Schenkenberg, Landkreis Uckermark, Brandenburg

mormon deutsch gerhard paul fritz unverrichtMein Name ist Gerhard Paul Fritz Unverricht*. Ich bin geboren in Wanne im Ruhrgebiet am 16. August 1923 als erstes Kind von Paul und Sophie Unverricht, die beide aus dem Teil Deutschland stammten, der nach 1918 polnisch geworden war. Nur kurze Zeit lebten wir im Ruhrgebiet. Ich kann mich zurückerinnern bis in die Zeit in Wannefeld, als ich drei oder vier Jahre alt war. Meine Schwester Erna wurde in Wannefeld geboren. Mutter hatte wenig Zeit, auf Erna aufzupassen. So hütete ich sie. Ich fuhr sie in einem sehr hohen Kinderwagen. Es ging über einen schrägen Weg, und der Wagen stürzte um. Mit allen Kissen lag Erna auf der Straße, aber ich habe mehr geschrien als meine Schwester. Schon mit fünf Jahren wurde ich eingeschult, da der Dorfschullehrer ein anderes Kind nicht allein aufnehmen wollte.

Der Wechsel in die Schule nach Schenkenberg war schwer für mich. Damals fand der Unterricht im Betsaal im ehemaligen Gutshaus statt. Nach zwei Jahren im Winter 1931/32 wurde die Schule am Fliederberg bezogen. Wir Kinder halfen beim Umräumen. Die Bänke wurden mit den Tischplatten nach unten mit viel Hallo über den Schnee geschoben. Wir hatten in der Volksschule einen Lehrer, der hieß Pietrowski. An sich war er gut, aber von den älteren Schülern wurde er nicht akzeptiert. Wir waren sehr frech. So haben wir ihm einmal die Türklinke zu seiner Wohnung mit Mostrich eingeschmiert, hängten auch mal eine Katze daran oder legten tote Ratten davor. Heute bedauere ich es sehr.

Mit zwölf Jahren bekam ich mein erstes Luftgewehr; bisher hatte ich das Gewehr meines Vaters benutzt, das war aber zu gefährlich. Schießen war meine Leidenschaft. Mit etwa 14 Jahren ging ich auf die Felder, um Rebhühner zu schießen. Mein Spitzname in dieser Zeit war “Wilddieb”. Meine Schwester war ein kleiner Racker. Sie kletterte wie ein Junge auf die Bäume. Bei jeder Gelegenheit ärgerte sie mich. Ich versohlte ihr dafür den Hintern. Erna schrie wie am Spieß; aber die Mutter kannte ihre Tochter, von da kam keine Hilfe für sie.

Während des Konfirmationsunterrichts 1935/37 hatte ich es nicht schwer, da ich schnell lernte. Aber deshalb war ich gegen den Pastor oft ungezogen. Einmal schlug er mich deshalb mit der Bibel auf den Kopf und sprach: „Jetzt strafe ich dich mit den Worten des Heiligen Geistes!“ Der Geist konnte sehr wehtun! Mit dreizehn Jahren 1937 verließ ich die Volksschule. Am 1. Juli 1937 begann die Lehre beim Autoschlosser Max Schrott in Brandenburg. Im darauf folgenden Januar musste ich die Lehre wegen einer Krankheit beenden.

Der tiefste Einschnitt meines Lebens bis dahin war der 1. April 1938, der Beginn der Schlosserlehre im Reichsbahnausbesserungswerk Brandenburg-West in Kirchmöser. Die Lehrzeit bis 1941 beeinflusste mein ganzes weiteres Leben. Gute Führung brachte Erfolg in Fach und Schule; ich bekam mehrere Auszeichnungen, unter anderem eine Schieblehre mit Gravierung und Bücher mit Widmung. Im 2. Lehrjahr sollte ich neben der Schule mit noch vier anderen Lehrlingen die Mittlere Reife nachholen und dann mit Stipendium der Reichsbahn zur Maschinenbauschule gehen.

Während der drei Lehrjahre war ich in der Hitler-Jugend (HJ) Fähnlein- und Stamm-Führer. So weit es sich um Sport und Wandern handelte, war ich sehr engagiert. Für die Politik zeigte ich kein Interesse. Bei Wanderungen ernährten wir uns hin und wieder durch Einsteigen in Obstgärten und nahmen Kartoffeln und Rüben, wie wir sie fanden. Gekocht wurde auf offenen Feuerstellen. Wir fühlten uns manchmal wie die alten Germanen. In einem Wäldchen schlugen wir kleine Bäume ab und zogen sie in die Baumkronen. Richtige Wege in den Baumkronen legten wir an. Die Gefahren waren groß; es kommt mir heute wie ein Wunder vor, dass nichts passiert ist.

Nach der Lehrzeit blieb ich noch bis zum 18. April 1942 im Betrieb. Ich wurde dann zu den 3. Pionieren in Brandenburg Havel eingezogen und hatte großes Glück, da ich mich als Freiwilliger zur Heeres-Unteroffiziersschule gemeldet hatte. Einen Tag vor der Vereidigung kam der Aufnahmebescheid für die Schule. Mein Vater, der selbst Soldat war, brachte den Schein in die Kaserne. Sofort wurde ich von den Pionieren entlassen und fing wieder in dem Betrieb an.

Zum 1. Juni 1942 wurde ich zur Heeres- und Offiziersschule in Ettlingen bei Karlsruhe eingezogen. Dort wurde man zu Offizieren und Unteroffizieren ausgebildet. Nach sechs Monaten kam die Zwischenprüfung, die über die Weiterführung zur Waffenschule entschied. Ich bestand sie und konnte Offizier werden. Die Waffenschule bestand ich in der Abschlussprüfung mit “gut”. Im März 1943 wurde mein Zug nach Todtnauberg im Hochschwarzwald für 21 Tage zum Skilauf unter kriegsmäßigen Bedingungen abgestellt. Es war eine sehr schöne Zeit; der Ablauf war sehr leger.

