Gibbischen, Litauen
Ich heiße Lydia Lechner-Kosch, geborene Puzmys. Meine Mama sagt, dass ich am 18. November 1939 geboren bin, in Gibbischen in Litauen. Mein Vater heißt Kasimiras Puzmys und meine Mama Anna, geborene Kurschus. Aus meiner Kindheit gibt es nicht viel zu berichten. Ich bin ja am Anfang des Krieges geboren. Weil wir nichts zu Essen hatten, sind wir betteln gegangen.
Ich kann mich nicht sehr gut an diese Zeit erinnern. Aber ich erinnere mich an die Zeit, wo ich vier oder fünf Jahre alt war. Es gab Leute, die Hunde auf uns losließen. Sie hatten sicherlich mit vielen Bettlern zu tun, die nach Essen fragten. Spielzeug habe ich nicht gekannt. Patronenhülsen und Stöckchen waren meine Spielsachen. Wir waren sehr arm, richtig arm. Ich hatte keine Geschwister und war daher ein Einzelkind. Meine Mutter hat mich aber nicht verwöhnt. Sie war streng. Religion war damals „Opium für das Volk“, wie man sagte. Aber das habe ich noch nicht gewusst, als ich klein war. Mama hat mir erzählt, dass es einen Gott gibt und alles, was zu einer religiösen Ausbildung gehört.
Vater war im Krieg. Und als er zurückkam, musste er arbeiten. Er hat uns nicht viel erzählt, aber er war wohl in russischer Gefangenschaft. Wir hatten auch viel Angst, als wir unter der Besatzung der Russen lebten. Sie haben uns in Litauen von den Deutschen befreit. Meine Erinnerungen an den Krieg sind nicht sehr genau. Ich erinnere mich, dass Mama mich nachts in einen Graben schleppte und dass dann auch etwas explodierte. Aber ich weiß nicht viel davon.
Nach dem Krieg fing die schwere Zeit an. Ich kam dann in die Schule. Und in der Schule habe ich dann durch eine Lehrerin erfahren, die uns alles sehr gut erklären konnte, dass Religion Opium für das Volk sei. Damit sollte man für die Herrschaften gefügig gemacht werden. Man sollte gehorchen und nichts gegen an sagen. Ich habe immer alles geglaubt, was mir gesagt wurde. Zu meiner Mama habe ich allerdings gesagt: „Mama, wenn du wüsstest. Es stimmt gar nicht, was du da erzählst. Es gibt keinen Gott.“ Mama hat mir nur gesagt: „Kind, du wirst in deinem Leben noch erfahren, dass es einen Gott gibt.“ Und so war es. In die Kirche dort gingen wir selten. Es gingen nur alte Leute in die Kirche. Sie war auch nur höchstens einmal im Monat geöffnet.
Aber wenn wir ein Examen in der Schule hatten, dann habe ich manchmal gebetet. Man kann ja nicht wissen, ob nicht vielleicht doch etwas Wahres daran ist. Aber der Hammer war, Mama und die Familie wollten nach Deutschland fahren. Mama hatte ja noch deutsche Papiere. Und ich wollte nicht. Einmal lehnte ich ab, und das war gut. Das zweite Mal ablehnen ging auch noch. Aber es wurde gesagt, wenn man ein drittes Mal einreicht, dann wird nicht mehr abgelehnt. Dann bekommt man die Erlaubnis. Das war für mich schlimm. Ich konnte doch kein Wort Deutsch. Und ich war schon einundzwanzig Jahre alt. Dann habe ich angefangen intensiv zu beten. Ich sagte: Wenn es wirklich einen Gott gibt, dass lass uns zu Hause bleiben. Aber nichts passierte. Wir haben unsere Papiere bekommen und sind jetzt hier. Mama ist gestorben. Oma ist gestorben. Sie war mit uns gekommen.
