Neu Alexandrowka, Luck, Polen

Ich, Helene Frieda Steckmann, geborene Urbansky, bin geboren am 7.August 1924 in Neu-Alexandrowka, Kreis Luck, Polen. Ich bin die Tochter von Josef Urbansky geboren am. 2.August.1899 in Nymer, Polen. Mutter: Julianna Urbansky, geborene Tischer, am 28.Januar1895 in Karolinowka, Polen. Ich bin das zweite von vier Kindern meiner Eltern. Meine Eltern lebten seit ihrer Vermählung 1921 als Bauersleute in Neu Alexandrowka bis zu ihrer Rückkehrwanderung 1939 ins deutsche Reich.

Mein Urgroßvater wurde 90 Jahre alt. Ich kann mich noch ein wenig an ihn erinnern, wie er auf dem Sterbebett lag. Mir ist heute beim Schreiben so richtig bewusst geworden, was dieser alte Urgroßvater, den ich noch ganz wenig in Erinnerung habe, für uns getan hat und dafür bin ich ihm dankbar. Die Menschen damals hatten nicht nur schwer gearbeitet, sparsam gelebt, sie hatten auch einen starken Glauben an Gott. Denn es hat schon immer geheißen: Wo die Not am größten, ist Gott am nächsten, und das ist wirklich wahr, das hat sich schon oft bewahrheitet.

Mein Großvater väterlicherseits war Orthodoxe, ich habe meinem Großvater oft als kleines Mädchen bei seinem Morgengebet zugesehen, wie er vor einem schönen Bild, das die himmlische Herrlichkeit darstellte, stand und betete. Morgens und abends bekreuzigte er sich vor dem Bild. In der Passionszeit wurde streng gefastet, da gab es kein Fleisch noch tierisches Fett, die Mahlzeiten wurden mit Öl gekocht. Zum Osterfest ist Kuchen gebacken worden, Fleisch angerichtet, Eier gekocht und gefärbt, so wie es jeder Familie möglich war. Mein Großvater starb etwa 1941 mit über 60 Jahren. Meine Großmutter starb etwa 10 Jahre vorher, ehe ich in die Schule kam. Die Oma hatte ich gern. Als ich noch so klein war, dass ich noch nicht richtig sprechen konnte, und die Oma Sauerkraut gekocht hatte, soll ich die Oma am Rockzipfel so lange gehalten haben und ihr nachgelaufen sein und gebettelt haben: „Baba, Pischta, Baba, Pischta“ bis sie mich gefüttert hatte; so gern mochte ich Sauerkraut .

Die Großeltern mütterlicherseits: Großvater starb als ich noch nicht in der Schule war. Meine Mutter erzählte, wie streng ihre Eltern waren. Jeden Samstagabend hatte der Vater die Bibel gelesen. Da musste alles still dasitzen und zuhören. Wehe, wenn eins von den Kindern – und es waren 11 – nicht anwesend war. Das holte er mit dem Riemen und es gab einen Denkzettel. Großvater war sehr eigensinnig und stur. Im ersten Weltkrieg mussten die Großeltern mit der Familie die Front räumen und mussten für eine Zeitlang auf einen Gutshof. Dort arbeiteten sie, damit sie etwas zum Essen hatten. Alles war schön und gut, aber die Glocke nach der die Menschen auf die Arbeit gehen mussten und nach der sie aufhören konnten, das passte meinem Großvater überhaupt nicht. Er arbeitete seine Stunden, aber er ging zur Arbeit, wann er wollte und hörte auf, wann er wollte. Wenn es zur Mittagszeit geläutet hatte und die Tagelöhner nach Hause gingen, blieb der Großvater auf dem Feld und arbeitete weiter. Nachmittag, wenn es wieder geläutet hat, die Menschen aufs Feld gingen, kam mein Großvater nach Hause. Nach der Glocke zu arbeiten, das tat er nicht.

