Pirna, Sachsen

Mein Name ist Linda Schmidt, verheiratet Achterberg. Geboren bin ich am 16. Juni 1940 in Pirna/Sachsen. Meine Eltern: Gustaf Adolf Schmidt geboren am 02.Okt.1892 in Schytomyr, Ukraine. Er ist gestorben am 31.12.1945 ( für tot erklärt ) Berufe: Landwirt, Pferdezüchter und Imker. Meine Mutter hieß Ferdinande Schmidt geborene Liebert, geboren am 28.Juli 1899 Wolynien, Ukraine. Sie ist am 26.07.1980 gestorben. Sie war Mutter, Hausfrau, Vaterersatz, Trümmerfrau und vieles mehr. Meine Eltern hatten 17 Kinder. Davon sind 10 im Säuglingsalter gestorben. Ein Kind, meine Schwester Herta, ist 1956 mit 26 Jahren an Krebs gestorben.

1940 hat Adolf Hitler alle „rein Arischen“ Leute aus Wolynien in den Warthe Gau [Wartheland] umgesiedelt. Sie fuhren mit dem Zug. Bei Pirna setzten bei meiner Mutter die Wehen ein. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht und dort wurde ich an einem Sonntag, am 16. Juni 1940 geboren. Mein Vater ist mit meinen vier Geschwistern nach Kutnow, Kreis Lutzk, im Warthegau weiter gefahren. Dort bekam er einen großen Bauernhof mit Ländereien geschenkt. Es war alles vorhanden was man brauchte. Von der Stecknadel bis zu den Landmaschinen, Knechte und Mägde und für mich ein eigenes Kindermädchen. Es war ein vollständig neu geschaffenes Gut, in dem mein Vater als neuer Besitzer eingesetzt wurde.

Da ich das 14. Kind meiner Eltern war, übernahm Adolf Hitler die Patenschaft und meine Mutter wurde mit dem goldenen Mutterkreuz geehrt, so lebten wir bis Januar 1945 im Luxus. 1942 gebar meine Mutter eine Tochter Erika, sie lebt heute noch bei Hamburg. 1943 wieder eine Tochter, sie starb 1944. Am Anfang Januar 1945 gebar sie einen Sohn. Er starb aber gleich nach der Geburt. Nach fünf Tagen holte mein Vater meine Mutter aus dem Krankenhaus ab. Am nächsten Tag hieß es. „Die Russen kommen“. Schnell wurde das Nötigste auf einen Leiterwagen geladen und die Flucht begann. Als die Russen uns eingeholt hatten, nahmen sie uns die Pferde und den Vater weg. Meine Schwester Herta klammerte sich an ihm fest. Ein Russe stieß ihr mit dem Gewehrkolben vor die Brust und sie fiel zu Boden. 1956 starb sie an Krebs als eine Folge dieser Misshandlung.

Nun stand meine Mutter mit ihren sechs Kindern allein. Das Jüngste nicht mal drei Jahre alt. Der Wagen war zu schwer um ihn zu ziehen. Sie nahm herunter, was man so tragen konnte und zu Fuß ging es weiter. Schnee und Kälte um Minus 26 Grad machten uns zu schaffen. Wir stolperten weiter über fort geworfene Gepäckstücke sowie über Tote und verletzte Flüchtlinge. Überall war nur roter Schnee. Meine Tante wurde von einer Granate getroffen. Ihr halber Kopf war weggerissen. Sie hatte ihren Säugling im Arm. Man nahm das Kind, wischte notdürftig das Blut ab und ging weiter. Meine Augen froren zu. Ich fragte immer wieder: „Mama, wann kann ich meine Augen wieder aufmachen? Werde ich wieder sehen können?“ Meine Mutter sagte nur: „Kind – mach den Mund zu. Du holst dir sonst den Tod.“ Dann sah meine Mutter am Straßenrand meine gelähmte Nichte hocken. Man hatte sie dort einfach abgesetzt. Meine Mutter nahm sie sich auf den Rücken und schleppte sie 45 Kilometer mit. Woher nahm sie die Kraft? – und das 14 Tage nach der Entbindung! Sie klagte nie! Jeden Abend, wenn wir in einer alten Scheune oder im Freien übernachteten, kniete sie nieder und dankte dem Herrn. An einem Abend, wir hatten nichts mehr zu essen, nur Schnee, den wir aßen, dachte ich, heute gibt es nichts zu danken. Meine Mutter sagte „Doch, ihr lebt doch noch alle.“ Mein ganzes Leben lang begleitet mich dieser Satz. Es gibt immer was zu danken! Morgens befahl meine Mutter uns dem Herrn an und abends dankte sie ihm für den Schutz. Sie erhielt die Kraft vom Herrn.