Nach der Prüfung hatte ich bis zum 16. April 1943 Abstellurlaub. Darauf hatte ich mich beim Infanterie-Ersatzbatallion 67 in Spandau-West zu melden. Kaum war ich da, bemühte ich mich um Urlaubsscheine. Solche hatten Geltung für Groß-Berlin bis zum 19. April zum Dienstbeginn. Da ich aber bis Schenkenberg fuhr, musste ich zu spät zurückkehren. Es fiel aber nicht auf, da die Kameraden, zu denen ich musste, am äußersten Ende des Flügels standen. Der Spieß kam dann gleich und teilte uns mit, dass wir sofort zur Kleiderkammer zu gehen hätten und um 13.30 Uhr abmarschfertig sein mussten. Dann ging der Zug nach Russland!

mormon deutsch gerhard paul fritz unverrichtAls Gefreiter und Offiziersanwärter kam ich an die Front. Der Transport bestand aus 35 Unteroffizier und Offizier-Anwärtern. Am 28. April traf ich bei der 23. Division in Russland ein. In Slusk, vor Leningrad, wurden wir auf einzelne Kompanien verteilt. Ich kam mit Alfred Fahringer (schon auf der Waffenschule waren wir zusammen) in die 6. Kompanie. Die Feuertaufe erhielt ich mit dem ersten Artilleriebeschuss am 29.April. Der 6. Mai brachte Angriffe des Feindes. Auch an ruhigen Tagen fanden örtliche Kämpfe statt, meist im Anschluss an Stoßtruppunternehmungen. Granatwerferbeschuss hatten wir bald jeden Tagen. Mein erster Nahkampftag war der 24. Mai; danach stellten meine Kameraden den ersten Streifen weißer Haare bei mir fest.

Am 30.Mai wurde ich abgelöst und kam in “Ruhestellung” nach Chernowa bei Gatschina bis zum 27. Juni. Hier lernte ich russische Familien kennen und wurde von ihnen eingeladen. Es bildete sich so etwas wie ein Vertrauensverhältnis. Dort gab es nicht nur Kampf, sondern wir haben auch fröhliche Stunden verlebt. In der 7. Gruppe musste ich meinen Einstand geben; dieser bestand aus Bezahlung von Marketenderwaren, auch Alkohol war dabei. Ich war ihn nicht gewohnt. Nach einem Viertel Liter war ich zum großen Spaß der anderen drei Tage krank. Nach zwei Wochen trank auch ich einen Liter, ohne „krank“ zu werden. Nach den ersten drei Wochen wurde ich stellvertretender Gruppenführer; am 27. Juni, das ist Ernas Geburtstag, machte man mich zum Gruppenführer der 7. Gruppe. An diesem Tag hatte ich mit einem Vorkommando an der Mga-Front eine Stellung zu übernehmen. Wir lösten die 28. Jägerdivision/Breslau ab. Die 7. Kompanie lag also vom 1. bis 25. Juni bei Gatschina in Ruhe. Der Ort ist an einem See gelegen, ein herrliches Stück Erde. Mit dem Spieß [Kompaniefeldwebel] führte ich einen halbprivaten Durchsetzungskampf. Der Spieß hatte mich auf dem Kieker. Bei jedem Appell fiel ich auf, bis ich es leid war, angemeckert zu werden. Es wurde ein Appell in grünem Drillichzeug angesetzt; ich erschien im total verschmutzten Drillich. Wie üblich kam der Spieß auch diesmal zu mir. Er fiel fast auf den Rücken, als er mich sah; zum ersten Mal hatte er einen Grund, seine Stimme erschallen zu lassen. Er wurde unterbrochen von dem Kompanieführer Oberleutnant Popp, der sich erkundigte, was dort vorginge. Er beauftragte mich, meine Sachen in Ordnung zu bringen. Von dem Tag an hatte ich Ruhe vor dem Spieß. Der Oberleutnant bezeichnete mich immer als „mein Junge“.

Am 29. Juni beschossen uns russische Jagdflieger, auch am nächsten Tag pünktlich um 12 Uhr. Nach dem Juni 1943, ich hatte es abgelehnt, Offizier zu werden, hatte ich viel Ärger mit Vorgesetzten. Der Kompanieführer Popp war sehr enttäuscht, hielt aber zu mir. Zu seiner großen Freude war es mir und meiner Gruppe in den Kämpfen mit russischen Soldaten gelungen, die Stellung zu halten und sogar Gefangene zu machen; denn dadurch hatte er die Möglichkeit, trotz meiner Ablehnung, mich zum Unteroffizier vorzuschlagen und durchzusetzen, sowie mir das EK II [Eisernes Kreuz 2. Klasse] zu verleihen.