Die Großmutter lebte bis 1945. Nachdem der Krieg zu Ende war, sammelten die Polen die alten deutschen Leute zusammen und brachten sie um; dabei war auch meine Großmutter. Vor dieser Oma habe ich mich als Kind gefürchtet. Sie hat mir nichts getan. Ich war sehr sensibel und sie war eine harte Frau. Sie hatte elf Kindern das Leben geschenkt und auch viel durchgemacht. Wahrscheinlich hatte diese Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte, sie so ernst und hart gemacht wie ich sie empfunden habe. Es heißt und es ist wahr, was die Alten sagen: Den Auswanderern bracht es den Tod, die zweite Generation hatte die Not, die dritte Generation hatte das Brot. Meine Eltern waren die dritte Generation. Ich bin 1924 geboren, bin somit die vierte Generation.

Meine Eltern vermählten sich 1921, am 24. Juni in der evangelisch-lutherischen Kirche in Rozyszcze, Kreis Luck, Polen. Sie lebten bis 1940, bis zu ihrer Rückkehrwanderung ins Deutsche Reich, als Bauersleute in Neu-Alexandrowka. 1922 kam mein älterer Bruder Gustav Herbert zur Welt. 1924 kam ich, Helene Frieda, zur Welt, 1926 erblickte meine Schwester Amalie Natalie das Licht der Welt, 1928 folgte mein jüngster Bruder Edmund.

Die schönste Erinnerung aus meiner Kindheit war die Weihnachtszeit. Wir waren damals nicht so aufgeklärt wie die Kinder von heute es sind. Wir glaubten alles so richtig kindlich. Wir träumten so richtig schön in unserer Kindheit vom Erzählen unserer Mutter. Sie erzählte uns die Geschichte von der Geburt Jesu bis zur Kreuzigung. Wir beteten zum Christkind und lernten dabei, das Christkind so richtig zu lieben. Heiligabend, wenn es an der Tür klopfte, o weh, da wagten wir kaum noch zu atmen; wir verkrochen uns so gut es ging hinter Mutters Schürze. O, was waren wir da für brave Kinder! Nachdem der Weihnachtsmann weg war, bevor wir ins Bett gingen, sagte die Mutter, die Jungen sollten ihre Mütze und die Mädel ihr Taschentuch raus legen, damit das Christkind was drauf lege, dann ging es zu Bett. Während wir schliefen schmückten unsere Eltern den Tannenbaum. Der Tannenbaum hing an der Decke. Unter dem Tannenbaum waren die Mützen von den Buben und die Taschentücher von den Mädeln. Überall lag was drauf. Die Buben hatten Pferdchen aus Lebkuchen, die Mädchen Puppen, Enten, Schäfchen aus Lebkuchen. Das Lebkuchengebäck war so schön mit buntem Zuckerguss verziert, dass ich in Deutschland so was Schönes nicht gesehen habe. Als die Eltern mit allem fertig waren, zündeten sie die Kerzen an, machten das Licht aus, dann weckten sie uns: „Wacht auf, das Christkind war da! Seht, was es gebracht hat!“ Wir, mit unseren verschlafenen Augen, konnten kaum fassen, was geschehen war als wir zu uns kamen und sahen den leuchtenden Tannenbaum im dunklen Zimmer. Wir starrten den Tannenbaum an, der ja so schön war. Was da alles dran hing, das war wunderbar, das kann ein Kinderherz erstmal gar nicht fassen. Wir bewunderten das Christkind, dass es sich so abplagen musste bis alles fertig war. Unsere Eltern mussten wahrscheinlich viel Freude an der Vorbereitung gehabt haben, denn jedes Jahr war es das Gleiche. Was haben wir uns gefreut und unsere Eltern mit uns!

Wir lebten glücklich und zufrieden; wir Kinder wuchsen heran, hatten liebvolle, sorgende Eltern, die in ihrer Erziehung auch streng waren, was man auch zu der Zeit nicht anders kannte – nur Gehorsam, Anständigkeit, damit man den Eltern keine Sorgen machte. Ich bin dankbar für unsere Eltern, die uns in gemeinsamer Liebe im Evangelium und Glauben an Jesus Christus erzogen haben. Soweit mein Gedächtnis zurückreichen kann, war mein innerlicher Wunsch, mit Jesus durchs Leben zu gehen. Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mir die Wege Jesu schon früh gezeigt haben.