Irgendwie waren wir im Kreis gelaufen. Eines Tages kamen wir an unserem Hof in Kutnow wieder an. Jetzt waren unsere früheren Knechte und Mägde die Besitzer. Wir wurden in der Futterküche untergebracht. Das war ein kalter Raum in dem das Futter für die Tiere zubereitet wurde. Mann gab uns eine dicke Lage Stroh. Da konnten wir darauf sitzen und schlafen. Ich bekam Typhus und war dem Tod sehr nahe. Da kam ein Russe in den Raum. Er sah mich an und ging wieder weg. Nach einer Zeit kam er wieder und hielt mir eine Kanne voll Milch an den Mund und sagte „trink.“ Er kam jeden Tag wieder und brachte Milch. Dadurch wurde ich wieder gesund und kam zu Kräften. Es waren immer fünf Liter in einer roten Kanne. So konnten auch meine Geschwister und meine Mutter genug davon trinken. Was anderes hatten wir nicht. Schlimm war, dass wir nicht deutsch sprechen durften, nur polnisch. Heimlich sprach meine Mutter mit uns deutsch. Meine Mutter und meine älteren Geschwister durften dann auf dem Bauernhof arbeiten und bekamen dafür zu Essen. So sind wir dann nicht verhungert.

1946 wurden wir dann von den Russen in ein Auffanglager gebracht. Dort war es schrecklich. Auf zwei Ebenen waren Lager mit Stroh für jede Familie hergerichtet. Gerade so groß, dass wir nebeneinander liegen konnten. In der Mitte war ein freier Raum, dort stand ein kleiner Böllerofen der etwas Wärme abgab. Wir waren alle verlaust und verdreckt. Nachts huschten die Ratten und Mäuse über uns hinweg. Wir bekamen als Tagesration einen Liter Suppe, die nur aus Wasser und erfrorenen Steckrüben bestand und ein kleines Stück trockenes Brot. Jeden Morgen holte man Säuglinge und Kleinkinder ab, die in der Nacht gestorben waren. Die kleinen Leichen waren von den Ratten grauenhaft angefressen und abends kamen die Russen und holten die jungen Frauen und Mädchen heraus um sie zu vergewaltigen. Es gab eine große Kiste in dem Raum. Dort versteckte meine Mutter meine 16 Jährige Schwester. Meine Mutter setzte sich darauf und nahm meine kleine Schwester und mich auf den Schoß. Sie betete inständig zum Herrn, dass die Russen meine Schwester nicht finden. Wenn sie hätte husten müssen, wäre sie bemerkt worden. Aber es ging immer gut. Der Herr hat die Gebete meiner Mutter erhört.

1947 durften wir dann in den Westen nach Ahrensfelde Kreis Stormarn in Schleswig-Holstein. Wir wurden bei dem reichsten und auch geizigsten Bauern Zwangs einquartiert. Meine Schwester Herta hatten die Polen verschleppt. Sie konnte fliehen und erreichte uns ein halbes Jahr später. Mein Bruder Hugo und ich hatten die Krätze [Skabies]. Ein Arzt kam und setzte uns auf einen Pritschenwagen. Meiner Mutter sagte er, er bringt uns in ein Krankenhaus nach Hamburg. Sie durfte nicht mit. Wir wurden das erste Mal in unserem Leben von unserer Mutter getrennt. Im Krankenhaus angekommen, wurden wir in einen großen Raum gesteckt. Mit vielen anderen Kindern. Alle schrien nach ihren Müttern. Wir auch! Dann holte uns eine Schwester ab. Wir wurden in ein Jod-Bad gesteckt. Es brannte fürchterlich. Unsere Haut war ja von Kopf bis Fuß offen.