Mit der Kompanie lernte ich die Gegend am Ilmen-See, den Wolchow bis zum Ladoga-See und die Newa bis kurz vor Leningrad kennen. Oftmals wurde ich behütet. So auch als wir von 172 mm Granaten beschossen wurden; es muss am 8. oder 9. Juli gewesen sein. Der Unterstand meiner Gruppe gehörte zur Riegelstellung. Der Beschuss dauerte zweieinhalb Stunden. Eine Granate schlug neben dem Unterstand in die Erde, drückte die Wand ein und detonierte nicht! Am 12. Juli 1943 wurde ich das erste Mal von einem Granatsplitter am linken Ellbogen verletzt; ich blieb bei meiner Gruppe. Der Unterstand der MGK (Maschinengewehrkompanie), in der eine Gruppe von zwei MG42 lag, bekam einen Volltreffer. Drei Mann konnten heraus und standen, in Panik, offen im Feuer und brüllten um Hilfe. Wir hörten es, und ich ging bzw. kroch aus meinem Unterstand, rief die drei auch zu. Die aber streckten die Arme aus und blieben stehen! Ich musste also hin, den ersten bei der Hand nehmen und mitziehen. Ich brachte die drei in den Fernsprechunterstand. Von dort bin ich wieder zu meinem Unterstand. Die zwei Meter tiefen Gräben waren eingeebnet – so musste es auf dem Mond aussehen!

Ich musste am 20. Juli den Gruppenführer der fünften Gruppe für fünf Tage ablösen. Wir lagen an einem Hohlweg nahe der Newa, getrennt vom Gegner nur durch den Hohlweg. Damit sich die Männer entspannen konnten, wurden sie immer für fünf Tage abgelöst. Gleich am nächsten Tag begannen neue Kämpfe mit einem bis dahin nicht gekannten Trommelfeuer, das um 3.30 Uhr einsetzte. Um 7 Uhr griff der Gegner an. Alles junge und uns an Körpergröße überlegene Soldaten. Die Kämpfe setzten sich am 22. Juli fort. Immer wieder Artilleriefeuer. Gegen 13.30 Uhr bekam ich einen Kopfdurchschuss durch ein Maschinengewehrgeschoss, als wir einen Gegenstoß unternahmen. Danach war ich neun Tage bewusstlos. In Riga/Lettland kam ich wieder zu mir. Nach mehreren Lazaretten landete ich im Ersatzbataillon.

Im Ersatztruppenteil Spandau-West hat mir bald der Ton nicht behagt, deshalb meldete ich mich zur Truppe. Ich kam nach Radom in Polen. Dort wurde eine Einheit aufgestellt, die mit Flugzeugen zu den Brennpunkten gebracht wurde. Das war im Februar 1944. Unter anderem kamen wir zu Einsätzen nach Pleskau, Luga und zuletzt am 3. April von Radom nach Sewastopol auf der Halbinsel Krim. Dort war nur noch die Stadt und die Festung Sewastopol von den Deutschen besetzt. Alles andere hatten die Russen bereits zurückerobert. Ich erlebte dort die schlimmsten Tage meines Lebens. Der Gegner hatte zwar hohe Verluste, aber wir auch. Zumal wir keinen Nachschub bekamen. Artillerie bei uns war Null. Zweimal wurde ich verwundet; am 28. April bekam ich einen Handgranatsplitter in das linke Schienbein, an den rechten Oberschenkel und ins rechte Handgelenk. Ich blieb bei meinem Zug. In der Nacht von 6. auf den 7. Mai wurde mein rechter Oberarm bei einem Angriff durchschossen; darauf war mein rechter Arm teilgelähmt. Ich kam mit dem – wie es hieß – letzten offiziellen Schiff, einer Kampffähre, nach Konstanza in Rumänien.

Bevor wir zum letzten Einsatz nach Sewastopol los flogen, war es uns nicht erlaubt, nach Hause zu schreiben, wohin wir unseren Marschbefehl hatten. Es war bekannt, wie hart auf der Krim die Kämpfe waren. Ich bat einen Obergefreiten der Luftwaffe, einen von mir geschriebenen Brief mit seinem Absender an meine Mutter zu schicken. In dem Brief hatte ich hinter den Buchstaben, die das Wort Sewastopol ergaben, einen kleinen Punkt gemacht. Der Brief kam zu Hause an, meine Mutter aber hatte die Punkte nicht entdeckt, aber Erna. Dieses Wissen, wohin ich kam, war für meine Mutter schrecklich, aber auch tröstlich, da sie nicht in Unkenntnis war.

Die Fahrt im Lazarettzug von Konstanza nach Schwabach bei Nürnberg dauerte 16 Tage. Bei meinem letzten Aufenthalt in Schenkenberg hatte ich mir eine Freundin zugelegt, Inge Priebs. Als ich in Schwabach war, besuchten mich meine Mutter und Inge. Wir hatten auf der Stube einen Diphterie-Fall; ich konnte also nicht hinaus, und wir konnten uns nur vom Fenster aus sehen. Sie bleiben drei Tage.

Jedes Wochenende war ich zu Hause, aber das war mir noch zu wenig. Als Verwundeter meldete ich mich zum Arbeitseinsatz in kriegswichtigen Betrieben und wurde in dem Stahl- und Walzwerk Brandenburg in der Terminabteilung eingestellt. Jetzt fuhr ich wie jeder andere Werktätige – außer an Behandlungstagen – jeden Tag nach Hause und zur Arbeitsstelle. Dabei verdiente ich gut.

Weihnachten 1944 verlobte ich mich gegen den Willen derer Eltern mit Inge Priebs. Am 19. Januar 1945 musste ich zum Ersatzbatallion nach Dresden. Dort erlebte ich viele unangenehme Dinge bei mehreren dienstlichen Einsätzen. Ein Beispiel: Absperren des Hauptbahnhofs beim Eintreffen der Züge aus dem Osten – von der sich auflösenden Front – und Weiterführen der Soldaten und Zivilisten in Auffanglager; viele Soldaten hatten keine Marschpapiere und wurden dementsprechend behandelt.

