Essen, Nordrhein-Westfalen
Ich heiße Christel Maring, geborene Kasulke, geboren am 7. 12.1937 in Essen, Nordrheinwestfalen. Mein Vater hieß Willi Kasulke, meine Mutter Anna Frieda Schecht. Ich bin die älteste von sechs Kindern. Wir lebten alle in Essen. Der Vater arbeitete bei Krupp und brauchte dadurch nicht in den Krieg ziehen, weil Krupp Kriegsmaterial hergestellt hatte. Er hatte in dem U-Bootbau gearbeitet. Er war ein guter Rechner. Meine Mutter war Hausfrau. Da waren dann schon drei Kinder
Wir wohnten in der zweiten Etage, da gab’s aber nicht so Häuser wie es heute ist. Die Toilette war eine Etage tiefer. Wir hatten drei Zimmer: Küche, Schlafzimmer und noch ein Raum, in dem zwei Schränke standen. Zwischen den zwei Schränken war noch Platz, da standen die Koffer. Als der Krieg war und Bomben fielen, hat man die Koffer in den Keller gebracht, die dort vor den Bombensicher waren, aber nicht vor den Ratten und Mäusen. Eine Familie, die waren katholisch und die hatten bald Kommunion und das weiße Kleidchen, das auch da unten war, das hatten die Mäuse und Ratten außer den Kragen alles weggefressen. Dann war es auch nicht möglich, dass alle Koffer da unten blieben, also wurden die wieder nach oben geschafft, genau zwischen diesen beiden Schränken.
Wenn die Sirenen losgingen, da war ich so zwei drei Jahre alt. Da hatte ich ein kleines Köfferchen und meine Puppe unter dem Arm und Mutter hatte ihre Handtasche, wo alle ihre Unterlagen drin waren, Papiere und so weiter. Der Jüngste war noch ein Säugling, den hatte die Mutter auf dem Arm, so gingen wir in den Keller. Da kam eine Brandbombe auf unser Haus. Und diese fiel genau zwischen die beiden Schränke, genau auf unsere Koffer. Dann hatten wir gar nichts mehr, nur das, was wir am Leibe hatten. Meine Mutter hatte ihr Putzkleid an, hatte ihre Kinder geschnappt und in den Keller. Das Haus fing dann an zu brennen. Zwei, dreistöckige Häuser standen aneinander. Wenn man aus dem eigenen Haus nicht mehr heraus konnte, konnte man durch das Nebenhaus. Da hatten sie so durchgeschlagen, dass man da raus konnte. Soldaten hatten dann meine jüngste Schwester auf den Arm genommen. Die haben uns in die Schule gebracht, wo wir hausen konnten. Mein Vater hat einmal die Kellertüre aufgemacht und hat mich nach draußen genommen. Ich konnte noch nicht begreifen, was da passierte. Heute würde man sagen, ein Feuerwerk. Aber ich hatte keine Angst, weil mein Vater mich auf dem Arm hatte.
Von da aus kamen wir weg. Die drei Schwestern nach dem Teutoburger Wald. Da war auch meine Oma mütterlicherseits und eine Tante mit dem Sohn. Da waren Räume, die die Bauern zur Verfügung stellen mussten; die waren sehr klein. Und nur so und so viele Leute durften in diesen Wohnungen sein. Ich war die älteste, ich musste raus. Das war ein ganz entsetzliches Erlebnis. Ich musste abends immer zu einem anderen Bauern hin. Die hatten wohl auch Kinder. Aber die hatten auch keine Zeit für mich, weil es ein Bauernhof war. Das war sehr, sehr entsetzlich für mich, dass ich Mutter, meine Geschwister und die Oma abends verlassen musste. Gegenüber von der Wohnung war so ein kleiner Krämerladen. Da bin ich so gerne hingegangen, die hatten so Zopfspangen und so einen Kram. Es war ein kleiner Ort, ich nehme an, dass das so Wohnungen von den Bauern war. Das waren so Altenteile, für alleinstehende Schwestern, die nicht verheiratet waren, die dann so eine Wohnung hatten. Die mussten das dann wohl frei machen, damit die Evakuierten da hinein konnten.
