Lea Edith KrauseMein Name ist Ruth Lea Edith Krause, geborene Schade. Ich bin am 26. November 1919 in Dresden Altstadt als fünftes Kind meiner Eltern geboren. Mein Vater heißt Emil Paul Schade und meine Mutter Martha Klara Elisabeth, geborene Marx. Meine Eltern gehörten damals schon zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.

Mein Vater war durch seinen Freund, Bruder Mehner, zur Kirche gekommen. Er hatte einen Freund, Herrn Otto, der ihm das Evangelium gelehrt und gesagt hat, dass dies die Wahrheit sei. Er selbst ist aber niemals Mitglied der Kirche geworden.

Meine Mutter hatte ihre Mutter verloren, als sie noch sehr jung war. Sie ist an Lungen-TBC gestorben. Meine Mutter hatte eine ältere Schwester, um die sie sehr besorgt war. Die Schwester ging zu den Mormonen und meine Mutter war entsetzt. Sie sagte: „Gertrud oder Trudel, geh nicht zu den Mormonen.“ Sie hatte Angst, dass sie ihre Schwester verlieren würde. Aber ihre Schwester war überzeugt und wollte unbedingt in der Kirche bleiben. Da kam auch noch ein Missionar, in den sich ihre Schwester verliebte und der auch in sie verliebt war. Als er seine Mission beendet hatte, holte er seine Gertrud nach Amerika. Nun war meine Mutter sprachlos. Sie wollte doch ihre Schwester vor den bösen Mormonen retten. Deshalb ging sie in die Kirche zu den Mormonen und wollte sehen, was die machen. Sie wollte herausfinden, was sie anstellen müsste, um ihre Schwester zu retten. Aber was die Mormonen taten, gefiel ihr so gut, dass sie sich schon nach kurzer Zeit zur Kirche bekehrte. Meine Mutter wurde 1902 getauft.

Wir waren acht Kinder. Zwei sind gestorben, als sie noch klein waren. Meine Eltern haben die Kinder im Evangelium erzogen, nicht sehr streng, aber auch nicht lasch. Wir mussten sonntags zur Kirche gehen. Ich weiß noch, dass wir weiße Schuhe hatten, die man mit Kreide putzen musste. Am Sonntagmorgen mussten wir das machen, damit wir schön zur Kirche gehen konnten. Ich schätze, dass in der Gemeinde etwa siebzig Personen anwesend waren. Ich war eine Zeitlang Sekretärin in der Sonntagsschule.

Meine Mutter hat gemerkt, dass ich geistig sehr auf der Höhe war und hat mich auf eine höhere Mädchenschule geschickt. Das war gar nicht so einfach, denn man musste Schulgeld bezahlen, das meine Eltern nicht hatten. Aber weil ich eine gute Schülerin war, hat uns die Schule das Schulgeld erlassen. Ich lernte dort gute Sachen; auch die englische Sprache war ein Unterrichtsfach. Ich war die einzige in der Familie, die englisch lernte. Das kam mir und anderen sehr zugute. Als ich etwas älter war und immer noch zur Schule ging, kamen Geschwister und Freunde aus Amerika, die nicht deutsch sprachen. Dann durfte ich immer übersetzen. Wie ich hörte, habe ich das gut gemacht.

Ich bin in der Kirche so erzogen worden, dass ich alle Gebote zu halten hatte. Eines Tages kam unser Missionspräsident. Er kam vom Westen Deutschlands. Man konnte nicht ohne weiteres vom Westen in den Osten reisen, aber verboten war es nicht. Er brachte immer zwei Missionare mit in die Gemeinde, es waren meistens Brüder aus Amerika. Dann durfte ich wieder übersetzen, damit sie das verstanden, was in der Versammlung gesagt wurde.