1939, am 18. Mai, am Himmelfahrtstag, bin ich konfirmiert worden. Der Spruch auf meinem Konfirmandenschein, der mir beim Segnen vorgelesen wurde, steht in Psalm 37 Vers 37: Bleibe fromm und halte dich recht, denn solchen wird es zuletzt wohl gehen. Dieser Spruch begleitet mich schon 47 Jahre und er wird mich bis an mein Lebensende begleiten. Ich glaube, was er aussagt hat mir auch schon viel Kraft gegeben, in schwe­ren Stunden durchzuhalten.

Als ich 15 Jahre alt war, am 1. September 1939, brach der Krieg zwischen Deutschland und Polen aus. Der Feldzug dauerte nur 14 Tage, aber was in diesen 14 Tagen geschah hatte die Welt bis dahin noch nicht gesehen. Die deutsche Bevölkerung, die in Polen den Urwald gerodet und seit vier Generationen dort als polnische Bürger gelebt hatte, die dort in die Schule gegangen war und beim polnischen Heer gedient hatte, wurde mit Beginn des Krieges von heute auf morgen als Feind angesehen und das Gemetzel ging los unter der Zivilbevölkerung – Verhaftungen, ganze Familien auf bestialische Weise erschlagen und andere schreckliche Gräueltaten. Zum Glück dauerte der Krieg nur 14 Tage, sonst wären wir alle abgeschlachtet worden.

Nach dem deutsch-polnischen Feldzug sind von der anderen Seite die Russen in Polen einmarschiert. Deutschland ging bis an die Weichsel und nicht weiter. Deutschland teilte mit Russland Polen auf. Unsere Heimat fiel an Russland. Das war Mitte September 1939. Noch im gleichen Jahr begann die Vorbereitung für die Rückkehr der Deutschen aus Polen ins deutsche Reich. Im Oktober/November hörte man, dass Deutschland mit Russland einen Vertrag gemacht hatte, die deutschen Menschen aus dem russisch besetzen Gebiet von Polen auswandern zu lassen. Der erste Transport mit Frauen, Kleinkindern und alten Menschen war Heiligabend Richtung alte Heimat abgefahren. Meine Mutter und meine jüngeren Geschwister (10 und 12 Jahre alt) waren auch dabei. Mein Bruder (16 Jahre) und ich (15 Jahre) sind an Silvester mit dem nächsten Transport ausgewandert. Mein Vater verließ Heilige drei Könige 1940 Haus und Hof bei 40° Kälte mit Pferd und Wagen. Schweren Herzens verließen wir unsere alte Heimat und wanderten einer neuen zu, von der wir nicht viel wussten. Wir wussten nur eins: Wir fahren ins deutsche Reich, da wo niemand uns etwas zuleide tun kann.

1940 war ein sehr strenger Winter. Wir sind bei klirrender Kälte gewandert. Wir kamen in verschiedene Lager. Mutter mit den jüngeren Geschwistern kam nach Leipzig, mein Bruder und ich kamen nach Merane, mein Vater kam nach Lizmanstadt. Das Suchen begann. Es dauerte zwei Monate bis wir uns durch Briefe gefunden hatten und zusammengeführt waren. Gott war uns gnädig. Er führte uns, meinen Vater, meine Mutter, Schwester und mich wieder zusammen. Im März 1940 sind wir als geschlossene Familie ins deutsch besetzte Gebiet Polens, ins Wartheland, gebracht und dort auf polnischen Höfen angesiedelt worden. Das war auch nicht ganz richtig, was die deutsche Regierung gemacht hatte. Polnische Familien wurden von ihrem Haus und Hof weggebracht. Sie mussten alles stehen und liegen lassen und kamen in ein Gebiet von Polen, das Prektorat genannt wurde. Dort mussten sie von 1940 bis 45 als unsere Knechte und Mägde leben.