Dann sind wir nach Württemberg gekommen, nach Baustetten, die Stadt heißt Laupheim, Kreis Biberach, in der Nähe von Ulm. Da bin ich dann in die Schule gekommen. Da waren dann auch Erlebnisse, die schon schlimm waren. Wir kannten kaum jemanden in diesem Dorf. Meine Mutter war sehr schüchtern, hatte Schuppenflechte und da traute sie sich nicht. Ich bin mit sieben in die Schule gekommen. Der Lehrer war Nazi. Da waren vier Klassen in einem Raum. Oft genug hat der Lehrer mich mit so einem Rohrstock über die Handflächen gehauen, das war natürlich schlimm, entsetzlich.
Dann waren wir schon vier Kinder. Mein Vater konnte uns dann besuchen. Dann kam mein Bruder zur Welt. Meine Mutter musste ins Krankenhaus. Der Kleine hatte einen Leistenbruch und ich musste bei den anderen Kleinen bleiben. Ich musste auf die Kinder aufpassen und anderntags hatte sie wohl nicht Zeit mir eine Entschuldigung für die Schule zu schreiben und ich kriegte wieder mit dem Rohrstock eines über die Hände.
Als der Krieg zu Ende war, mussten wir wieder nach Laupheim. Mein Vater hatte Diphtherie und wir mussten alle da hin, um geimpft zu werden. Und der Lehrer musste auf dem Bau arbeiten, und da habe ich immer geschrien: „Nazi, Nazi“, ich wusste, dass das nichts Gutes war. Meine Mutter war sehr einsam und traurig. Ein Stück weiter war eine Kaserne, die mussten dann weg. Tante und Mutter hatten sich einen großen Wagen angeschafft, mit Riesenrädern und zwei Deichseln. Damit sind sie immer in den Wald gegangen, haben Holz gesucht oder Tannenzapfen. Sie mussten ja mit irgendetwas heizen. Es gab noch kein Heizöl. Da habe sich diese beiden auch sehr abgeschleppt. Jetzt hatten wir diesen Wagen. Meine Mutter hatte einen Hexenschuss bekommen, die konnte gar nicht in die Kaserne hinein, sondern zwei Tanten. Die sind mit diesem Bollerwagen hingefahren, aber als sie hinkamen, war so gut wie alles weg. Die Bauern sind mit ihren Lastwagen da hin gefahren und haben die Kaserne ausgeräumt. Der eine zog den Teppich weg, der andere den Tisch, das ganze wertvolle Geschirr war schon alles weggeräumt. Da hieß es anderntags, ein Dorfschreier sagte, die Bauern sollten alles wieder zurückbringen, aber die Bauern haben alles versteckt. Wir hätten das, was wir hatten gar nicht zurückbringen brauchen, sondern nur die Bauern
In Ulm haben wir in einer Schule übernachtet, wir waren sechs Personen schon. Wir kriegten zwei Matratzen und eine Stelle, wo man heißes Wasser machen konnte, zum Baden für den kleinen. Für mich als Kind war es nicht ganz so schlimm, weil da mehrere Leute waren, die haben mich dann auch mitgenommen in den Zoo oder auf die Kirmes oder so. Aber wenn ich zurückdenke, für die Eltern musste das alles entsetzlich gewesen sein. Dann gab es wieder so eine Möglichkeit mit einem Lastwagen mit Anhänger weiter zu kommen. Das Auto war auch voll. Ich konnte erst gar nicht erkennen, denn da hinten war noch Platz, warum konnte man da nicht hin. Aber da war ein verletzter Soldat auf einer Pritsche, der war da hinten.
Dann kamen wir schon nach Essen. Vater konnte zuerst wieder bei Krupp anfangen. In die Wohnung in der zweiten Etage, darüber war das Dach, da regnete es herein. Alle Töpfe und Schüsseln, die man mittlerweile hatte, die wurden da aufgestellt. Es gab nur eine Heizung. Wir haben nur in einem Raum geheizt, obwohl mehrere Zimmer waren. Das war ein Haus, das uns nach dem Krieg zugeteilt worden ist und das noch stehen geblieben ist. Es gab nur einen schmalen Durchgang in der Straße, bis zu uns, zur zweiten Etage waren die Schuttberge. Vorne raus, die zwei Zimmer, da war gar keine Wand mehr. Da waren wohl Türen, die mein Vater besorgt hatte, aber die konnte man nicht aufschließen. Wenn meine Mutter da einmal einkaufen war, hat sie Ängste ausgestanden, dass wir vielleicht in die Zimmer gingen, die nach draußen gingen zur Straße und da rausfallen.