Präsident Monson kenne ich gut. Eines Tages kam ein Missionar, wie ich dachte, der schon in etwas fortgeschrittenem Alter war. Ich sagte zu Bruder Ringger, der den Missionar brachte: „Sie haben wieder einen Missionar mitgebracht.“ Er sagte: „Schwester Krause, das ist Elder Monson vom Rat der Zwölf.“ Darauf sagte ich: „Das freut mich aber sehr!“ Der Missionspräsident kam dann zu mir und sagte: „Schwester Krause, Elder Monson ist da, ich traue mich nicht, zu übersetzen“. Obwohl er ein deutschsprachiger Amerikaner war, traute er sich das nicht zu. Er sagte zu mir: „Können Sie das Übersetzen von Elder Monson übernehmen?“ Ich habe dann übersetzt. Das war in Görlitz und eine Versammlung unter traurigen Umständen. Die Örtlichkeit war sehr schlecht. Elder Monson sagte, wenn wir alle Geboten halten, würden wir alle Möglichkeiten bekommen, wie andere Mitglieder in anderen Gemeinden auch. Das hat sich tatsächlich erwiesen, es ist so gekommen.

Wie ich schon sagte, besuchte ich ein eine höhere Mädchenschule und machte das Abitur, da war ich neunzehn Jahre alt. Als ich daran dachte, auf Mission zu gehen, fing der Krieg an. Ich musste ein sogenanntes Pflichtjahr erfüllen und in der Landwirtschaft arbeiten. Ich konnte also nicht auf Mission gehen. Ich hatte das Glück, dass ich als Haushaltshelferin in einen Haushalt mit nur einem Ehepaar kam. Sonst hatte ich weiter keine Verpflichtungen.

Für uns in Dresden ging der Krieg mit einem großen Luftangriff zu Ende. Zu der Zeit war ich zu Hause. Mein Vater war inzwischen gestorben. Ich habe die schrecklichen Luftangriffe in vier Angriffswellen auf Dresden vom 13. bis 15. Februar 1945 erlebt. Wir hatten getan, was wir konnten, um unsere Leben zu retten und dann alles in den Händen des Herrn gelassen. Nachdem ich ein bisschen geschlafen habe, entschied ich mich nach Hause zu gehen, um zu sehen, was mit meinen Geliebten geschehen war. Die schönen Bäume im Großen Park sahen schrecklich aus, aufgespaltet und schwarz, waren sie nun unheimlich. Leichen habe ich gesehen und überall kam ein Geschrei nach Wasser. Ich hatte kein Wasser, keine Verbände und keine Medikamente, also ich konnte nicht helfen.

Ich ging die Elbe entlang. Es war erschreckend, nach unten zu schauen und das ausgedehnte, dunkle und schäumende Wasser zu sehen. Jahrelang hatte ich eine Brücke über die Elbe benutzt, um zur Schule und an Sonntagen zur Kirche zu gehen, aber nun existierte diese Brücke nicht mehr. Schließlich kam ich zu einer Wiese, die sich am Ufer des Flusses befand. Was ich dort sah ist fast unbeschreibbar. Menschliche Körper lagen überall. Während der Bombardierung sind viele Leute in Richtung des Flusses gelaufen in der Hoffnung der phosphorigen Fackeln zu entrinnen. Aber die Flugzeuge hatten auch diese hilflosen Menschen wiederholt gebombt.

Endlich kam ich zu der Straße in der meine Familie wohnte. Ich stieg die Treppe zum vierten Stock hinauf und fand dort meine Geliebten sicher und gesund. Ich hatte für fünf Stunden über Schutt geklettert und war tot müde. Aber bevor ich mich zum Schlafen hinlegte, haben wir zusammen ein Gebet der Dankbarkeit gesprochen, dass wir alle erspart worden waren.

Das waren sehr schlimme Zeiten, aber sie waren auch gute Zeiten indem wir als Familie näher zusammen gekommen sind und wir mussten im Vertrauen auf unserem Himmlischen Vater wieder aufbauen. Unsere Gebete wurden intensiver und unser Glaube unerschütterlich. Wir wussten, dass die Russen kommen würden, und es gab furchtbare Geschichten, was besonders Frauen betrafen. Aber wir waren vereint in unserem Glauben, dass der Herr stärker als die Russen war.

