Berlin
Mein Name ist Gertrud Gerda Linke. Geboren bin ich am 13. Oktober 1917 in Berlin. Mein Vater hieß Adolf Steffin, und meine Mutter hieß Else Haine. Ich hatte eine sehr schöne Jugend, weil Berlin eine sehr schöne Stadt ist. Da ich eine Wasserratte war, bin ich viel schwimmen gewesen, und dadurch habe ich mich immer sehr wohl gefühlt.
Meinen Mann habe ich auch im Wasser kennengelernt. Das war im Jahre 1935. Am 5. Juli 1936 haben wir uns verlobt, und 1939 haben wir geheiratet. Das war gleich zu Beginn des Krieges. Es war eine Kriegstrauung, die der Pastor abgehalten hat. Ich lebte dann bei meinen Schwiegereltern, weil mein Mann Berufssoldat war. Mein Mann ist am 18. März 1916 in Essen geboren. Seine Eltern waren Kurt Linke, und seine Mutter hieß Leni Linke, geborene Sebald. Sie waren keine Kirchenmitglieder. Wir selber sind erst seit dreißig Jahren in der Kirche. Mein Mann war Feldwebel und sollte Offizier werden. Aber soweit ist es nicht mehr gekommen, denn er kam in russische Gefangenschaft. Er war vorher verwundet worden, und ist erst 1948 aus der Gefangenschaft entlassen worden. Er war also drei Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Auf den Karten, die er dann endlich schreiben durfte, stand nicht zu lesen, wo er sich befand. Er hat immer so gerne gemalt und gezeichnet. Und er hat mir wunderschöne Karten geschickt, die ich auch heute noch besitze. Als er endlich 1948 nach Hause kam, war er sehr krank. Er konnte kaum Nahrung zu sich nehmen, weil er große Probleme mit dem Magen hatte. Später ist er dann auch am Magen operiert worden. Er besaß dann nur noch ein Drittel seines Magens.
Auch seine Leber war sehr angegriffen. Es war sehr schwer für ihn. Als er nach Hause kam, haben wir in Mettmann gewohnt. Dort haben wir auch den Krieg erlebt. Mein Mann war das erste Jahr noch bei uns, als unsere Tochter geboren wurde. Und dann war ich allein. Als er verwundet worden war, kam er nach Konstanz am Bodensee in ein Lazarett. Mein Mann hatte einen Armdurchschuss. Zuerst wollte man ihm den Unterarm amputieren; doch dann wurde durch das Dazwischentreten eines Arztes der Arm und die Hand erhalten. Aber Arm und Hand waren nicht mehr voll funktionsfähig. Dort am Bodensee war ich dann für ein Vierteljahr. Unsere Tochter wurde 1940 geboren und unser Sohn 1943. Mit den beiden Kindern habe ich dann allein in Mettmann gewohnt. Mettmann liegt zwischen Düsseldorf und Wuppertal. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett kam er in eine Genesenenkompanie in Ulm, um von dort wieder nach Russland an die Front geschickt zu werden.
Am Kriegsende galt er als vermisst. Seine erste Postkarte erreichte mich im Krankenhaus, als ich mich dort wegen einer Blinddarm-Operation befand. Ich erinnere mich, dass ich morgens um fünf Uhr der Schwester sagte: „Heute bekomme ich Post von meinem Mann“. Und sie sagte: „Woher wissen sie das“? Und ich erwiderte: „Das weiß ich! Heute bekomme ich Post“! Als die Post ausgeliefert worden war, kam sie herein und fragte: „Na, wo ist ihre Post geblieben?“ Ich erwiderte: „Ich bekomme heute Post von meinem Mann”. Dann kam um ein Uhr mittags eine Nachbarin, die zwei Häuser von uns entfernt wohnte vorbei, und brachte mir die erste Karte aus Russland von meinem Mann. Da gab es natürlich eine große Aufregung, denn ganz selten hatte jemand Post aus Russland erhalten. Als die Nachbarin mittags ins Krankenhaus kam und an die Tür klopfte und fragte, ob hier eine Frau Linke sei, kam sie an mein Bett und sagte: „Ich habe Post von ihrem Mann“. Sie hatte den Briefträger vor unserem Haus halten sehen. Und da niemand im Hause war, nahm sie die Karte an sich. Das war ein Erlebnis!
