Erlangen, Mittelfranken, Bayern
Ich heiße Irmgard Meissner, geborene Benedikt. Am 20.Juli 1939 erblickte ich in Erlangen als drittes Kind und als drittes Mädchen das Licht der Welt. Deshalb nannten sie uns das Dreimädelhaus. Zehn Tage nach meiner Geburt, zog mein Vater zu dem bevorstehenden Krieg ein. Zur Ausbildung als Soldat kam er zuerst, nach Eisfeld in die Nähe von Würzburg, Oberfranken, Bayern. So blieb ihm noch die Möglichkeit zwischendurch nach Hause zukommen. Im Jahre 1940 bekam ich noch einen Bruder. Vier Kinder waren wir in der Kriegszeit und in der Nachkriegszeit fünf. Von Würzburg aus kam mein Vater nach Linz, an den Neusiedler See, Ungarn, Frankreich. Später nahmen ihn die Franzosen in die Gefangenschaft.
Drei Tage vor Kriegsausbruch, am 29.August 1939 gab man, die erst längst gedruckten Lebensmittelmarken, aus. Selbst Nazi Freunde zweifelten jetzt an der Friedensbereitschaft Hitlers. Unruhe machte sich breit. Der Gedanke: „Kauft, was ihr noch kaufen könnt, mache sich breit, “ bevor die Marken kommen. Dann war es soweit. Man führte die Nährmittelmarken ein. Alles wurde rationalisiert. Jede Person bekam nur eine kleine Zuteilung, geradeso, dass es zum Überleben reichte. .
Der Ausbruch des Krieges war keine einfache Zeit, besonders für meine Mutter, die mit vier kleinen Kindern alleine war. Wir bewohnten eine 60 Quadratmeter große Wohnung. Ein Hof zum Spielen und einen Garten vor unserem Haus, ermöglichte mir eine schöne und behütete Kindheit. Als allerdings die Auswirkungen des Krieges vor unserer Haustüre waren, machten sich Sorgen und Ängste breit. Nachts gab es sehr oft Fliegeralarm. Deshalb mussten wir in die dafür vorgesehenen Luftschutzräume fliehen. Unsere Mutter holte uns schlafenden Kinder aus dem Bett, setzte uns auf den Küchentisch, zog uns einen Trainingsanzug über und schleppte uns mit unserer hilf bereiten Nachbarin in den Keller. Dort versammelten sich acht Familien vom Haus und suchten Schutz und Sicherheit.
Unsere große Gefahr war die nahegelegene Stadt Nürnberg, die Lieblingsstadt von unserem Führer Adolf Hitler. Die amerikanischen Streitkräfte wollte das Symbol der Nazis zerschlagen. Die massiven Bombenangriffe wirkten sich bis Erlangen aus. So lebten wir ständig mit der Angst. Zum Glück blieb Erlangen weitgehend verschont. In den Universitätskliniken und in Schulen richtete man Lazarette ein. Sie beherbergten bis zu 7000 schwer verwundete Soldaten und Zivilisten, Auf den Dächern dieser Gebäude brachte man weiße Fahnen, mit einem rotem Kreuz – das Zeichen zum Schutz schwerverletzter Menschen.
1945 ging endlich der Krieg zu Ende. Das Naziregime unter Adolf Hitler hatte den Krieg verloren. Seit Tagen war bereits Geschützdonner aus dem Westen und Norden zu vernehmen. Bamberg, Oberfranken, Bayern wurde in diesen Tagen von amerikanischen Truppen besetzt. Die Spannung und Unruhe in der Stadt stieg von Tag zu Tag. In vielen Orten richteten sich die Einwohner bei einer Bombardierung der Stadt auf einen Daueraufenthalt in den Luftschutzkellern ein. Schlafgelegenheiten auf Matratzen wurden gerichtet, Kleidung, Lebensmittel und Wertsachen brachte man in den Keller.