Es gab kaum etwas zu essen. Meine Mutter hat gehungert, damit wir was kriegten. Das war eine fürchterliche Zeit. In der Schule kriegte man so Quackerspeise, von den Amerikanern kam das. Einmal gab’s auch so Erbsensuppe. Ich mochte das nicht und meine Mutter hat geweint, weil sie uns nicht besseres bieten konnte. Vater sagte zu meiner Mutter. Dir zuliebe gehe ich noch einmal zur Zeche, da konnte man noch Geld verdienen. Dann sind wir nach Essen gezogen. Dort kriegten wir ein Häuschen von der Zeche mit einem großen Garten dran. Das war ja wirklich was dolles. Es gab ja nicht so viel und da konnte man im Garten anbauen.
Mit vierzehn wollte ich Schneiderin werden, aber es gab ja keine Lehrstellen, so wie heute. So konnte ich in einer Holzfabrik arbeiten. Die stellten so Tischlerplatten her und mit Furnieren wurde gearbeitet. Das war eine sehr harte Zeit weil es schwer war. Diese Arbeitsstelle wurde dann auch zugemacht und dann habe ich über eine Arbeitskollegin meinen Mann kennengelernt. Damals war ich neunzehn Jahre. Mit 23 habe ich geheiratet. Als ich arbeiten ging, kriegte ich ein bisschen Geld und durfte mein Geld behalten und habe die Eltern immer unterstützt, wenn ich einige Mark mehr hatte, habe ich der Mutti Geld für den Haushalt gegeben, weil der Vater war der einzige, der verdiente.
Ich habe viel von meinem Mann gehört, von seinem Charakter und alle redeten immer gut von ihm. Aber der war so schüchtern. Er war schüchtern und nach einem Kinobesuch als er mich dann nach Hause brachte, habe ich gedacht, hoffentlich küsst er dich jetzt nicht, denn ich mochte ihn ja nicht unbedingt. Sein Name ist Johannes Maring. Dann habe ich immer zu Ostern, Weihnachten oder Pfingsten eine Karte an ihn geschrieben. Dann hat er mir einmal wieder geschrieben, ob wir nicht Silvester irgendwohin gehen konnten? Das haben wir dann auch gemacht. Er arbeitet auf der Zeche und da waren Schichten. Da habe ich noch mehr verdient als er, da habe ich ihm Zigaretten gekauft. Da lernte ich ihn persönlich noch mehr kennen. Und als er mich dann nach Hause gebracht hat, da habe ich gedacht, hoffentlich küsst er dich jetzt. Er hat es getan. Die große Liebe war es am Anfang nicht. Er hatte Freunde, der eine hatte ein Auto, da sind wir dann auch hinausgefahren. Wir sind dann später in Urlaub gefahren, sind spazieren gegangen, er hat mich niemals in den Arm genommen, dann habe ich gedacht, der liebt dich nicht. Ich habe geheult und an meine Mutter lange Briefe geschrieben. Aber letztlich haben wir doch am 11. August 1961 geheiratet. Das war genau der Tag 13. August, an dem die Mauer gebaut wurde. Wir sind auch auf Hochzeitsreise gefahren. Die Nachbarin hat noch gesagt: „Wollen sie denn in Urlaub fahren, es gibt ja sicher wieder Krieg!“. Aber ich hatte keine Angst vor Krieg. Die Tochter kam 1963 und der Sohn kam 1965.
Die Kirche habe ich 1977 kennengelernt. Als Kind und als Jugendliche habe ich immer an Gott geglaubt und bin in die Kirche gegangen. Meine Familie war evangelisch, mein Mann katholisch. Aber fast zwanzig Jahre hatte ich keinen Kontakt zur Kirche. Dann hatte ich aber viele Probleme auch in unserer Ehe und habe gedacht, nach mehreren Gesprächen mit Leuten, jeder hat mir was anderes erzählt, ich war total durcheinander. Wem sollst du glauben, wer hat jetzt Recht? Ich dachte, wenn dir jetzt noch jemand helfen kann, dann ist es Gott da oben. Mein Mann schlief schon, ich kniete mich vor mein Bett, habe Rotz und Wasser geheult und habe gebetet, wenn es dich da oben gibt, dann lasse mich wieder an dich glauben.