Ich ließ mich also auf Vorschlag des Spießes, mit dem ich von Sewastopol bekannt war, nach Dänemark versetzen. Dort wurde eine neue Truppe aufgestellt. Wie es sich zeigte, war meine Versetzung keinen Tag zu früh geschehen. Dresden mit all den Flüchtlingen wurde Stunden nach meiner Abfahrt in Schutt und Asche gelegt. 30000 Menschen kamen um. Das Eintreffen in Dänemark am 11. Februar 1945 war ein nie zu vergessendes Erlebnis. Die Geschäfte waren voller Auslagen, wobei uns die Fleischerläden am meisten interessierten. Wir waren zu dritt, als wir einen solchen Laden betraten. Ich ließ mir einen Ring Leberwurst geben. Nach der Bestellung warteten wir, dass man nach den Fleischmarken fragen würde, so wie in Deutschland. Diese Frage kam nicht, sondern „Wünschen Sie noch mehr?“ Meine Kameraden ließen sich auch einen Ring geben. Und da die Frage nach den Marken immer noch nicht kam, bezahlten wir und verließen das Geschäft. Wir kauften uns noch Brötchen, gingen in eine Wirtschaft und verzehrten unser Gekauftes mit drei, vier „Øl“ (Bier). Dänemark war für uns ein Friedensland.

Die schönen Zeiten kamen Ende April mit dem Einsatzbefehl nach Deutschland zum Ende. Es wurde gefragt, wer sich freiwillig zu einem besonderen Einsatz meldete. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war ich nun vernünftig genug, mich endlich nicht mehr zu melden. Das Kriegsende erlebte ich an der deutsch-dänischen Grenze. Die Dänemark-Armee kam nicht in Gefangenschaft, sondern wurde interniert, unser Regiment zum Beispiel auf der Halbinsel Eiderstedt [Ejdersted]. Am 11. Juli 1945 entließ man mich. Ich ging zu meiner Tante Martha Telm nach Schönhagen bei Eckernförde; sie hatte dort einen Bauernhof. Mitte Oktober hatte ich genug davon, nichts von Zuhause zu hören. Paul Porbatnik aus Ostpreußen, der auch bei meiner Tante war, schloss sich mir an; er wollte seine Familie in Ostpreußen suchen! Wir machten uns also auf. Dies war nicht ganz einfach, da es offizielle Übergangsstellen in die SBZ nicht gab. Ich musste also wie im Krieg durch die Linien schleichen. Das gelang mir auch sehr gut, und ich kam Ende Oktober nachts in Schenkenberg an. Paul schickte ich in Schenkenberg zu meiner Mutter vor, um zu sagen, dass ich bald kommen werde, und ging erst zu meiner Inge.

Politisch hatte sich viel verändert; so fiel es mir schwer, mich einzuleben. Gleich nach Weihnachten erfuhren wir, dass sich mein Vater in amerikanischer Gefangenschaft in Mannheim befand. Er hatte mit Hilfe eines Schwarzen einen Brief aus dem Lager schmuggeln können. Meine Mutter fuhr Mitte Januar hin und besuchte ihn. Etwa am 12. Februar 1946 kam sie zurück und erzählte uns von ihren Erlebnissen. Da Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt war, musste sie sich zuerst von der sowjetischen in die britische und von dort in die amerikanische Zone durchschleichen. Die Besatzer damals waren nicht sehr menschlich; Einsperren und Nahrungsentzug, wenn man erwischt wurde, waren gängige Strafen. Meine Mutter brachte sehr viel Verpflegung von meinem Vater mit, der in Mannheim im Tennisbunker von den Amerikanern als Spieß für die Gefangeneneinheit eingesetzt worden war. Vater nutzte seine Stellung aus, um möglichst oft außerhalb des Stacheldrahtes sein zu können. Die Unterkunft in Mannheim für meine Mutter war möglich geworden, weil Vater durch den Zaun hindurch mit Kindern, denen er Schokolade gab, Beziehung zu deren Mutter bekam. Diese stellte dann einen Wohnraum für meine Mutter ab.

Am 14. Februar erkrankte meine Schwester, und schon am 16. war sie tot. Es soll Rachendiphterie gewesen sein; die Krankheit und der Tod meiner Schwester waren ein Drama. Durch die politischen Umstände hatten nur kommunistische Funktionäre Fahrzeuge und auch Benzin. Diese aber waren nicht bereit, meine Schwester in ein Krankenhaus zu fahren. Es fand sich Franz Genski mit einem Pferdefuhrwerk, Erna nach Brandenburg zu bringen. Danach habe ich Erna nicht mehr gesehen, da der Sarg nicht mehr geöffnet werden durfte. Meine Verlobte hat sich bei der Pflege und dann bei der Beerdigung viel Mühe gegeben und muss sich dabei angesteckt haben, denn sie erkrankte ebenfalls. Und obwohl sie die Krankheit überstanden zu haben schien, starb sie am 31. März 1946 an Herzschwäche.

Während meiner Internierung im Mai 1945 bei Tönning hatte ich nachts einen sehr schweren Traum. Ich erlebte mit, wie meine Mutter, meine Schwester und meine Verlobte versuchten 1945 vor den Russen zu flüchten. Ich sah genau den Weg, den sie einschlugen, sah die gesprengte Brücke, über die sie sich hangelten — über den Emster-Kanal – den Weg von Rietz nach Göttin zum Teil durch den Wald, die Russen, die schon rechts und links waren, wie sie unter deutschen Beschuss gerieten von den Verteidigern Brandenburgs. Und ich erlebte die Krankheit meiner Schwester und ihren Tod. Ich sah mich hinter ihrem Sarg hergehen und wie dieser in die Erde gesenkt wurde. Den Tod meiner Verlobten träumte ich ebenfalls. Nur sah ich diese noch im Sarg liegen, bevor er geschlossen und in die Erde gegeben wurde. Als ich nach Hause gekommen war und meine Mutter von ihrem Fluchtversuch berichten wollte, bat ich sie, doch mich erzählen zu lassen. Meine Mutter sah mich danach mit großen Augen an und fragte, wer mir denn das schon mitgeteilt hätte. Ich konnte nur sagen, dass es ein Traum gewesen war. Ich habe lieber nichts von dem Tod von Schwester und Verlobter erzählt. Als meine Schwester dann krank wurde, war mir klar, dass mein Traum wahr würde. Seitdem sträube ich mich gegen jeden Traum.