In der Kirche haben wir erfahren, dass wir nur eine Schwester in den Bombardierungen verloren hatten, und dass die Zahl von denen, die ihre Wohnungen verloren hatten, war begrenzt. Die Mitglieder von der Gemeinde Altstadt sind dann zu den Versammlungen in der Gemeinde Neustadt gekommen, denn das Gemeindehaus in der Altstadt ist zerstört worden. Es war eine Zeit des Zeugnisses, weil der Herr uns so viel geholfen hat. Aber viele der Altstädter Mitglieder, wie genannt wurden, konnten den extrem weiten Fußweg am Sonntag n zu der Gemeinde Neustadt nicht bewältigen da sonntags keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren.

Dann kamen viele Flüchtlinge aus dem Osten. Wir nahmen so viel wie 15 Leute in unserer kleinen 2½ Zimmerwohnung auf. Alles wurde geteilt und vieles wurde geopfert. Wir bildeten feste Freundschaften, die immer noch über Kontinenten und Ozeanen hinausstrecken. Wir fasteten und beteten zusammen, lasen die heiligen Schriften und sangen die Lieder von Zion. Jeder musste schwer arbeiten und viel Energie einsetzten, denn die Innenstadt existierte nicht mehr.

Anfang Mai haben wir eine Distriktskonferenz abgehalten. Aber die Raüme im Gemeindehause in der Neustadt waren mit Flüchtlingen überfüllt und wir mussten die Konferenz in einer Evangelischen Kirche. Die Russen näherten sich die Stadt aber wir machten weiter. Am Montag, den 7. Mai betraten die Russen Dresden; es gab etwas Straßenkampf aber umsonst.

Wir fuhren fort unsere Versammlungen zu halten und den älteren Mitgliedern zu helfen, so gut wir es konnten. Der Herr hat uns nicht verlassen und es war wunderbar an den Schutz und den Segen des Herrn zu glauben, wie wir es in diesen Tagen getan haben. Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, waren unbeschreiblich schön.

Dann kam in 1946 die erste Hilfe von Elder Ezra Taft Benson, der Deutschland besucht und besichtigt hatte und dann durch das Wohlfahrtsprogramm der Kirche wichtige Vorsorgungsmaterialien an uns geschickt hat. Viel Hilfe haben wir auch von unserem Missionspräsident, Walter Stover, erhalten. Er war ein ausgewanderter Deutscher, der keine Angst hatte, in unserem zerstörten Land zu arbeiten. Es waren auch andere, die an diese Pionierarbeit teilgenommen haben, aber es ist unmöglich, sie alle zu nennen.

Walter Krause kam als Missionar nach Dresden und hat uns geholfen, dass wir in der Gemeinde neue Räume bekamen. Nach einigen flehen bei der Sowjet-Kommandantur erhielten wir Räumen in der ehemaligen Fabricekaserne in Dresden Neustadt, Nordallee. Wir bekamen das ehemalige Offizierskasino zugewiesen, das durch den Krieg beschädigt war. Dazu gehörte ein Park hinter dem Gebäude, der einigermaßen verwildert aussah. Darin hatte es einen Springbrunnen gegeben, dessen großes, rundes Steinbecken mit Müll angefüllt

Nach dem Krieg wurden einige Mitglieder, die Flüchtlinge aus dem Osten waren, in einer Villa in Wolfsgrün in den Erzgebirgen untergebracht. Später aber musste Wolfsgrün geräumt werden. Bruder Krause hat den Auftrag erhalten, der Einladung des Landrates von Zwickau als Vertreter der Kirche zu folgen. Der Mann war sehr genau aber er hatte ein offenes Ohr für die Probleme unserer Kirche und wollte helfen. Der Mann verlangte größte Verschwiegenheit solange die Verhandlungen nicht zu einem Abschluss gekommen seien, da er keine Einmischung von anderer Seite wünschte. Er fragte den Bruder Krause ob er mir trauen könne, denn ich funktionierte als seine Schreibkraft. Bruder Krause bejahte das. So ließ er von mir eine Liste schreiben über die infrage kommenden Orte mit seinen Bemerkungen. Er bekam auch eine Abschrift und nahm uns noch einmal das Versprechen ab, dass wir unsere Liste nur ihm zurückgeben sollten, keinem anderen. Irgendwie wollten die leitenden Brüder, dass ich ihnen die Liste aushändige. Ich konnte das aber nicht, denn ich konnte mein Versprechen gegenüber dem Landrat von Zwickau nicht brechen.