Über Lautsprecher gab es einen dringenden Aufruf Alle älteren Leute und Mütter mit Kindern, sollten zur ihrer Sicherheit auf dem Burgberg, in die sicheren Burgbergkeller flüchten. Um einer möglichen Bombardierung zu entgehen. Eine halbe Stunde Zeit blieb uns, um fertig zu machen. Der Burgberg war am anderen Ende der Stadt, ein ca. einstündiger Fußweg. In großer Aufregung packte meine Mutter das Nötigste ein. Meinen Bruder und mich lud sie in den Kinderwagen. Meine größeren Geschwister sollten laufen. Eine ältere Frau vom Haus wurde auf einen Leiterwagen gelegt. Die Flucht war fast perfekt, als plötzlich ein Granatsplitter unsere alte Nachbarin am Kopf traf. Deshalb entschlossen sich alle Mitbewohner zu Hause zu bleiben, denn der weite Fußweg, vom Süden nach Norden, hätte bestimmt noch größere Gefahren mit sich gebracht.
Die Amerikaner marschierten von Bamberg, Forchheim, Bubenreuth über den Burgberg in die Stadt ein. Wir wären „ unserem Feind „ direkt in die Hände gelaufen. Die amerikanische Army forderte eine kampflose Übergabe der Stadt, jeglicher Widerstand sei einzustellen. Doch 120 Leute der SS einschließlich Freiwilligen, wollten nicht aufgeben. Es gab zähe, schwierige Verhandlungen, mit dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Ohly und Oberstleutnant Werner Lorleberg, bevor es zu einer Bereitschaft bestand, die Stadt kampflos zu übergeben. Werner Lorleberg äußerte:“ Ich bin bereit den Widerstand einzustellen, aber nur im Hinblick auf die Kliniken und vielen Lazarette Ich weiß ich habe mein Leben verwirkt.“
Die kampflose Übergabe Erlangens am 16. April 1945, bewahrte die Stadt vor unvorstellbaren Folgen. Erlanger Bürger an ihrer Spitze, Oberbürgermeister Dr. Herbert Ohly, bewogen den Kampfkommandanten Oberstleutnant Werner Lorleberg, zu diesem Entschluss. Rücklings von seinen eigenen SS- Leuten wurde er, bevor es zur Übergabe kam, erschossen. Diese weise Entscheidung bewahrte allen Menschen in der Stadt ihr Leben. Auch mein junges Leben und das Leben meiner Familie wurde gerettet. Als Zeichen des Friedens und der Ergebenheit wurden weiße Betttücher geschwenkt und auf die Erde gebreitet. Die Stadt wurde von den Amerikanern besetzt. Binnen eine Stunde mussten die teuersten Villen der reichen Einwohner geräumt werden. Sie konnten nur das Nötigste mitnehmen. Wohnungen, Geschäfte, Kinos, Schwimmbäder wurden beschlagnahmt.
Plötzlich war alles Niemandsland. Mit Büchsenfleisch beladene Güterzüge wurden von der hungerten Bevölkerung geplündert. In der Spinner und Weberei wurden die Stoffballen und Garne zum Fenster hinaus geworfen. Viele bedienten sich.
Unsere Großmutter und unsere Tante vom Lande, aus Münchsteinach, Mittelfranken, Bayern kamen zu Fuß ca. 40 Kilometer mit schweren Rucksäcken, voll mit Lebensmittel gepackt, zu uns gelaufen. Mit ihren eigenen Augen wollten sie es sehen, wie es unserer Familie erginge und ob wir alle den Krieg gut überstanden hatten.
Ganz langsam kehrte wieder etwas Ruhe ein. Wir gewöhnten uns an den neuen Zustand der Besatzung. Wir Kinder suchten den Kontakt der Soldaten. In unserer Straße hielten Lastwagen der Army. Wir fragten nach „chewing gum“ und „chocolate.“ Mit uns hatten sie Mitleid beschenkten uns.