Im Mai 1946 erkrankte die Mutter meiner Verlobten; ich machte bei ihr einen Krankenbesuch. Diese Frau warf mir nun mein Verhalten nach dem Tod ihrer Tochter vor. Die Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage. Sie gab aber nicht nach, und so verließ ich sie sehr böse. Da es ein Samstag war und in Schenkenberg gerade Tanz, so ging ich dahin, ohne dafür angezogen zu sein. Ich tanzte meinen ganzen Ärger fort. Dabei sah ich zum ersten Mal bewusst meine spätere Frau. Dieses Mädchen kannte ich zwar schon sehr früh, sie etwa 12, ich 17 Jahre alt, und schon damals stach mir das Mädel in den Augen. Aber wie hatte sie sich zu ihrem Vorteil verändert. Als ich das erste Mal mit ihr spazieren gehen wollte, warf mir ihre Schwester Blicke zu, die mich hätten töten können. Christel aber setzte sich durch; und Christel, Traudel, Edith Rachuj und ich machten uns zum ersten Spaziergang auf. Dabei fiel mir auf, dass an der Kreuzung Bruchstraße/Kirschenallee drei ältere Jungen standen, etwa 18 Jahre alt; ich gab dem keine Bedeutung. Nach wenigen Wochen sagte mir Horst Wanzek im Auftrag von Walter Grauert, ich solle die Finger von der Christel lassen. Da ich aber immer meinem eigenen Willen folgte, kam das nicht in Frage. Und bei einer morgendlichen Begegnung mit Walter Grauert stellte ich ihn zur Rede und bat ihn, seine Drohung wahr zu machen. Dieser aber wollte es nun gar nicht mehr in dieser Form gesagt und gemeint haben.

Mit meinem zukünftigen Schwiegervater hatte ich bald ein sehr gutes Verhältnis. Wir besprachen viele Dinge, die er mit „seinen Frauen“ nicht oder nur schlecht besprechen konnte. Im Herbst half ich ihm beim Mähen seiner Wiese, und wir gingen gemeinsam zum Stubbenbuddeln in den Lehniner Forst; dort halfen wir uns gegenseitig beim Heraus wuchten der mehrere Zentner schweren Baumstümpfe. Dass bei dieser Arbeit auch persönliche Dinge besprochen wurden, konnte nicht ausbleiben. Und so kam es, dass mein Schwiegervater mir Dinge erzählte, von der meine Schwiegermutter heute noch nichts weiß. Es bestärkte mich aber auch in dem Wissen, dass ich in seiner Tochter Christel eine gute Frau haben würde. Am Geburtstag meines Schwiegervaters, dem 28. November 1946, meinte ich, dass die Gelegenheit günstig wäre, nach alter Form und Sitte meinen Schwiegervater um die Hand seiner Tochter zu bitten. Christel und auch meine Eltern wussten und ahnten nicht, dass es an diesem Tag zu einer Verlobung kommen würde. Mein Schwiegervater musste es wohl vermutet haben, denn er hatte eine Flasche Likör für alle Fälle bereit stehen. Bei meinem Antrag wurde meine Christel ziemlich blass um die Nase.

Wenige Tage nachdem ich 1945 nach Hause gekommen war, erschienen FDJ-Leute (Freie Deutsche Jugend) bei mir und forderten mich zur Mitarbeit in ihrem Verband auf. Sie ließen durchblicken, dass ich nicht Nein sagen dürfte, weil ich sonst als ehemaliger Hitler-Jugend-Führer Schwierigkeiten bekommen würde. Was blieb mir also anderes übrig? Bald darauf kamen auch die Vertreter der SPD und wollten mich zum Eintritt bewegen. In den Gesprächen mit diesen Funktionären wollte ich wissen, ob durch meinen Eintritt in die SPD die Enteignung meines elterlichen Grundstücks verhindert werden könnte. Das sollte nämlich geschehen, weil mein Vater NSDAP-Mitglied und ich Hitler Jugend-Führer gewesen war. Man versprach mir, dafür zu sorgen, dass, wenn ich Mitglied würde, eine Enteignung nicht vorgenommen werden könnte.

Obwohl ich ein Gegner von Mitgliedschaften in politischen Parteien war, entschloss ich mich für die SPD. Es hatte den gewünschten Erfolg. Nach etwa einem Jahr wurde die SPD gegen den Willen der Schenkenberger SPD-Mitglieder mit der KPD von der russischen Militärregierung zur SED, das heißt, Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands vereinigt. Jetzt war ich genau das, was ich nicht sein wollte und konnte, nämlich Kommunist. Das weckte in mir politischen Widerstand. Allerdings setzte man mich in der SED zum Zehner-Gruppenleiter ein, das war die kleinste Organisationseinheit zur besseren Kontrolle der Mitglieder. Da die Landbevölkerung weitgehend politisch abseits stand, gründete man die Bauern-Partei. Diese Gelegenheit nahmen viele SED-Mitglieder wahr und wechselten zur Bauern Partei. Hier konnten wir zu dieser Zeit noch gegen die SED opponieren, soweit es sich um ländliche Arbeitsbereiche handelte. Ich musste dabei sehr gut gewesen sein, denn man schlug mich zum Besuch einer Parteischule vor zur Ausbildung zum Mitglied in der Landesregierung in Potsdam. Nach reichlicher Überlegung lehnte ich ab, denn ich wäre mit dem Besuch der Landesparteischule mundtot gemacht worden, das heißt, ich hätte die Beschlüsse der Landesregierung auf jeden Fall unterstützen müssen. Diese Ablehnung führte zu meiner zunehmenden Diskriminierung im politischen wie im privaten Leben. Trotzdem aber versuchten wir – das waren Hermann Taube, Heinrich Bär und ich — unsere Gemeinde so weit wie möglich im wirtschaftlichen Bereich selbständig zu erhalten; in politischer Hinsicht war dies auf Grund der Militärgesetzgebung nicht möglich.