Nach einem halben Jahr kamen Missionare aus Amerika zu uns an die Tür. Wir hatten so ein kleines Reihenhäuschen und immer, wenn wir Geld hatten, haben wir das umgebaut. Da kamen die Missionare, wir waren gerade an der Arbeit und sie erzählten etwas von der Kirche. Dann habe ich gesagt, was Sie da erzählen ist alles schön und gut, was ich mit meinen eigenen Händen schaffe, das weiß ich, aber den lieben Gott, den lassen Sie einmal da, wo er ist. Aber die hatten so viel Glauben und sind immer wieder gekommen. Und unsere Kinder waren in der Schule und konnten schon Englisch. Mein Mann und ich wir konnten kein Englisch. Dann kommen Sie einmal wieder und können meinen Kindern Englisch beibringen. Dann kamen und ich und meine Tochter hatten Geburtstag, dann wollte ich aber nicht, dass sie hereinkommen, weil mein Schwager da war, der hänselte dann so, fromm und so. Ich dachte, das tust du den Missionaren nicht an. Dann kamen sie irgendwann wieder und dann sagten sie mir: “Es war das letzte Mal, wo sie gekommen wären, denn sie haben gefastet und gebetet und hatten das Gefühl, sie sollten noch einmal vorbeikommen“.
Die waren so etwas von inspiriert. Wenn die mir sofort etwas von Joseph Smith erzählt hätten, hätte ich gesagt, so ein Quatsch. Sie erzählten vom Vater im Himmel, dass es ihn gibt, und dass er lebt. Da habe ich so stark den Geist verspürt, dass es Gott gibt. Von da an wusste ich, dass es Gott gibt und ich habe bitterlich geweint. Sie kamen immer wieder. Am Anfang war mein Mann noch dabei. Dann wollte er nicht mehr dabei sein. Dann haben sie uns zur Kirche eingeladen. Damals war noch morgens und nachmittags Kirche. Wir sind dann nachmittags einmal gegangen, da war wohl Pfahlkonferenz. Da las ich Pfadfinder und unsere Kinder waren in keinem Verein. Dann sind wir dann mittwochs da hin, aber da gab’s gar keine Pfadfinder, aber da kam jemand heraus und er sah wohl, dass wir neu waren und er holte den Bischof. Und da kam ein Mann im karierten Hemd an. Bischof, der hat doch einen Talar an oder so? Dann kam eine Schwester aus der FHV, die nahm mich mit hinein. Was sie erzählte habe ich überhaupt nicht verstanden. Das war wohl aus Lehre und Bündnisse. Ich habe nichts verstanden. Dann kam auch die Leiterin der jungen Damen. Wir sind immer wieder gegangen. Wir fühlten uns da wohl. Die Missionare waren immer bei uns. Ich fühlte mich wohl. Und an einem Tag hatte ich das Gefühl, ich sollte mich taufen lassen. Ich erzählte das meinen Missionaren, da sagten sie, „Frau Maring, das gleiche haben wir auch gedacht.“ Dann wurde ein Termin festgemacht, mein Mann wurde gefragt, dann hat Satan wieder zugeschlagen. Wir hatten auch nicht so viel Geld. Und ich dachte, wenn du einmal ein bisschen Geld hast, kannst du dir auch ein Flasche Wein kaufen für dich selber, nicht immer nur, wenn Verwandtschaft kommt oder so. Dann kam mir zu Bewusstsein, dann darfst du das ja nicht mehr. Aber eine Schwester, die auch erst getauft war, die sagte: „Was hält Sie denn von der Taufe ab?“ Mein Mann war nicht dagegen, aber er ging auch nicht mit, nur die Kinder. Das hat mir sehr wehgetan, weil das doch etwas Wunderbares war. Das war so der Anfang. Den Kindern hat er nicht gleich ja gesagt, weil er wusste, es gibt viele Sekten, aber er hatte sich auch nicht damit beschäftigt, um herauszufinden, was das eigentlich ist. Dann hat es erst ein halbes Jahr gedauert, bis die Missionare gefragt haben: „Herr Maring, können Ihre Kinder getauft werden?“ „Ja, da habe ich nichts dagegen.“ Wir guckten uns alle an, haben ganz schnell einen Tauftermin gemacht. Da war er aber auch nicht mit. Wir haben uns nicht so sehr daran gestört, haben immer gebetet zu den Mahlzeiten und so und mit der Zeit merkte man, wenn wir beteten, blieb er ruhig stehen. Er merkte wir hielten uns da daran. Ich habe sonntags nicht gebügelt oder sonst etwas. Er merkte die Veränderung, die bei uns stattgefunden hat.