Als die deutschen Truppen 1944 immer mehr zurückgedrängt wurden, erreichte uns der Rückzug der Front Anfang Januar 1945 im Warthegau. Da mussten wir wieder von unseren angesiedelten Höfen. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich flüchteten mit Pferd und Wagen in einem Transport von vielen Menschen. Aber wir kamen nicht weit, nur etwa 30 Kilometer, da kamen die russischen Flieger im Tiefflug und beschossen uns. Wir mussten zurück auf die Bauernhöfe, wo wir fünf Jahre gelebt hatten. Mit viel Angst fuhren wir zurück. Inzwischen waren die polnischen Bauern auf ihre Höfe zurückgekehrt. Wir waren in eine jämmerliche Situation geraten. Auf den Straßen russische Panzer und hamsternde Polen. Deutsche, die nicht so gut zu den Polen waren, hatten die Polen unterwegs abgefangen und vor den Frauen und Kindern erschossen.

Wir, mein Vater, Mutter, meine Schwester und ich waren die ganze Nacht bei eisglatter Straße gefahren und immer wieder von Russen angehalten worden. Hätte mein Vater nicht so gut russisch und polnisch sprechen können, dann weiß ich nicht, was mit uns passiert wäre. Gegen Morgen kamen wir in das Dorf, da wir gewohnt hatten. Wir fürchteten uns sehr. Wenn ich an meinen Vater denke – was war das für ein tapferer Mann. Er ging zu den Polen, die im Dorf waren und uns kannten. Er stellte sich ihnen und fragte, was jetzt passieren soll. Die Polen versicherten ihm, es wird uns niemand etwas zuleide tun, wir sollen nur auf den Bauernhof zurückgehen, es wird uns nichts geschehen. Und so war es auch. Der polnische Bauer hat uns vorübergehend aufgenommen bis über uns entschieden wurde, was mit uns geschehen sollte. Ich war damals 21 Jahre alt. Mit 21 Jahren habe ich zum ersten Mal erfahren, dass Mensch sein sich lohnt. Mein Vater war ein guter Mensch – ehrlich, tapfer, nicht streitsüchtig, hilfsbereit, geduldig, nicht geizig – und hatte einen großen Glauben an Gott.

In den ersten drei Tagen nach dem Einmarsch der Russen war es furchtbar: Erschießungen, Vergewaltigungen, Verschleppungen. Die deutschen Menschen waren ihrem Schicksal überlassen. Am schlimmsten war es für die Mütter mit kleinen Kindern: nichts als Elend, Hunger, Jammer. Viele ältere Menschen haben sich selbst das Leben genommen. Meine Mutter und ich sind in ein Lager gebracht worden. Am gleichen Abend stürmten etliche Polen mit Pistolen ins Lager. Alles musste am Platz bleiben. Wir wurden für den Transport am nächsten Morgen aufgeschrieben: Männer bis 60 Jahre, Frauen ohne Kinder und Mädchen.