Unser Vater kam nach fast sechs Jahren Abwesenheit aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Für uns Kinder war er ein fremder Mann, ein Eindringling in unsere Familie. Das Leben fing langsam an, sich wieder zu normalisieren. Mein Vater machte sich für unsere Familie sehr nützlich. Dann wurde mein Vater krank und bekam Magengeschwüre. Trotzdem beorderte man ihn nach Nürnberg zum Rangierbahnhof. Dort musste er die Trümmer und den Schutt von den Schienen abtragen, damit die Züge wieder fahren konnten. Es war eine sehr schwere und harte Arbeit für einen erst zurückgekehrten abgemagerten Soldaten.
Ein neuer Lebensabschnitt begann. Ich kam in die Schule. Mein Schulweg war sehr weit, da die nahegelegenen Schulgebäude noch als Lazarette für die verwundeten Menschen dienten. An allem fehlte es. Den ganzen Sommer hindurch liefen wir barfuss, weil wir keine Schuhe hatten. Unsere Ernährung war noch schlechter als in der Kriegszeit. Deshalb waren wir alle unterernährt. In der Schule führte man eine Schulspeise ein, wobei wir täglich eine warme Mahlzeit erhielten. Wir erfuhren, dass diese Nahrungsmittel amerikanische Kirchen spendeten. Später hörten wir, dass diese „Care Pakete“ von unserer Kirche, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage waren.
Einmal bekamen wir in der Schule von Jugendlichen aus Amerika Geschenke geschickt. Mir wurde eine türkisfarbene Geldbörse zugeteilt. In ihr befand sich eine Adresse von einem Mädchen aus Ohio. Jahrelang schrieben wir uns und es entstand eine tiefe Brieffreundschaft. Der Kontakt verlor sich erst nach unserer Hochzeit.
Die amerikanische Verwaltung bot uns Kinder und Jugendliche in Erlangen im „Kolloseum“ In der Henkestraße Freizeitaktivitäten an, genannt German Youth Activities, abgekürzt G.Y.A. Dort konnten wir kostenlos Kurse besuchen, wie Stenographie, Schreibmaschine, Englisch und Sport. Für uns hielten sie Tanzveranstaltungen und Spiele ab und zeigten uns Filme. Also alles was uns anhielt, Gutes zu tun.
Als Mitglied der Evangelischen Kirche wurde ich mit 13 Jahren konfirmiert. Wie es üblich war, bekam ich einen Konfirmationsspruch mit folgender Schriftstelle aus Jesaja 49: 157 „Ich will dein nicht vergessen, siehe in die Hände habe ich dich gezeichnet.“ Dieser Spruch begleitete mich mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag.
Da wir fünf Kinder waren und mein Vater ein bescheidenes Einkommen hatte, suchten wir uns alle eine Lehrstelle, um eigenes Geld zu verdienen. Da die wirtschaftliche Lage immer noch sehr schlecht war, waren die Arbeitsplätze knapp. Durch das Arbeitsamt wies man mir eine Stelle für eine kaufmännische Ausbildung zu. Bei einem Vorstellungsgespräch im größten Fachgeschäft Erlangens für Haushalt, Glas und Porzellan bekam ich sofort einen Ausbildungsplatz. Bis zum heutigen Tag ist es das größte Geschäft in der Hauptstraße 63-65, das unter anderem auch Werkzeuge, Maschinen, Baubeschläge verkauft. In meiner Lehrzeit durchwanderte ich, alle Abteilungen und wurde somit sehr fachkundig. Mit 17 Jahren, ich hatte gerade ausgelernt, wurde ich die Leiterin einer Filiale unserer Firma. Mit 18 Jahren kam ich wieder zurück in das Hauptgeschäft. Dort wurde ich Einkäuferin für den Bereich Haushalt, Glas, Porzellan und Geschenke. Man schickte mich auf Dekorations- Plakatschrift – und Führungskurse.