Dann kam der 17. Juni 1953. Wir glaubten ernsthaft, dass der Westen uns, die DDR-Bevölkerung (wir nannten uns aber nicht DDR, sondern Zone oder SBZ = Sowjetische Besatzungszone), in unserem Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht unterstützen würde. Dies aber geschah nicht, und nach drei Tagen war alles vorbei und vergebens. Wir wurden nun mit unseren Äußerungen vorsichtiger und nahmen Beziehungen nach West-Berlin auf. West-Berlin war mir von meinen Hamster-Fahrten sehr gut bekannt. Ich hatte dort so manchen Korb Erdbeeren und anderes Obst, auch Speckseiten hingebracht und dabei alle Möglichkeiten des Transports – Lkw, Pkw, und Bahn — wahrgenommen; während der sowjetischen Blockade 1948 benutzte ich Schleichwege und zwar in der Gegend von Dreilinden, um immer wieder nach West-Berlin zu kommen. Dadurch war es möglich, Dinge zu kaufen, die für uns lebensnotwendig waren, z.B. Nägel, Handwerkszeug und Kindernahrung. Einmal landete ich auf dem Polizeipräsidium in Potsdam, wo ich mich, an meine Militärzeit erinnert, aus dem geschlossenen Hof empfahl. Nach der Blockade kamen viele Berliner, um zu hamstern, auch welche aus Ost-Berlin, die wesentlich mehr litten, zu uns auf das Land. Unter anderem kam der Intendant der Komischen Oper Berlin (Ost) Felsenstein. Leider haben wir die Verbindung abreißen lassen.

Im Oktober 1953 besuchten meine Frau und ich die Tante meiner Frau in Kerkow bei Angermünde; wir blieben etwa 14 Tage. Und in einer dieser Nächte hatte ich wieder einen seltsamen Traum. Bei unserer Rückkehr werde uns mein Vater mit seinem Ponywagen vom Götzer Bahnhof abholen. Nach einigen hundert Metern werde er zu mir sagen, dass Hermann Taube verhaftet sei. Es war so; es geschah wie geträumt. Das hatte zur Folge, dass unsere politischen Aktionen mit West-Berlin (Komitee freiheitlicher Juristen, geführt von der SPD) eingeschränkt werden mussten. Nach Hermann war ich der zweite Mann, der Kontakt zu der Gruppe hatte.

Am 3. Dezember 1953 bekam ich eine Vorladung von der Volkspolizei Brandenburg, um am 4. Dezember dort zu erscheinen. Der Überbringer hatte es so eingerichtet, dass ich früh genug von der Vorladung erfuhr, damit ich in der Nacht noch etwas unternehmen konnte. Ich entschloss mich zur Flucht. Der Schritt war für mich nicht leicht; wir hatten drei Jungen, der jüngste, Hartmut, war gerade sechs Monate alt. Ich stand an den Betten der Jungen und weinte. Abends um 20 Uhr verließ ich mit vier anderen Schenkenberg, wobei sich zwei Gruppen bildeten: ich und Wilhelm Krefft; die zweite Gruppe: Heinrich und Woldemar Bär und Gerhard Schröder. Ich fuhr mit meinem Begleiter mit dem Fahrrad bis nach Werder zu einem seiner Bekannten. Der Schwiegersohn dieses Bekannten erklärte sich bereit, da es mittlerweile Mitternacht war und kein Zug nach Potsdam ging, uns mit dem Auto dorthin zu bringen. Die Räder ließen wir in Werder. In Potsdam erreichten wir die letzte S-Bahn. Der Bahnhof war voller russischer Soldaten, und wir hofften, dass unsere Flucht noch nicht bemerkt worden war. In der S-Bahn waren nur Wilhelm und ich. In Griebnitz-See kam die obligatorische Kontrolle der DDR-Grenzpolizei. Wilhelm Krefft war überaus nervös, er fand nicht einmal seine Fahrkarte, viel weniger seinen Ausweis. Der Grenzpolizist muss für uns beide Augen zugedrückt haben, dass er uns daraufhin weiterfahren ließ.

In Schenkenberg war mit allen ausgemacht worden, dass wir uns am 4. früh um 8 Uhr bei den Freiheitliche Juristen treffen wollten. Dort war ich unter meinem Decknamen „Birkenfeld“ bekannt. Somit war es möglich, dass ich für meine vier Kameraden aussagen konnte und wir alle politisch anerkannt würden. Ich wohnte in Berlin privat bei Leuten, die in der Zeit davor immer zu uns nach Schenkenberg hamstern gekommen waren, Hermenau in Berlin-Schönefeld, Lutherstraße 69. Unsere Anerkennung als politische Flüchtlinge war nach sechs Wochen erledigt. Anschließend daran wurden wir Mitte Januar nach Hamburg-Fuhlsbüttel ausgeflogen und von dort mit der Bahn nach Aurich-Sandhorst, einem Flüchtlingslager, verbracht. Von dort aus betrieb ich meine Übersiedlung nach Wanne-Eickel. Am 7. April traf ich dort ein und wohnte bei meiner Tante Liese und Onkel Max in der Claudiusstraße

Bis zum Eintreffen meiner Familie war es mir nicht möglich, beruflich Fuß zu fassen. Ich war kriegsbeschädigt (zu der Zeit 70%). Unter anderem habe ich als Nachtwächter bei der Firma Schwing zwölf Stunden Dienst getan, 60 Pfennige Brutto in der Stunde. Als meine Familie eintraf, zogen wir in das stadteigene Flüchtlingslager in der Wilhelmstraße 91.