Am Morgen des folgenden Tages mussten wir antreten. Es war ein Transport von 75 Menschen. Mein Vater und ich sagten der Mutter Lebewohl, die krank und schwach im Lager zurück geblieben war. Wir wussten nicht, wohin es gehen sollte. Der Transport setzte sich im Schnee zu Fuß in Bewegung. Wir marschierten den ganzen Tag, 30 Kilometer bis zur Kreisstadt Gostynin. In der Dämmerstunde erreichten wir das Gefängnis. Die Männer wurden hinter einen Drahtzaun gebracht, dann einzeln ins Gefängnis zum Verhör geführt und dabei geschlagen. Aus jedem wollten die Polen einen SS-Mann her ausprügeln. Ich drängte mich unauffällig an den Drahtzaun, um mit Vater ein paar Worte zu sprechen. Er kam auch näher und sagte mir, was ich bei meinem Verhör sagen sollte, damit wir uns nicht widersprächen. Bis wir Frauen dran kamen war es schon spät abends. Mit uns Frauen sind die Polen nicht so hart umgegangen. Wir 21 Frauen sind in einer Zelle untergebracht worden. O was hatte ich da gebetet! Ich habe nur geantwortet, wenn ich gefragt worden bin, ich hatte mich ganz in die Hände meines himmlischen Vaters fallen lassen. Von morgens bis abends flehte ich im Inneren um Gnade und Beistand, um Schutz und Erbarmen; ich hängte mich mit Leib und Seele, mit all meiner Kraft an eine noch damals geglaubte Hoffnung. In der Zeit der größten Gefahr waren wir in einem Gefängnis; dort konnte man nicht an uns heran. Die Frauen und Mäd­chen in der Freiheit wurden furchtbar geschändet.

Wir waren drei Tage im Gefängnis, dann sind wir Frauen zur Arbeit in einer Nervenheilanstalt bei Gostynin eingeteilt worden, und so blieben wir dort von 1945 bis 1950. Bald danach holte ich meine Mutter und Schwester vom Bauern zu mir nach Gostynin. 1948 kam auch mein Vater nach dreijähriger Zwangsarbeit zu uns. Von 260 Mann, die 1945 mit meinem Vater nach Warschau kamen, überlebten nur zwei: mein Vater und ein Herr Rode. Im Warschauer Lager starben die deutschen Menschen an Typhus und vor Hunger, täglich bis zu 60 Personen. Begraben sind sie in der Innenstadt von Warschau in Massengräbern.

Am 17. Februar 1949 verstarb meine Mutter, die ich so sehr liebte, mit 54 Jahren. Sie war sehr herzleidend, dazu hatte sie noch Asthma. Von 1945 bis 1950 haben wir Deutsche nur für das Essen gearbeitet, ab 1950, als die Ostzone einen Führer bekam – das war Wilhelm Pieck – ab da ist es uns Deutschen in Polen besser gegangen. Wir bekamen ein Monatsgehalt, wie es auch die Polen erhielten. 1950 sind wir Deutsche von der Nervenklinik nach Sokolov, Kreis Gostynin, auf einen Gutshof zur Arbeit gebracht worden.

1951 sind mein Vater, meine Schwester mit Mann und ich zusammen mit drei anderen Familien zur Arbeit nach Pommern, dem deutsch-polnisch besetzten Gebiet, wieder auf einen Gutshof gezogen. Dort fühlten wir uns ein klein wenig heimischer. Dort konnten wir offen deutsch sprechen, denn die Einheimischen waren Deutsche, da ist es uns schon besser gegangen. Von 1951 bis 1957 lebten wir in Reblin, Kreis Stolp. Aber die Sehnsucht blieb in uns wach, endlich da neu zu beginnen und zu leben, wo wir hingehörten, nach Deutschland; denn wir sind deutsch, wir fühlen deutsch, unsere Sitten und Gebräuche sind noch deutsch. Es war eine brennende Sehnsucht, den Tag zu erwarten, an dem wir frei sein würden. Inzwischen meldete sich mein jüngster Bruder Edmund, dass er am Leben ist und vorübergehend im württembergischen Kreis Heidenheim, in Hermaringen, bei einem Bauern als Knecht eine Heimat gefunden hat. Mein Bruder bemühte sich durch das Rote Kreuz, uns die Einreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen.

Der 7.Juni 1957 war der langersehnte Tag, an dem wir die polnische Grenze passieren konnten. O, was war das für ein Gefühl, dieses Land für immer zu verlassen und nie wieder zurückkehren zu müssen! Das war wie ein Traum. Es war uns, als ob wir mit unserer Ausreise eine große Last abgelegt und dort gelassen hätten. Wir sind frohen Mutes heimwärts gefahren. Zwei oder drei Tage waren wir mit dem Zug gefahren bis wir nach Friedland bei Göttingen kamen. Als sich der Zug Friedland näherte, lief er ganz langsam in den Bahnhof ein; die Friedlandglocken im Durchgangslager hörte man schon von weitem läuten. Das Läuten der Glocken versetzte einen jeden in ein unbeschreibliches Gefühl. Viele konnten ihren Tränen keinen Einhalt gebieten. Freude über Freude, Umarmungen, Glückseligkeit, dass endlich das Gewesene zu Ende war!