Während des ganzen Krieges war ich alleine mit den Kindern. Als mein Mann noch lebte, habe ich Sold bekommen. Und als mein Mann vermisst war und man sich mit der Heeresstandortkasse schon abgesetzt hatte, habe ich von der Wohlfahrt gelebt. In dieser Gegend gab es viele Luftangriffe. Ich sah es immer, wenn die Flieger kamen. Selten bin ich in den Keller hinabgegangen, weil ich die zwei Kinder hatte. Wir hatten nur einen kleinen Keller, der auch kein Luftschutzkeller war, und das erschien mir nicht sicher genug. Deshalb entschied ich mich, oben zu bleiben. Denn das Hinunterbringen und wieder Heraufholen der Kinder war sehr mühsam. Ich habe dann am Fenster gestanden und zugeschaut, wie die Scheinwerfer den Himmel nach den Flugzeugen absuchten und habe aufgepasst, wohin sie geflogen sind. Ihre Ziele waren Düsseldorf oder Köln oder Essen. Ich hatte von unserem Badezimmer in Mettmann eine sehr gute Aussicht. Ich habe mich dann danach gerichtet, was ich gesehen hatte. Auf Wuppertal gab es einen schrecklichen Angriff. Aber zu der Zeit wohnte ich in Mettmann. In meiner Wohnung hatte ich zwei Fenster, von denen ich aus dem einen nach Wuppertal schauen konnte und aus dem anderen auf die Straße. Dieser erste Angriff auf Wuppertal war furchtbar*. Als ich morgens das Fenster aufmachte, roch die ganze Luft nach verbranntem Papier. Das schwarze Papier flog immer noch durch die Luft. Es war ein ganz furchtbarer Angriff. Und der zweit war genauso schrecklich. Nach diesen zwei Angriffen auf Wuppertal war es beinahe völlig zerstört.
Die Menschen sind in die Wupper gesprungen, weil die Brand- und Sprengbomben alles in Brand gesetzt hatten. Viele Menschen haben die Wupper nicht mehr erreicht und sind auf der Strecke verbrannt. Wir wohnten zwischen Düsseldorf und Wuppertal, und wir hatten nur zwei Angriffe, von denen wir kaum etwas mitbekommen haben. Wir haben wirklich Glück gehabt. Oft habe ich gedacht, dass es die Hand Gottes war, die uns beschützt hat. Als Kind habe ich nicht viel gebetet. Aber durch meinen Mann habe ich es gelernt. Mein Mann war sehr gläubig. In den Verhältnissen, in denen ich aufgewachsen bin, war es nicht möglich, Gott kennen zu lernen und zu beten. Ich bin bei meinen Großeltern groß geworden. Meine Großmutter hatte selber sieben Kinder. Und ich wurde noch dazu getan. Ich war ein uneheliches Kind. Meinen Vater kannte ich, und ich ehre und achte ihn. Er wollte auch meine Mutter heiraten. Ich erinnere mich noch wie heute daran, ich war etwa sechs Jahre alt, dass er bei meinen Großeltern in der Tür stand und fragte: „Warum heiratet die Else mich nicht? Warum bekommt das Kind kein Zuhause? Ich arbeite doch. Ich kann doch die Familie ernähren“. Aber sie hat einen anderen Mann geheiratet. Sie hat zwei fremde Kinder großgezogen und hat mich von Berlin wieder nach Spandau zurückgeschickt. Das war meine Jugend. Ich bin in Berlin Spandau geboren.
Als mein Mann aus dem Krieg zurückkam, hatte er zuerst keine Arbeit, weil er krank war. Als er dann wieder arbeiten konnte, ist er durch einen Bekannten Schnapsverkäufer geworden. Dieser Bekannte war in einer größeren Firma und lieferte die Spirituosen aus ( ich bin mir hier nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe). Er sagte: „Du kannst doch auch hier arbeiten. Es ist keine schwere Arbeit. Du brauchst nur zu verkaufen“. Und das hat mein Mann auch getan. Das Ganze war nicht sehr gut. Manchmal habe ich ihn gefragt, ob er nicht mehr Schnaps selbst trinkt als er verkauft. Aber so viel konnte er ja gar nicht trinken, denn er musste ja Auto fahren. Und außerdem hatte er auch die Magenprobleme. So war es eben.