1954 im Oktober wollte ich vom Arbeitsamt Urlaub haben, da ich nach Berlin fliegen wollte, um meine Familie dort zu treffen. Der Leiter lehnte meinen Antrag mit der Begründung ab: Wo gibt es denn so was, dass ein Arbeitsloser fliegen wolle, obwohl er doch wusste, dass ich politischer Flüchtling war. Den zweiten Antrag ließ ich nicht über den Dienstweg gehen, sondern gab ihn selbst ab. Nach einer kleinen Auseinandersetzung, bei der ich seinen Schreibtisch umstürzen wollte, er mit der Polizei drohte und ich ihn bat, das doch bitte zu tun, denn dadurch würde sein Verhalten publik werden, überlegte er einige Minuten und genehmigte dann den Flug von Hannover nach West-Berlin, so dass ich meine Frau mit unseren Kindern dort treffen konnte.

Im Februar 1955 reiste meine Familie von Schenkenberg nach Wanne-Eickel aus. Zuerst war es als Verwandtenbesuch getarnt; dann aber konnte sich Christel offiziell abmelden. Die Folge war, dass sie und die Kinder nicht als Flüchtlinge, also Übertreter des Gesetzes galten. Wie es dazu gekommen war, dass Christel die Erlaubnis zum Verwandtenbesuch erhielt war ein Wunder. Meine Mutter lag im Krankenhaus mit einer Volkspolizistin auf einem Zimmer. Im Laufe der Unterhaltungen kam das Problem der zerrissenen Familie zur Sprache. Die Polizistin verstand und unternahm kaum entlassen etwas – ein Wunder.

Am 1. April 1955 wurde ich von der Firma Fröhlich & Klüpfel/ Abteilung Bergbau in Essen für die Betriebsstelle Zeche Hannibal in Bochum als Bürolehrling eingestellt; mein Verdienst war für alle drei Jahre 190 Mark Brutto und 57 Mark Wohngeld. Dieses Wohngeld wurde mir großzügiger weise gewährt; als Lehrling stand es mir eigentlich nicht zu. Ein Bergmann verdiente damals ca. 600 bis 650 DM Brutto. Nach vier Jahren wurde ich als Kaufmännischer Angestellter in die Schacht- und Bergbauabteilung übernommen mit einem Gehalt von 533 DM. Am 1. Juli 1960 erhöhte sich mein Gehalt auf 582,50 DM; im Januar 1962 kam ich in das Endgehalt der Gruppe B und 1964 in das der Gruppe A. – Ab 1. Januar 1960 waren wir wirtschaftlich so gestellt, dass wir zwar sparen mussten, aber keine finanziellen Sorgen mehr haben mussten.

Mein Aufgabenbereich in der Firma stieg vom Anlernling 1955 bis zum Abteilungsleiter 1964. Meine Aufgaben umfassten die Bereiche Buchhaltung, Lohnbuchhaltung, Aufenthalts-genehmigung für Gastarbeiter, Wohnungen für Betriebsangehörige, Arbeitgebervertreter bei Betriebsratssitzungen, Arbeitgebervertreter vor Arbeitsgerichten. – 1967, Ende August, erkrankte ich an meiner Kriegsverletzung, dem Kopfschuss, so sehr, dass ich auf Drängen meines Arztes Dr. Rütter einen Rentenantrag stellen musste; seit dem 3. Juni 1969 bin ich Knappschaftsrentner und Versorgungsrentner mit 100 % Kriegsbeschädigung.

Die am 1. Januar 1956 bezogene Wohnung in der Verbindungsstraße hatte eine Fläche von 55 qm, bestand aus Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer mit Kochnische und Bad mit WC, sowie einer kleinen Diele. Diese Wohnung wurde mir als Sowjetzonenflüchtling mit einem staatlichen Zuschuss für die Bauherrin Elfriede Krause in Höhe von 3000 DM nach unserem Wunsch zugebilligt. Für unsere Jungen war die erste Besichtigung der Wohnung ein Ereignis – im Vergleich zu dem einem Raum in der Baracke ein Palast!

Nachdem meine Eltern die DDR verlassen hatten und das West-Berliner Flüchtlingslager Mariendorf sie aufgenommen hatte, bemühte ich mich beim Flüchtlingsamt in Wanne-Eickel um die Aufnahme meiner Eltern in der Stadt. Durch meine Firma Frölich & Klüpfel war ich mit einigen Herren der Stadtverwaltung bekannt geworden. Dies erleichterte den Zuzug meiner Eltern. Wir mussten uns allerdings verpflichten, für eine Übergangszeit meine Eltern in unserer Wohnung aufzunehmen. Der auslösende Faktor für das Verlassen der DDR stand im Zusammenhang mit einem Besuch meiner Frau und der Kinder in Schenkenberg 1957. Der Aufenthalt für die Kinder war fast unbegrenzt erlaubt, während meine Frau nur 10 Tage bleiben durfte. Die treibende Kraft ging daraufhin von meiner Mutter aus, die kein Verständnis für einen Staat hatte, der auf diese Weise Familien auseinanderreißen wollte. Nun jedenfalls waren wir vereint, und es trat der Fall ein, dass Kinder etwas für ihre Eltern tun konnten. Nach ungefähr fünf Monaten bekamen meine Eltern eine eigene Wohnung.