Ich war sehr unglücklich hier. In Litauen waren wir lustig. Wir waren zwar arm, aber es war irgendwie fröhlicher. Nach der Arbeit auf der Kolchose sind wir nach Hause gegangen und haben gesungen und auf dem Akkordeon gespielt. Und hier ? Hier darf man doch gar nicht singen. Wenn du singst, sagen die einem, man ist verrückt. Ich habe nicht in der Stadt gewohnt. Auf der Kolchose war ich Traktorist. Ob Mann oder Frau, wir waren alle gleich. Und als ich nach Deutschland kam, da sagte man: Sie sind eine Frau. Sie sind nicht in Russland. Und hier konnte ich keinen Traktor fahren. Ach ja, es war schwer Zuhause, aber schön. Ich war dort sehr glücklich. Aber hier ist jeder für sich. Um die Häuser sind Hecken, die sind so hoch, dass ja keiner sieht, was dahinter ist. Warum? Ich denke, wenn eines Tages Zion ist, dann wird keiner so einen Zaun mehr haben. Man wird sagen: Guten Tag, Bruder, guten Tag Schwester.
Als ich mit einundzwanzig hierher kam, musste ich noch einmal in die Schule gehen. Ich hatte keinen richtigen Abschluss, den ich gebrauchen konnte und so bekam ich keine Arbeit. Dann habe ich Tankwart gelernt, und durch den Umgang mit Menschen deutsch sprechen gelernt. Als ich ausgelernt hatte, kam ich zu der Firma Nixdorf -Computer. Ich arbeitete in der Schlosserei. Dort lernte ich Schweißen mit den Männern. Ich war die einzige Frau in der Werkstatt.
Dann habe ich geheiratet. Irgendwann kamen die Missionare zu meiner Mama. Sie wollten etwas über Kirche und Religion erzählen. Mama sagte: „Ja, über Religion ist gut. Kommen sie herein.“ Und dann haben wir alle zugehört. Aber einer nach dem anderen aus meiner Familie kam nicht mehr zu den Belehrungen. Ich war ganz alleine da. Es war so interessant, diese Religion. Als die Missionare später über den Zehnten erzählten, blieben auch die Letzten weg. Wir wollten ja bauen, und dann noch Geld abgeben, das war zu viel. So war das. Ich habe nicht viel verdient. Für mich war es nicht schlimm.
Ach, es war schon lustig. Später, als ich bei Nixdorf arbeitete, stellte ich fest, dass die Leute sehr langsam gearbeiteten. Wir bekamen dort keinen Stundenlohn, wurden also stundenweise bezahlt. Und es ging so langsam. Ich war das nicht gewöhnt, und ich konnte mehr. Eines Tages hörte ich, dass die Kirche einen Fotografen brauchte für die Genealogie. Da habe ich mich gemeldet. Und bis jetzt habe ich fünfundzwanzig Jahre dort gearbeitet. Im Jahre 1962 sind wir nach Deutschland gekommen, und 1970 bin ich getauft worden. Und 1975 habe ich mit dem Fotografieren der Kirchenbücher begonnen.
Vor zwei oder drei Jahren habe ich aufgehört. Ich war der reisende Fotograf in Deutschland, auch in der Schweiz und zum Teil auch von Österreich. Überall in den Archiven habe ich die Kamera aufgestellt, alles fein justiert und dann fotografiert. Ich habe alles fotografiert, ob es Kirchenbücher oder Bücher vom Standesamt waren. Am Freitag wurden dann alle Filme verpackt und nach Salt Lake geschickt. Und dort wurden sie zu Mikrofilmen verarbeitet. Jetzt gehöre ich zum alten Eisen. Da ich nicht auf Mission gehen kann, mache ich ehrenamtlich einiges. Ich gehe nicht mehr fotografieren. Jetzt gehe ich in die Archive, doch wenn es sein sollte, springe ich wieder zum Fotografieren ein. Jetzt suche ich in den Archiven in den Repertoriumbüchern, was es dort noch zu finden gibt, was wir noch nicht haben. Eine Liste bekommt dann der Supervisor, Bruder Grasser. Er meldet mich im Archiv an. Er fragt dann, ob dieses oder jenes schon verfilmt ist. Und die Sachen, die ich gefunden habe, bekommt er dann. Ich habe gesagt, ich werde so lange für den Herrn arbeiten, so lange ich krabbeln kann.