Am Heiligen Abend haben wir die Missionare kennen gelernt. Sie gingen an unserem Haus vorbei, um zu einer Familie Müller in der Siegfriedstraße zum Essen zu gehen, bei der sie eingeladen waren. Einer der Missionare sagte zu dem anderen: „Hier in dieses Haus lass uns noch gehen”. Sie kamen also in dieses Haus, haben geschellt, auch bei meiner Nachbarin. Später sagte mir diese Nachbarin: „ Das ist doch unwahrscheinlich, am Heiligen Abend kommen zwei Missionare und wollten mir etwas von der Kirche erzählen“. Ich erwiderte: „Wir haben sie aber hereingebeten“. Und das passierte so: Es klingelte, ich ging zur Tür, mein Mann war in der Küche und fragte: „Wer ist denn da“? Ich antwortete: „Zwei Missionare“. Er sagte: „Na, dann bitte sie doch herein“! Die Missionare kamen also herein, wir hörten mit unserer Arbeit auf und setzten uns hin und unterhielten uns mit ihnen. Es war am Heiligen Abend. Es war vormittags, denn zum Mittagessen waren sie eingeladen. Als sie gingen, fragten sie, ob sie wiederkommen dürften. Und wir stimmten zu.
Nach Weihnachten kamen sie dann wieder zu uns. Ich hatte aber einen Anruf von meiner Mutter erhalten, dass sie krank war. Und so bin ich nach Berlin gefahren. Sie war zu der Zeit schon verwitwet. Ich pflegte sie. Als ich zurückkehrte, bekam ich die Grippe, die sie vorher hatte. Da lag ich nun als es klingelte, und die Missionare wieder unten vor der Tür standen. Sie waren vorher schon einmal hier gewesen, hatten aber niemanden angetroffen. Mein Mann fragte mich, ob es mir recht sei, wenn sie zu uns heraufkämen. Mir war es recht. Aber ich meinte: „Die Hauptsache ist, dass sie sich nicht anstecken“. Wir sprachen wieder miteinander. Das ging den Februar und den März hindurch. Ich war in der Zwischenzeit schon mit in der Kirche gewesen. Doch mein Mann, der zuerst die Missionare hereingebeten hatte, war noch nie mitgekommen. Aber er sagte: „Ja. Ja. Geh du nur““
Als die Missionare sich einmal mit meinem Mann unterhalten haben, sagte der eine der Missionare: „Bruder Linke, sie werden am 19. März getauft”. „Nein, “ sagt mein Mann, „das werde ich nicht”. „Doch“, erwiderte der Missionar, „hier steht es“. Mein Mann sagte: „Das tut mir leid. Dann müssen sie es wieder ausstreichen“. Denn er hatte am 18. März Geburtstag. Er war nicht bereit, sich taufen zu lassen. „Sie können meine Frau taufen. Das ist selbstverständlich“. Aber ich meinte: „Das kommt nicht in Frage! Wir sind unseren Weg zusammen gegangen seit wir uns kennen, und wir gehen auch diesen Weg zusammen“. Das war im März. Leider ist der Missionar, der das Taufdatum aufgeschrieben hatte, nach Duisburg versetzt worden. Dann kamen ein Bruder Christensen und ein Bruder Krause zu uns. Wenn wir dann in die Kirche gingen, kam mein Mann mit mir mit. Es verging eine kleine Zeit, und plötzlich sagte er: „Ja, jetzt möchte ich mich taufen lassen“. Zu dem Zeitpunkt war der Bruder, der für das Befüllen des Taufbeckens zuständig war, im Urlaub. Aber es fand sich ein anderer Bruder, der für das Wasser sorgte.