Meine Mutter machte sich auf den Weg um uns zu suchen. Hamburg ist groß und war ein Trümmerhaufen. Wie sollte sie uns da finden? Sie betete und flehte den Herrn um Hilfe an! Er führte sie tatsächlich zu uns – ja auf den Herrn ist immer Verlass. Wie groß war unsere Freude, als unsere Mutter zur Tür herein kam. Nachdem wir desinfiziert waren, durfte uns unsere Mutter mit nach Hause nehmen. Aber was war das für ein Zuhause? Der Raum, den wir bekamen, war 16m² groß. Mit sieben Personen mussten wir darin wohnen, schlafen und kochen. Es war im 1. Stock. Wasser mussten wir im Eimer aus dem Kuhstall holen. Ein Plumpsklo war auf dem Hof. Die Spültoilette im Haus durften wir nicht benutzen. Wir waren ja das verhasste „Pollackenpack.“

Meine Mutter arbeitete den ganzen Tag beim Bauern. Dafür bekam sie dann Lebensmittel. Sie konnte wunderbar Handarbeiten. Nachts bastelte sie aus Stroh Weihnachtsschmuck, Handtaschen und Schachteln und sie tauschte sie dann für Zucker, Brot, Mehl und Kleidung für uns ein. Wir Kinder klauten uns manchmal Obst und Gemüse, es war ja alles in Hülle und Fülle vorhanden. Wenn meine Mutter es merkte, schimpfte sie fürchterlich mit uns. Sie sagte dann: „Ihr sollt nicht stehlen, das ist Sünde. Der Vater im Himmel sorgt für uns. Er lässt uns nicht verhungern.“ Es war ihr immer wichtig, dass wir die Gebote halten. Am schönsten für mich waren die Abendstunden. Die Russen hatten uns alle Papiere und Bücher abgenommen – die Bibel, den größten Schatz meiner Mutter – haben sie nicht gefunden. Meine Mutter hatte sie am Körper unter ihrer Kleidung versteckt. Jeden Abend versammelte sie uns Kinder um sich und las uns daraus vor. Die Geschichten waren so schön. Ich wollte sie selber lesen können um zu sehen, ob es wirklich so darin steht. So lernte ich mit Hilfe meiner Schwester lesen und durfte dann selber aus diesem köstlichen Buch lesen. In diesen so schönen Stunden vergaß ich alle Demütigungen und Beschimpfungen denen ich am Tage ausgesetzt war.

Meine Mutter machte sich auf die Suche nach einer Kirche. Sie fand sie in Ahrensburg, einer Kleinstadt vier Kilometer entfernt. Nun konnten wir wieder jeden Sonntag zur Kirche gehen. Es war eine evangelische Kirche der wir angehörten. Der Pastor war ein wirklicher „Seelsorger“ Er kümmerte sich unermüdlich um alle Flüchtlinge und half wo er nur konnte.

Aus Amerika kamen Hilfsgüter, die so genannten Care-Pakete. Ich bekam endlich heile Schuhe und einen Wintermantel. Erst 30 Jahre Später, nach dem ich die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage kennen lernte und Mitglied wurde – es war der 26. Juli 1975 als ich getauft wurde – erfuhr ich, dass die Spenden von Mitgliedern waren.

Im April 1948 wurde ich dann endlich mit meiner kleineren Schwester eingeschult. Aus Zeltstoff hat meine Mutter für uns alle Schultaschen genäht. Damals gab es noch keine Hefte. Nur Schiefertafeln und Griffel. Man musste sehr aufpassen, dass die Hausaufgaben nicht verwischten. Dann gab es Ärger mit dem Lehrer. Es gab nur einen großen Schulraum. Im Wechsel wurden die 1-4. Klasse und die 5-9. Klasse unterrichtet. Eine Woche vormittags und eine Woche nachmittags. Welch eine Leistung des Lehrers. Es waren immer rund 45 Kinder zu unterrichten. Vier Klassen auf einmal. 2/3 davon waren Flüchtlinge und 1/3 Bauernkinder. Sie bekamen gute Noten, aber nicht für ihr können, sondern für die Gaben der Eltern – eine Gans, ein Schweineschinken, Butter, Eier, Zucker und Mehl. Die Eltern der Flüchtlingskinder konnten da nicht mithalten. Wir mussten uns gute Zensuren erarbeiten. Es hat mir nicht geschadet. So lernte ich schon sehr früh, dass ich mir alles hart erarbeiten muss.

1951 bekamen wir die Möglichkeit zu bauen oder nach Amerika aus zuwandern. Meine Mutter wollte aber nicht so weit weg. Sie hoffte, dass mein Vater zurück kommt und wenn wir nach Amerika auswanderten würde er uns nicht finden, so bauten wir. In Eigenleistung mussten wir das Fundament und bis zum Kellerdach selber machen. Seit meinem achten Lebensjahr musste ich den Haushalt selbstständig führen mit kochen, putzen, waschen und einkaufen. Während meine Mutter und meine Brüder am Bau waren, kochte ich für sie und brachte ihnen das Essen. Dann durfte ich am Bau mithelfen den Beton mischen und das Fundament mit gießen.