Meine Eltern hatten früh geheiratet. Mein Vater hat in der Genealogie geforscht. Das hat mich sehr interessiert. Für meine Mutter war gar nichts gemacht. Mein Vater hat gesagt: „Du hast zwei Söhne, Martha, die sollen deine Genealogie machen.“ Ich habe sie mit meiner Genealogie dazu gelockt. Die zwei Söhne aber kamen in die Lehre zu einem Meister, um einen Beruf zu erlernen. Sie hatten gar keine Gelegenheit, in der Genealogie zu arbeiten. Dann habe ich einmal gesagt, dass es mir für meine Mutter Leid tut, wenn in ihrer Genealogie nicht gearbeitet wird. Ich bin zu Hause und ich werde in der Genealogie arbeiten. Da habe ich das übernommen. Das hat mich so begeistert, dass ich meinem Herrn gedankt habe, diese Genealogie machen zu dürfen.

Ich hatte mich in den Gemeinden umgeschaut, aber nach dem Krieg waren keine Brüder in meinem Alter da, die ich hätte heiraten können. Ich war ganz sachlich und dachte mir, dass ich so keinen Mann bekomme, aber ich müsste ja nicht unbedingt heiraten.

Bruder Krause, der Missionar in Dresden war, erzählte uns, dass es in Prenzlau eine Großmutter gebe, die Schwester Marie Gehrmann, die Enkelkinder habe, deren Mutter gestorben und der Vater nicht vom Krieg zurückgekommen sei. Für die verwaisten fünf Karow-Kinder sollte ich die Lösung sein. Ich war vorher freiberuflich als Genealogin tätig. Ich hätte gern die Kinder übernommen. Durch die Zustimmung des Jugendamtes war ich ermutigt. Auch der Missionspräsident, Bruder Walter Stover, unterstützte dieses Vorhaben. Ich bin nach Prenzlau gegangen und habe gesagt: „Ich möchte gerne für die Kinder sorgen und für die Oma.“ Das habe ich dann auch getan. Die drei Kinder haben sich gut mit mir verstanden. Sie wurden von mir richtig beschäftigt. Ich hatte ja ein Lehrerstudium absolviert. Ich wollte dann die Kinder übernehmen und hatte in Prenzlau schon eine Wohnung zugewiesen bekommen, damit ich die Kinder behalten konnte. Aber die Großmutter war so eifersüchtig und hat gesagt: „Die Schwester ist viel zu jung, um Kinder zu erziehen.“ Sie hat nicht mitgemacht. Das war gleich nach dem Krieg, 1946.

In Wolgast habe ich geholfen, die Gemeinde aufzurichten. Da kam es mir sehr gelegen, dass ich am 12.Februar 1947 in Züssow auf dem Bahnhof Bruder Walter Krause, der aus Prenzlau war, traf. Ich wollte nach Wolgast, um einer Einladung der Geschwister Skibbe zu folgen. Ich sollte deren Genealogie in Ordnung bringen und tempelfertig machen. Doch vorerst hat Bruder Krause mich darum gebeten, ihm bei einem Besuch bei Schwester Ruth Gärtner zu begleiten, die aus Schneidemühl stammte. Da mein Vorhaben in Prenzlau gescheitert war, entschloss ich beim Aufbau der neu entstandenen Gemeinde Wolgast mitzuhelfen, und zwar nicht nur auf dem Gebiete der Genealogie. Zusammen mit Bruder Krause und Bruder Gerd Skibbe half ich auch bei der schwierigen Spendenverteilung

Die Mitglieder der Kirche, die aus dem Osten hierhergekommen waren, wohnten sehr weit verstreut auf dem Lande und auch auf der Insel Rügen. Es war die Zeit, wo erfreulicherweise die ersten Spenden an Lebensmitteln und Kleidung vom Wohlfahrtswerk der Kirche zu uns kamen. Von einem Sammelplatz aus mussten sie dann verteilt werden.