Am 17. April 1978 ist mein Mann dann getauft worden. Und ich auch. Wir sind beide zusammen getauft worden. Das war unser Weg in die Kirche. Er war ein bisschen umständlich, aber doch voller Erfolg. Eineinhalb Jahre nach unserer Taufe, am 25 Mai 1979, sind wir schon in den Schweizer Tempel gegangen, wo wir an einander gesiegelt wurden. Zu der Zeit war mein Mann aber schon im Pfahl tätig. Ich arbeitete in der Pfahljungend. Wir sind in den Schweizer Tempel auf Mission gegangen. Als wir wieder zurückgekommen sind, wurde mein Mann in die Bischofschaft berufen. Ich glaube, dass er noch kein halbes Jahr in der Bischofschaft war, bevor er am 28 November 1982 zum Patriarchen berufen wurde. Dieses Amt hatte bis zu seinem Tode inne, das waren etwa acht Jahre. Wir hatten immer ein volles Haus. Die Missionare gingen bei uns aus und ein. Zu der Zeit war es noch so, dass die Missionare ihre Wäsche selber waschen sollten. Aber ich hatte immer einen Sack Wäsche von ihnen vor der Tür stehen, wenn ich einmal nicht zu Hause war. Ich wusch natürlich für sie. Und wenn sie dann am Donnerstag zu uns kamen, konnten sie die Wäsche wieder mitnehmen. Es war eine wunderschöne Zeit. Doch die Zeit im Tempel war eigentlich die schönste. Als ich wiederkam aus dem Tempel, verstand ich die Welt nicht mehr, weil wir dort ganz anders gelebt haben.
Als mein Mann zur Kirche kam, sagte ich zu unserem Bischof, Bruder Schmidt war das damals: „Bitte, Bruder Schmidt, tun sie mir einen Gefallen: lassen sie meinen Mann in Ruhe. Er ist krank”. Mein Mann hatte ein paar Monate vor seiner Taufe einen Herzinfarkt erlitten. Bruder Schmidt sagte: „Ja, ja, das mache ich. Seien sie beruhigt“. Es gab einen Sekretär, der sich um alles Aufzuschreibende kümmerte. Eines Tages kam der Bruder Schmidt und fragte: „Bruder Linke, könnten sie vielleicht ein bisschen helfen, nur ein kleines bisschen“? Und mein Mann sagte zu. Er wollte es versuchen. Er nahm dann seine kleine Schreibmaschine mit in die Kirche und schrieb, was zu schreiben war. Und so wurde es langsam mehr und mehr. Er strengte sich an und schaffte, was er schaffen wollte. Und so kam es, dass wir nach eineinhalb Jahren auf Mission gehen konnten. Da war er vollständig frei von seinen Beschwerden. Er war ein vollständiger Mensch. Und als wir von der Mission aus der Schweiz zurückkehrten, waren es etwa sechs Monate, dass er in die Bischofschaft berufen wurde. Mein Mann wusste alles, was in der Bibel stand. Er wusste alles, was im Buch Mormon stand. Man konnte ihn fragen, was man wollte, er hatte alles in seinem Kopf drin, was in seinen Kopf gehörte. Und es war, als ob er nie krank gewesen war und dass der Herr für alles gesorgt hatte, und er auf alles antworten konnte, wie es nötig war. Als er im Pfahl arbeitete, fragte ihn der Pfahlpräsident: „Bruder Linke, was halten sie davon, wenn sie mit ihrer Frau auf Mission gehen“? Mein Mann sagte: „Ja, da muss ich auch meine Frau fragen. Aber wie ich sie kenne sagt sie ja“. Er kam dann nach Hause und fragte mich: „Was hältst du davon, wenn wir auf Mission gehen“? Und ich antwortete: „Wenn du das meinst, dann gehen wir auf Mission“. Und so sind wir dann vom 30 September 1980 bis zum 26 März 1982 auf eine Tempelmission in die Schweiz gegangen. Es war sehr schwer. Wir haben arbeiten müssen, aber wir haben auch arbeiten können. Es gab da die Treppe, auf der man alles herauf und hinunter bringen musste. Es war eine wirkliche Zeit der Arbeit. Aber es war eine sehr schöne Zeit. Wir beide sagten immer, dass es die schönste Zeit in unserem Leben war.