Im Durchgangslager erwartete uns eine Begrüßung durch einen bedeutenden Politiker. Wir wurden seelisch und leiblich gestärkt. Wir wurden registriert, ärztlich untersucht; das dauerte auch ein paar Tage. Nachdem konnten wir von Verwandten abgeholt werden oder wir wurden in die Bundesländer geschickt, die für uns Unterkünfte hatten. Wir konnten neu beginnen.

Zwölf bis fünfzehn Jahre sind wir wie die Wogen des Meeres hilflos hin- und hergetrieben worden. Nun wollten wir neu beginnen, mit neuer Kraft und frischem Mut. Mein Vater nahm eine Arbeit in Hermaringen bei einer Firma Diener auf und fühlte sich schon damals sehr kraftlos. Er war bis ungefähr 1956 immer ein kräftiger, gesunder Mann, niemals ernsthaft krank. Nach genau 14 Tagen bei seiner neuen Arbeit brach er eines Morgens um acht Uhr bewusstlos zusammen. Nach weiteren 14 Tagen nahm mein Vater wieder die Arbeit auf, schon nach einer Stunde brach er hilflos zusammen. Vom Betrieb aus wurde er zum nächstliegenden Arzt gebracht; der überwies ihn ins Krankenhaus. Mittags wartete ich mit dem Essen auf Vater, er kam aber nicht. An seiner Stelle kam der Hausarzt. Er teilte mir mit, dass mein Vater im Krankenhaus sei und dass ich auf alles gefasst sein soll, bei meinem Vater stehe Leben und Tod zusammen, er habe Leukämie. Der schöne Traum vom Neubeginn war zu Ende. Der Mensch denkt und Gott lenkt.

Nachdem mein Vater wusste wie krank er war, konnte er es nicht fassen, mit 58 Jahren nicht mehr arbeiten zu können, nur den Kindern zur Last zu fallen. Auf Hilfe angewiesen zu sein, dieser Gedanke überwältigte ihn. Er sprach nicht mehr, sah vor sich hin. Inzwischen suchte ich mir Arbeit, damit ich für unseren Unterhalt sorge, damit wir leben könnten. Ich konnte meinem Vater helfen, indem ich ihm immer wieder versicherte, dass ich noch für ihn da bin, dass er sich keine Sorgen machen brauche, dass er sich auf mich verlassen kann. So ging das zwei Jahre lang. Zum Schluss brauchte der Vater Pflege während ich arbeitete. Da zog ich mit meinem Vater zu meiner Schwester nach Ettleben bei Schweinfurt. Dort pflegte meine Schwester unseren Vater bis zu seinem Tod. Mit 59 Jahren verstarb am 9. Dezember 1959 die dritte Generation der Auswanderer, mein Vater Josef Urbansky. Mein Vater hinterließ mir mit seinem Tod eine große Einsamkeit, die ich schwer überwinden konnte.