Im Herbst 1957 wollte sich die erste Frau von Bruder Krause aus unbestimmten Gründen von ihm scheiden lassen. Es war ihm eine völlige Überraschung aber letzten Endes hat er die Scheidung bewilligt. Man machte sich sorgen um den Sohn, Helaman, der gerade neun Jahre alt war. Weil seine Eltern auseinander gehen sollten, musste er entscheiden mit wem er gehen wollte. Er hat sofort gesagt, dass er zu seinem Papa geht, worauf es gesagt wurde, „dann hast du keine Mutti.“ Seine Antwort darauf war: Ich habe dann Tante Edith.“ Zu einer Weihnachtsfeier bei der nun geschiedenen Ehefrau, sagte sie ihrem früheren Ehemann, er solle mich heiraten, denn er brauchte eine Frau, um sein Leben wieder in Ordnung zu bringen. Er hat mich darum gebeten, und ich sagte ja und am 28.Dezember haben wir auf dem Standesamt in Wolgast geheiratet.

Es war ein Tag für uns wie jeder andere. Doch am Nachmittag nahm Walter mir bei der Hand, schaute mich an, und sagte, dass er überzeugt sei, dass wir uns eines Tages im Tempel des Herren an einander siegeln lassen werden. .Das konnte man damals unter den waltenden Umständen in der DDR nur als Utopie bezeichnen. Doch ich glaubte ihm ohne ein Wort zu erwidern.

Am Sonntag nach unserer Verheiratung gratulierten uns die überraschten Mitglieder der Gemeinde in Wolgast. Sie wollten jedoch dieses Ereignis nicht so sang- und klanglos vorübergehen lassen. Die FHV Leiterin Schwester Meta Schult arrangierte im Februar ein Faschingsfest. An diesem Abend wurde dann unsere Hochzeit in der Gemeinde mit einem schönen Essen usw. nachgefeiert. Wir bekamen ein hübsches Kaffeeservice geschenkt.

Im Frühjahr 1958, zu einer der jährlichen Routineuntersuchungen. wurde bei mir Lungen Tbc festgestellt, und im August 1958 kam ich in die Heilstätte nach Lubmin. Helaman wollte in Wolgast bleiben und Herr Schult mit Frau, Schwester Meta Schult, ließen Helaman bei sich wohnen. Ich wurde dann Ende Januar 1959 aus der Heilstätte entlassen und wir zogen von Wolgast nach Prenzlau.

Im Monat Oktober 1972 bekamen Walter und ich eine Einladung zur nächsten Generalkonferenz der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Salt Lake City. Der Profet Joseph Fielding Smith war verstorben und sein Nachfolger war Harold B. Lee mit den Ratgebern N. Eldon Tanner und Marion G. Romney. Alle drei hatten die Einladung unterschrieben, und ich war sehr aufgeregt nachdem ich die Post gelesen hatte.

Walter und auch ich waren noch nicht im Rentenalter, das war für die Männer 65 und für die Frauen das Alter von 6o Jahren. Wir konnten also nicht hoffen, die Grenze nach dem Western überschreiten zu dürfen. Und sicherlich würde das nicht der einzige Hinderungsgrund sein. Schließlich waren wir beide Bürger der DDR und standen unter strengen Reisegesetzen in Bezug auf Grenzen und ihren Übergang. Wir gehörten auch keiner politischen Partei an und hatten vielleicht noch andere Mängel, von denen wir gar nichts wussten. Wer könnte mir helfen herauszufinden, was ich tun sollte?