Als unsere Jungen größer wurden, wechselten wir die Wohnung; 1967 zogen wir in eine 110 qm große Wohnung in der Claudiusstraße 33. Seit dem Januar 1961 sind wir Besitzer eines 6-Familien-Hauses mit sehr kleinen Wohnungen, und zwar mit Wohngrößen von 44 bis 46 qm. Seit dem 1. Mai 1973 bewohnen wir in diesem Haus in Mülheim an der Ruhr, Heerstraße 84, die oberste Etage, in der wir zwei Wohnungen zusammengelegt hatten und somit über eine Wohnungsgröße von 90 qm verfügen. Bevor wir in das Haus einzogen, haben wir eine Ölheizung für das ganze Haus einbauen lassen und haben zwei Bäder und eine Dusche modernisiert, wie auch in den von uns bewohnten Räumen einige Änderungen vorgenommen, sodass sie optisch größer erscheinen. Gleichzeitig wurde die ehemalige Küche verlegt und eine neue Gas- und Wasserleitung nach oben geführt. Sehr viele Arbeiten wurden von mir und meiner Frau verrichtet; ich habe nicht gewusst, zu welchen handwerklichen Fähigkeiten ich zu gebrauchen bin.

Im März 1962 kauften wir unser erstes Auto; das war ein Opel Rekord P2 mit 1500 kcm, nagelneu! Meinen Führerschein hatte ich erneut machen müssen, da ich es wegen meiner Hirnverletzung nicht riskieren konnte, den Wehrmachtsführerschein vom Juli 1943 einfach überschreiben zu lassen. Um diesen Führerschein zu erhalten, musste ich ein ärztliches Gutachten erstellen lassen, für das ich von Neurologen und Technikern untersucht bzw. geprüft wurde. – Seitdem fahre ich immer Autos von der Firma Opel – mal einen Rekord, dann einen Manta und zweimal einen Senator.

Seit Januar 1978 ist unser Sohn Wilfried mit unserer Schwiegertochter Sigrid verheiratet. Da Wilfried sich noch im Studium befindet und Sigrid kein so hohes Einkommen bezieht, um sich eine eigene Wohnung zu halten, haben wir unser Schlafzimmer verlegt und so den jungen Leuten eine 2-Raum-Wohnung mit Bad verschafft; 35 qm ist sie groß.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich erwähnen, dass unser Sohn Bernd am 25. April 1969 im Standesamt Wanne-Eickel mit Charlotte Knoch die Ehe eingegangen ist. Am 13. August wurde ihnen die Tochter Tanja geboren. Im November 1969 fand die kirchliche Trauung der beiden und die Taufe unserer Enkeltochter in der evangelischen Lutherkirche in Röhlinghausen/Wanne-Eickel statt. Am 21. Dezember 1977 kam unsere Enkelin Nadja hinzu. Bernd arbeitet als Betriebsschlosser. Am 26. September 1976 ging unser Sohn Hartmut die Ehe mit Gabriele/Gaby Müller im Standesamt Essen ein. Beide bestanden nach dreijähriger Ausbildung das Staatsexamen der Krankenpflege. Seit dem Juni 1977 ist Hartmut Stationspfleger.“

Das Leben geht für meinen Vater seinen unruhigen Ruhestand weiter. Er ist viel mit dem Haus in der Heerstraße beschäftigt; die Wandtäfelung oder die Holzdecke muss eingezogen werden, die Garagen renoviert, die Überdachung im Eingangsbereich neu gebaut werden. In der Gemeinde und auch im Genealogischen Archiv hat er in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage viel gedient und manches Opfer auf sich genommen, seit er sich mit meiner Mutter am 10.Dezember 1976 der Kirche angeschlossen hatte. Mit seinem Täufer, Bruder Saltzgiver, hat es weiterhin Kontakt. Seine befriedigendsten Berufungen hatten meist etwa mit dem Berichts- und Finanzwesen zu tun – er liebte es mit Zahlen umzugehen, gab keine Ruhe, ehe nicht alles bis auf den Pfennig stimmte.

Mitte der 90er Jahre machte ihm sein Körper immer mehr Schwierigkeiten. Vorbildlich für alle verpasste er aber kaum eine Möglichkeit, die Kirche zu besuchen – Pflichtbewusstsein beherrscht ihn. Mit meiner Entlassung aus der Berufung im Archiv (ehrenamtlicher Leiter von 1988 bis 1995) in Dortmund hörten auch er und meine Mutter dort auf. Doch diente er weiter in der Gemeinde, soweit er es vermag.

Er ist nun 85 Jahre alt. In den letzen Jahren setzten sich seine Leiden fort. Krebs an verschiedenen Teilen des Körpers plagte ihn und führten dazu, dass er auf einem Auge blind ist und nur noch ein Ohr hat. Herzinfarkte gefährdeten sein Leben. Seine Frau, 80 Jahre alt, steht treu an seiner Seite. Sein Glaube macht ihn auch jetzt noch stark. Er wartet gelassen und voller Freude auf den Tag, da er mit seiner Schwester und seinen Eltern vereint sein wird – möchte aber noch hier bleiben, um seine Urenkelin heranwachsen zu sehen und seine Frau nicht traurig zu machen.


* Von ihm selbst erzählt Mai 1978 (etwas verkürzt)