1960 kam mein Mann aus Afrika, der Krieg hatte ihn dorthin verschlagen. Und das war auch ein vom Schicksal schwer geprüfter Mensch! Ich war damals 35 Jahre alt. Ich musste mich entscheiden, eine Ehe einzugehen oder weiter in meiner Einsamkeit zu bleiben. Weil ich des Alleinseins müde war, wollte ich nur noch eine gute Ehefrau und Mutter werden. Wir haben 1961 geheiratet. Bald danach stellte ich fest, dass mein Mann mich nur geheiratet hatte, um nach außen hin ein geordnetes und geregeltes Leben zu führen, aber in Wirklichkeit wollte er niemals auf seine Freiheit verzichten. Er belog und betrog mich vom ersten Augenblick an. Ich konnte es zuerst gar nicht glauben, denn ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so einen Menschen mit so einer schlechten Tugend gesehen noch gekannt. Ich hatte gehofft, dass er sich eventuell noch zum Guten ändern könnte, aber als wir schon zwei Kinder hatten, wurde er nur noch schlimmer. Als ich noch immer ruhig und gelassen wirkte, obwohl ich in großer Sorge und Kummer war, fing mein Mann noch an, brutal zu werden Eines Tages, es war Sommer, nahm ich meine Kinder. Isabella war zwei Jahre, Conny ein Jahr. Mit ihnen bin ich ins Feld gegangen, wo ich ganz alleine sein wollte und habe mich an den Gott gewendet, an den ich von klein an geglaubt hatte, dem ich treu gewesen bin, der mich in den schweren Kriegszeiten vor allem Übel bewahrt hatte, den ich oft um einen guten Ehemann bat. Ich war voller Herzeleid, ich fühlte mich zum ersten Mal von meinem Gott alleine gelassen. Ich fragte mich, wieso er so etwas zulassen konnte; sogar Zweifel überfiel mich. Aber da fasste mich das Grauen, denn ich wusste, dass ich nicht zweifeln darf Mir fiel sofort Abraham ein, wie Gott ihn prüfte, obwohl Abraham ein so großer Gottesverehrer war. „Nein, nein, es ist nur eine Prüfung, du musst stark sein“, redete ich mir ein. Ich hatte sofort erkannt, dass sich Satan in meine Gedanken eingeschlichen hatte. Dann bat ich wieder um Vergebung, Hilfe und Beistand. Ich fing an zu begreifen, dass mir Gott eine Last auferlegt hatte, um mich in meinem Glauben zu prüfen.

Da kam mein Mann eines Tages von der Arbeit nach Hause und hatte große Schmerzen. Er ging zum Arzt, der verordnete Bettruhe. Niemand wusste zu der Zeit, dass sich diese Bettruhe zehn Jahre, bis zu seinem Lebensende, ausdehnen würde. Dann betete ich wieder: „Himmlischer Vater, das habe ich nicht gewollt.“ Zehn Jahre litt mein Mann und wurde noch verbitterter als zuvor.

1975 schloss ich mich der Kirche Jesu Christi an. Das war noch ein zusätzlicher Teil, worunter ich zu leiden hatte. Aber dieses Leiden nahm ganz anderen Charakter an. Nachdem ich getauft war, war es so, als hätte ich einen Schutzmantel an, es drang nicht mehr nach innen. Mein Inneres blieb still und ruhig. Ungefähr ein halbes Jahr bevor mein Mann starb konnte ich mit ihm sprechen, dass er mir zuhörte. Was er nicht sah war, dass mein Herz zerrissen und zerfetzt war und ich keine Gefühle für ihn hatte. So traurig es war, aber es war die Wahrheit. Er war mir sehr fremd geworden, nach 21 Jahren Eheleben nur Ablehnung. Ich liebte meine Kinder über alles. Mein Mutterglück war so groß, dass ich immer wieder, zu jeder Zeit, meinem Mann vergeben hätte wegen der Kinder. Mein Herz brach, wenn ich Eheleute gesehen hatte, die sich liebten und friedlich miteinander durchs Leben gingen. Ich dagegen fühlte mich wie von einer dicken Mauer umgeben und eingeschlossen. Mein Mann war sehr lieblos, nicht mal seine Kinder liebte er. Wie sollte er die Mutter seiner Kinder lieben, die seiner Meinung nach schuld war, dass Kinder da waren!