Im Juni 1952 war das Haus fertig. Mit unseren wenigen Habseligkeiten auf zwei Handkarren gepackt, zogen wir dort ein. Alle Möbel bekamen wir von der Evangelischen Kirche geschenkt. Ich war so glücklich! Endlich ein eigenes Bett. Nicht mehr zu dritt mit meinen beiden Brüdern in einem Bett. Wir hatten ein Wohnzimmer und eine Küche. Da machte mir das Kochen so richtig Spaß. Ich kam auch auf eine andere Schule in Groß-Hansdorf. Jede Klasse hatte ihren eigenen Raum. Wir waren nicht mehr die Pollacken-Kinder. Wir waren integriert!

Zu unserem Haus gehörte auch ein Stall und 100 qm Land. Meine Mutter baute Kartoffeln und Gemüse an. Wir hatten Hühner, Gänse, Enten, ein Schaf und jedes Jahr ein Schwein, das geschlachtet wurde. So hatten wir genug zu essen.

Dann kam der nächste Schicksalsschlag. Meine große Schwester Hertha erkrankte an Krebs und starb im Juni 1956. Ich habe sie so geliebt und konnte nicht begreifen wie der Herr so etwas zulassen konnte. Nie habe ich meine Mutter so sehr leiden gesehen. Meine Schwester war meiner Mutter eine so große Stütze. Nun habe ich die Rolle übernommen, ich war 16 Jahre. Ich bekam eine Arbeit und konnte meine Mutter unterstützen. Aber das Vertrauen in den Herrn hatte ich verloren. Meine Mutter hatte dem Herrn versprochen, wenn er kein Kind mehr sterben lässt, wird sie jeden Karfreitag fasten. zehn Kinder waren ja schon gestorben. Nun kam der erste Karfreitag nach dem Tod meiner Schwester und meine Mutter fastete! Ich sagte: „Warum tust du das? Herta ist doch tot! Es ist doch sinnlos?“ Da sagte meine Mutter: „Aber du lebst doch noch!“ Nie hat sie das Vertrauen in den Herrn verloren. Sie blieb dem Herrn treu bis zu ihren Tod. Ich blieb der Kirche fern und betete auch nicht mehr. Ich sah keinen Sinn darin.

Mit 18 heiratete ich und bekam eine Tochter Gabriele am 9. Mai 1961. Die Ehe zerbrach. Mit 24 heiratete ich wieder, bekam eine Tochter Petra am 12.Oktober 1965. Die Ehe zerbrach ebenfalls. Mit 30 heiratete ich ein drittes Mal. Am 14.Juli.1971 wurde mein Sohn Thomas und am 16.Juni.1973 mein Sohn Dirk geboren. Wir hatten evangelisch geheiratet und die Kinder wurden auch getauft.

Es kamen immer wieder zwei Männer an unsere Wohnungstür. Sie nannten sich Brüder. Mein Mann fertigte sie immer an der Tür ab. Da wurde ich neugierig und sagte zu ihm: „Das gehört sich nicht. Entweder du bittest sie rein oder du sagst ihnen, dass sie nicht wieder kommen sollen. Wer sind die Männer denn eigentlich und warum nennen sie dich „Bruder“? Da gestand mein Mann mir, dass er Mormone sei und sich nicht getraut hatte, es mir zu sagen, aus Angst, ich würde ihn nicht heiraten. Drei Jahre haben die Heimlehrer und Missionare gebraucht, bis ich mich mit meinen beiden Töchtern am 26.Juli 1975 habe taufen lassen. Meine beiden Söhne später ebenfalls und sieben Enkelkinder haben sich in der Folge auch bereits taufen lassen. Am 10.Dezember 1988 verstarb mein Mann. Wir sind aber bereits für die Ewigkeit aneinander gesiegelt. Ich habe zehn Enkelkinder und zwei Urenkel.

Das Vertrauen in den Herrn habe ich wieder gefunden. Ich weiß, der Herr und Jesus lieben mich und ich liebe sie ebenfalls! Seine Wege sind heilig! Wie sehr hat uns der Herr doch in unserem Leben bedacht. Am meisten wurde ich mit einer so gläubigen und starken Mutter gesegnet. Ich bin so dankbar dafür.