Unser Missionspräsident Bruder Henry Burkhardt war der einzige, der hier Erfahrung hatte und mich beraten konnte. So rief ich Dresden an und erzählte von der Einladung. Bruder Burkhardt freute sich mit mir, warnte mich aber auch gleichzeitig, für meine Person zu viel zu erwarten. Denn seine Frau Inge war auch eingeladen gewesen, zusammen mit ihm die Konferenz im Frühjahr zu besuchen, hatte aber keinen Pass bekommen, was heißt, keine Erlaubnis zu Reisen. So musste er allein fahren.

Wir sollten uns an das Staatssekretariat für Kirchenfragen in Berlin, Hermann Maternstrasse 19 wenden. Ich würde also auf Walter warten und dann mit seiner Hilfe weitere Schritte unternehmen. Doch vorerst beschäftigte mich die Tatsache, dass Bruder Henry Burkhardt, der ja auch noch nicht im Rentenalter war, die Reiseerlaubnis bekommen hatte und seine Frau nicht. Ich überlegte, dass Walter sein Ratgeber in der Missionspräsidentschaft war und als solcher die Aussicht hatte zu reisen im Auftrage unserer Mission. Doch was war mit mir?

War ich nur die Frau von Walter Krause oder war ich mehr? Ja, ich gehörte zum Missionsausschuss der Genealogie in unserer Mission. Vielleicht würde das helfen. In der DDR wurde ja viel Gewicht auf die Gleichberechtigung der Frauen gelegt, und das sollte man betonen. Wir hatten beide miteinander nur ein Einladungsschreiben bekommen. Ich dachte, dass es gut sein müsste, zwei daraus zu machen und dann zwei getrennte Anträge zu stellen.

Ich rief einfach mal beim Staatssekretariat für Kirchenfragen in Berlin an und konnte mit einer Frau Jannot sprechen, die mir sagte, dass dies möglich sei, die Anträge getrennt oder für jeden einzeln zu stellen. Ich begann zu fasten, um dem Herrn die Arbeit zu erleichtern, uns beide auf den Weg zu bringen. Als Walter nach Hause kam, war die Einladung das Wichtigste, was ich ihm zu berichten hatte.

Er freute sich, nahm es aber sehr gelassen hin und das hatte seinen Grund. Walter hatte Nierensteine und war in den letzten Monaten oft sehr krank gewesen mit Koliken. Auch zu den Distriktskonferenzen hatte er oft sehr große Schmerzen. Er musste deswegen sogar in ein Krankenhaus eingeliefert werden und erhielt Medikamente. Ich pflegte ihn, so gut ich konnte, wenn er zu Hause war. Sollte er unter diesen Umständen eine solche Reise planen? Dennoch leiteten wir alles ein, was wir konnten. Als er um die Weihnachtszeit mal wieder völlig flach lag und entmutigt war, sagte ich ihm: „Walter, wenn es in der Kirche üblich wäre, in einer Mission einen Patriarchen zu haben, wüsste ich, das du dieser Patriarch für unsere Mission sein würdest.“ Er war über diese Worte sehr ärgerlich und sagte mir, es

Am 3.Januar 1973 besuchten uns Geschwister Burkhardt in Prenzlau und wir sprachen viel über die Reise. Wir hatten unsere Papiere getrennt eingereicht, hatten in Prag das USA-Konsulat besucht, waren in Berlin gewesen und hofften. Der gegenwärtige Staatssekretär, Herr Seigewasser, war vor dieser amtlichen Tätigkeit Handwerker gewesen und hatte Walter das Du• angeboten, weil er ja auch Handwerker sei. Das war mir wichtig. Er wollte, dass ich zu einer späteren Konferenz nach USA reisen solle, um sicher zu sein, dass wir in die DDR zurückkommen würden. Walter sagte ihm, dass wir uns in einem Tempel trauen lassen wollten und dazu beide zur gleichen Zeit dort sein müssten. Das sah er ein und glaubte uns, dass wir zurückkommen würden. Wir erhielten die Pässe und damit die Erlaubnis, die Grenze nach dem Westen zu überschreiten. Mit Interflug und den Tickets schien auch alles klar zu sein. Die würden wir am Flughafen Schönefeld ausgehändigt bekommen. Wir hatten allen Grund, dankbar zu sein.