Die Krankheit meines Mannes wurde immer bedrohlicher. Im Dezember 1981, vier Monate vor seinem Tod, hatte mein Mann „den Schwarzen“, wie er sagte, gesehen, der zweimal gegen Morgen am Fenster, da wo mein Mann schlief, dreimal heftig am Fensterrahmen geklopft. Einmal kam er mit Zylinder, beim zweiten Mal ohne, mit einer Glatze. Mein Mann sagte, er habe nicht geschlafen, er habe ihn zweimal deutlich gesehen. Daraufhin sagte mein Mann: „Der Tod geht schon ums Haus.“ Er hatte nun gesehen, wer ihn zum Gehen ruft. Er seufzte öfter schwer und sagte: „Hoffentlich könnt ihr mir vergeben.“ Ich merkte, wie schwer es ihm war, denn er wusste wie schwer die Schuld war, die er auf sich geladen hatte, dass er so nicht vor Gott treten konnte. Ich versuchte auf schonende Weise, ihm vom Evangelium zu erzählen.

„Gott ist so gnädig, dass er dem ungläubigen Teil so viel Gnade schenkt, dass die ganze Familie vor Gott bestehen kann; denn es ist sein Plan und sein Wille, dass wir mit unserer ganzen Familie wieder zurückkehren können, um bei ihm weiterzuleben.“ Ich fügte noch hinzu, dass ich niemals etwas anderes gewollt hatte. Darauf sagte mein Mann: „Jetzt lohnt es sich, weiter zu leben.“ Er hat an die Schrift und was darin steht, geglaubt. Es gelang mir, ihn von der Wahrheit zu überzeugen. Ungefähr eine Woche bevor mein Mann starb, bat er mich, ich sollte mit ihm beten und für ihn beten. Ich betete für ihn, aber nicht mit ihm, denn ich wusste nicht ob er es ehrlich meint. Er war schon sehr schwach und wollte sterben. Eines Tages fragte er verzweifelt: „Sag mal, jetzt bete ich, dass ich sterben will. Warum kann ich nicht sterben?“ Ich sah ihn an und wusste, dass ich ihm eine Antwort geben musste. Es war mir so als ob ich eine Eingebung erhalten hätte. Ich sagte: „Karlheinz, du musst umkehren, Gott wartet auf dich. Er will dich nicht quälen. Er schenkt dir Gnade. Er will dich nicht tot, sondern lebend. Er wartet auf dich.“ Ich glaube mit diesen Worten habe ich ihm das rettende Seil zugeworfen, woran er sich festhalten konnte. Gott hat ihn wirklich so lang am Leben gehalten bis er sich Ihm zugewendet hat.

Das war die letzte Frage, die mein Mann an mich gestellt hatte und das war ein Tag vor seinem Tod. Die letzte Nacht war sehr schwer, sein Herz tat ihm so weh. Gegen Morgen sagte er die Worte, die er niemals zu mir über seine Lippen bringen konnte. Er sagte folgende Worte: „Du bist meine liebste, du bist mein Engel, du bist meine Beste.“ Da setzte er das Gespräch im Flüsterton fort und sprach über das Geheimnis. Ich hörte eine Weile zu, dann wollte ich wissen, über was für ein Geheimnis er sprach und fragte, was das für ein Geheimnis sei über das er spräche dann antwortete er mir klar und deutlich: „Ich weiß, dass du das Geheimnis kennst.“ Nach den letzten Worten wurde er ruhig und ist langsam eingeschlafen. Es war der 18. Mai 1982.

Ich war nun mit meinen Kindern allein. Gesundheitlich war ich schon gebrochen und knickte immer mehr zusammen. 1984 war ich 60 Jahre alt geworden. Nach zwei Monaten bekam ich einen Hirnschlag. Ich wollte nicht mehr leben, aber Gottes Wille ist nicht unser Wille; er führt mich oft durch dunkle Tiefen, dann lässt er wieder über mir die Sonne scheinen. Und so gehe ich an seiner Hand bis er mich heimwärts führen wird Ihm sei Lob und Ehre für den Schutz, den er mir mein Leben lang hat zukommen lassen. Dafür bin ich ihm immer dankbar und werd es auch bleiben bis an mein Lebensende.