Bei einer öffentlichen Tanzveranstaltung im Redoutensaal in Erlangen, im Dezember 1959, lernte ich einen sehr netten jungen Mann kennen. Gleich erzählte er mir von seiner Kirche. Zu meinen besten Freunden sagte ich: „Er hat einen anderen Glauben. Daraus wird nichts. Ich bin evangelisch und bleibe meiner Kirche treu.“ Gerhard Meissner hieß der junge Mann, der treu und standhaft dem Herrn diente. Von ihm fühlte ich mich verstanden und geliebt. Nach solch einem Mann hatte ich gesucht. Der Herr erhörte meine Gebete und hat ihn mir zugeführt. Eine Woche vor unserer Hochzeit am 12. November 1960, ließ ich mich taufen. Wir knieten uns bevor ich taufen ließ zusammen nieder und betenden um eine Antwort. Ob es richtig sei einen Bund mit dem Herrn zu schließen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, hörte ich eine leise Stimme, die mir sagte; „Dient der Wahrheit, dient der Wahrheit „. Es war mein erstes Zeugnis, ich trage es bis zu meinem heutigen Tag in meinem Herzen und es wächst von Tag zu Tag.
Nach unserer Hochzeit, sie fand am 18. November 1960 statt, zog mein Mann von Forchheim nach Erlangen. Unser erstes gemeinsames zu Hause, war ein Zimmer von 9 Quadratmeter. Wir waren sehr glücklich, unser erstes gemeinsames Ehejahr in unserem bescheidenen Heim, zu verbringen. Noch herrschte eine große Wohnungsnot. In der Gemeinde Erlangen, waren wir das erste Ehepaar. Mein Mann Gerhard, wurde der erste Leiter der Nebengemeinde und die Gemeinde fing an zu wachsen. Nach und nach holte er auch seine leiblichen Geschwister von Forchheim nach Erlangen, so wurde Erlangen zur einen Hauptgemeinde.
Wir dienten in sehr vielen Berufungen, mit großer Freude dem Herrn. Mein Mann war acht Jahre Distriktspräsident, ich 12½ Jahre die Leiterin der Frauenhilfsvereinigung im Distrikt Nürnberg. Da wir am Anfang klein an Zahl waren, hatte ich immer mehrere Berufungen gleichzeitig, es kam auch vor, dass ich sechs Berufungen auf einmal hatte. Es war oft eine sehr große Herausforderung für mich, aber ich habe dabei sehr viel gelernt. Der Herr ließ mich wachsen, dafür danke ich, von ganzem Herzen. Wir durften Werkzeuge des Herrn sein. Am Aufbau seines Reiches in unserer Gemeinde Erlangen und auch im Pfahl Nürnberg dabei zu sein. Unsere Konferenzen fanden des Öfteren in Erlangen im Redoutensaal statt, dort wo ich meinen Mann bei einer Tanzveranstaltung das erste Mal traf. Das war für mich immer ein besonderes Erlebnis.
Wir haben einen Sohn Markus, er wohnt in Wuppertal und eine Tochter Martina sie wohnt in ganz in meiner Nähe, in der nächsten Ortschaft.
Nach 35 Jahren verließ ich meinen Arbeitsplatz um mit meinen Mann auf Mission zu gehen Wir hatten immer den Wunsch in unserem Herzen dem Herrn zu Dienen und eine gemeinsame Mission zu erfüllen. Der Herr gab uns noch die Gelegenheit im Tempel zu wirken. Mein Mann Gerhard wurde von Präsidenten Thomas S. Monson zum Ratgeber in die Tempelpräsidentschaft, nach Frankfurt berufen. Trotz Gerhards schwerer Krankheit konnten wir 26 Monate dem Herrn in seinem Heiligen Haus dienen. Dann wurde mein Mann für immer nach Hause gerufen.
Mein Leben war geführt und wurde gelenkt, der Herr hat uns und mich nicht vergessen, „ Siehe in meine Hände habe ich dich gezeichnet.“ Ich möchte mit den Worten enden: Suchet das Himmelreich zu Erlangen“ Erlangen ist und bleibt für mich eine besondere Stadt. Alle Geschehnisse und Ereignisse mussten so sein, damit sich das Wort des Herrn erfüllen konnte und erfüllen kann.
Ich war beim Lesen sehr berührt und danke Ihnen für Ihre Lebensgeschichte. Ich bin 1946 geboren und habe immer gerne meinen Eltern zugehört, die aus ihrem Leben zur Zeit des Krieges berichteten. Vielen Dank von
Schwester Strohmeier