Am Montag, den z6.März 1973 übernachteten wir in Berlin, und Schwester Uschi Brüning brachte uns am nächsten Tag zum Flughafen nach Schönefeld. Ich sollte die Tickets abholen, doch diese waren nicht zu finden. Ich bat Uschi, sich mit Walter ruhig hinzusetzen, während ich mindestens viermal alle Stellen abklapperte und sogar im Reisebüro Berlin anrufen ließ. Nichts. Dann überlegte ich mir, wenn wir Pässe hatten, dann müssten wir doch auch Tickets kaufen können. Die galten ja für unser Ostgeld sowieso nur bis nach Frankfurt/Main. Ich fragte Uschi, die eine Bäckerei führte, ob sie genügend Geld bei sich hätte, ging zum Schalter und bat, neue Tickets kaufen zu können. Das sei möglich, sagte die Kollegin und griff nach dem Block. Was lag zu ganz oben auf? Zwei fertige Tickets für die Krauses. Nun war alles geregelt.

In Salt Lake City, bereitete uns Die Zeitumstellung einige Schwierigkeiten, Der Höhepunkt unseres Besuches war die Generalkonferenz mitten unter Mitgliedern aus fernen Ländern, die mit uns die gleichen Lieder sangen und gerührt waren, so nahe den Profeten zu sehen, die Apostel und viele Generalautoritäten. Das muss man erlebt haben. Wir bekamen für alle Versammlungen Eintrittskarten, dafür hatte Präsident Monson gesorgt. Und wir genossen es sehr, Gast einer Generalkonferenz in Salt Lake City zu sein, dazu zu gehören und in gewisser Weise auch mitzumachen. Da ist nicht einfach nur eine gute Stimmung, sondern der Geist des Herrn ist zu fühlen. Alles war wie ein Traum. Von vielen Bildern, Filmen und dergleichen kannten wir ja vieles von Salt Lake City. Doch es ist etwas ganz anderes, dann alles wirklich zu sehen, aus der Nähe kennenzulernen und eben dabei zu sein. Es war ein Schatz für alle Zeiten, diese Generalkonferenz miterlebt zu haben.

Die Generalkonferenz der Kirche war der eigentliche Anlass zu unserm Reise nach Salt Lake City. Gleichzeitig sollten wir unseren ersten Tempelbesuch haben und dort auch getraut werden. Am Montag, den 2.April 1973 fuhr Bruder Percy K. Fetzer Walter und mich zum Salt Lake Tempel. Wir betraten wir die Empfangshalle und erhielten unsere weiße Kleidung. Wir fühlten uns wohl behütet und wurden auf Schritt und Tritt begleitet. In diesem großen Tempel wurden wir von einem Raum zum anderem geführt und erhielten Belehrungen. Der letzte Raum war der schönste. Wir fühlten uns dort wie im Himmel und blieben geraume Zeit stumm sitzen. Dann wurden wir in einen Sieglungsraum gebracht.

Zu unserer Ehesiegelung hatten sich sehr viele liebe Besucher eingefunden. Ich dachte 15 Jahre zurück an unsere standesamtliche Trauung in Wolgast. Danach hatte Walter zu mir gesagt: „Wenn wir treu arbeiten im Werke des Herrn und unsere Berufung erfüllen, werden wir einmal im Salzseetempel getraut werden.“ Das war ein großes Wort, gesprochen zu einer Zeit und in einem Land, wo es feste Grenzen gab, die nach dem Westen hin unüberschreitbar werden sollten. Doch ich glaubte Walters Worten und sagte nichts dazu, ich behielt sie in meinem Herzen. Nun erfüllte sich dieses Versprechen in wunderbarer Weise. Apostel Thomas S. Monson ließ es sich nicht nehmen, diese heilige Handlung durchzuführen und gratulierte uns danach herzlich.

Dies war also Dienstag der 3.April 1973, an dem wir zum historischen Verwaltungsgebäude der Kirche gebracht wurden. Hier empfingen uns die Brüder der Ersten Präsidentschaft der Kirche: Vorn am Tisch saß der Präsident Harold B. Lee mit seinen Ratgebern N. Eldon Tanner und Manon G. Romney. Wir nahmen an einer Tafel davor Platz. Bruder Percy Fetzer fungierte als Dolmetscher für Walter. Wir wurden beide vom Präsidenten der Kirche herzlich willkommen geheißen. Der Profet eröffnete uns, dass ausnahmsweise unsere Dresdner Mission einen eigenen Patriarchen erhalten sollte, der im Lande wohnte. Walter stimmte dem eifrig zu und sagte, dass wir gute Brüder in der Mission hätten. Dann sagte der Profet, dass sie um die Weihnachtszeit herum die Inspiration erhalten hatten, Bruder Walter Krause sollte dieser Patriarch sein, worauf Walter prompt antwortete: „Nee, das kann ich nicht, Bruder Lee, da gibt es bessere Brüder. Das überlegen sie sich bitte noch mal.“ Bruder Fetzer übersetzte haargenau. Daraufhin kam mit ernster Miene die Antwort: „Walter, ich habe dich nicht gefragt, ob es bessere Männer bei euch gibt und auch nicht ob ich mir noch etwas überlegen sollte. Ich will nur hören von dir, ob du diese Berufung annimmst oder nicht.“ Nachdem Bruder Fetzer das übersetzt hat, holte Walter tief Luft und sagte: „Bruder Lee, ich habe in der Kirche noch nie zu einer Berufung Nein gesagt. Und wenn Sie meinen, dass ich das schaffen kann, so will ich auch diese Berufung gern annehmen.“

Ich muss gestehen, dass ich davon sehr betroffen war, dass Präsident Lee betont hatte, diese Inspiration sei um die Weihnachtszeit gekommen. Um diese Zeit hatte ich ja zu Walter gesagt, dass er der Patriarch unserer Mission werden würde, wenn das üblich wäre. Ich musste es Bruder Lee erzählen, nachdem er mir erlaubt hatte etwas zu sagen. Seine Antwort war: „Wir hatten das schon manchesmal, dass die Ehefrauen die Berufung ihrer Ehemänner voraussahen…“ Als es dann im Zimmer von Bruder Kimball soweit war, dass die Ordination vorgenommen werden konnte, war Bruder Theodore M. Burton dabei als Übersetzer für Bruder Kimball. Eine Sekretärin war bereit, um die englischen Worte niederzuschreiben. Bruder Kimball legte die Hände auf Walters Kopf und begann zu sprechen. Plötzlich hielt er inne und sagte zu uns in Englisch, es solle noch eine Schwester als Sekretärin gerufen werden, die in der Lage sei, die deutschen Worte zu stenografieren. Wir alle verstanden das und warteten, bis diese Schwester kam. Armer Walter! Er verstand ja nicht Englisch und niemand sagte ihm, was vorging. Doch bald wurde er in aller Feierlichkeit ordiniert und durfte dann später den deutschen Text mit nach Hause nehmen und natürlich seine Berufungsurkunde auch

Seitdem funktionierte Walter als Patriarch unter den Mitgliedern der Kirche in der ehemaligen DDR und seit der Wende fortan. Im Summer 2003 ist er krank geworden und zum Liegen gekommen. Das Jahr 2004 begann mit einem großen Fragezeichen. Nach mehr Krankheit und Pflege ist Walter am 14. April gestorben.

Ich habe versucht, so gut ich konnte, mich daran zu gewöhnen, allein zu Recht zu kommen. In Prenzlau bin ich geblieben und wo ich seit 1947 gelebt habe.