Bremen, Freie Hansestadt Bremen
Ich bin Alma Irmgard Tranum, geborene Punke, als Achtmonatskind erblickte ich das Licht dieser Welt Am 30. August 1936, einem Sonntag in Bremen. Mein Vater, Georg Eduard Punke, geboren 1901, und meine Mutter, Marie Dorette Lackmann, geboren 1909, haben 1928 geheiratet. Die Ehe bestand nur 15 Jahre, denn in 1943 wurden sie auch geschieden.
Ich hatte jedoch eine sieben Jahre ältere Schwester Marianne und einen zwei Jahre älteren Bruder Günter. Als ich etwa drei Jahre alt war, hat uns Mutter verlassen. Mein verzweifelter Vater brachte mich zu Oma Zanke. Sie hieß Katharine Wilhelmine Hogrefe, verheiratet mit Emil Lackmann, später jedoch geschieden. Sie war dann zum zweiten Mal verheiratet mit Paul Zanke. Also diese Oma Zanke hat mich zu sich genommen und wir hatten uns sehr lieb. Meine Schwester Marianne blieb bei meinem Vater und galt mit zehn Jahren als „Erwachsene“. Mein Bruder Günter blieb unten im unserem Haus in der Plünkenstraβe 12 bei Vaters Bruder Gustav und dessen Frau Eliesabeth.
Zu all den ohnehin schon schwierigen Verhältnissen in meiner Familie kamen nun auch noch die verwirrenden Umstände, die ein Krieg mit sich bringt. Als der ungerechte Angriffs- und Eroberungskrieg Hitlers immer länger und heftiger wurde, sollten Kinder aus Gefahr, ins Landesinnere gebracht werden. Eine ganze Organisation zur Kinderlandverschickung wurde ins Leben berufen. An den Tag der Abreise, kann ich mich sogar erinnern, obwohl gerade erst vier Jahre gewesen! Irgendwann im Winter 1940 wurde ich mit vielen anderen Kindern auf dem Hauptbahnhof Bremen in einen Zug verfrachtet, dessen Fenster geschwärzt oder mit Brettern vernagelt waren. Es war spät abends und dunkel. Die Kindertransporte geschahen nachts. Helles Licht verboten, damit feindliche Flieger uns nicht sehen konnten.
Viele Nächte rollten die Kindertransporte von Nord nach Süd. Die Großstädte im Norden waren ziemlich kinderfrei. Da alle gesunden Väter zu den Soldaten mussten, blieben nur junge Damen, Mütter, und Großeltern zurück. Diese mussten schwer arbeiten an den Stellen, die sonst Männern vorbehalten blieben. Besonders die Waffenindustrie, Flugzeug und Schiffbau wurden wichtig. Machtgier und der Glaube an das Großdeutsche Reich, ja Unbescheidenheit, machte aus diesem Angriffskrieg die endliche Niederlage. Aber es wurden ja noch sechs Jahre mit der Vergewaltigung des Geistes gefüllt. Verfolgung, Hunger, Sorge um Väter im Krieg, Bespitzelung, und vieles Andere hatte fast jeder auszuhalten.
In dieser Zeit fand meine frühe Kindheit statt. So brachten mich der 2. Weltkrieg und ein Nachttransport am Morgen eines kalten Wintertages nach Zwickau. Ein Teil der Kinder stieg aus, auch ich. Frierend, weinend, saßen wir auf unseren wenigen Gepäckstücken. Da beugte sich eine besorgte freundliche Frau zu mir und legte einen großen Pelzkragen unter dem ich ganz verschwand, um meine Schultern. Es war Tante Ina! ich wurde auf einen Schlitten gehoben und durch das tief verschneite Zwickau gezogen.
Marie Frieda Wuestner, geborene Dobernecker und Ernst Arthur Wuestner, Römerplatz 5 wurden nun meine Pflegeeltern und boten mir ein „Zuhause“ an. Tante Ina (Frieda konnte ich nicht aussprechen) war 53 Jahre als ich sie zu nochmaligen Mutterpflichten gerufen habe. Ihre eigene Kinder waren 14 und 16 Jahre, Helene und Joachim.
Wunderschöne Kinderjahre habe ich in der liebevollen Fürsorge meiner Pflegeeltern verbracht. Etwas ganz besonders war es n einem Haus mit Kirche (Evangelisch) wohnen zu dürfen. Viele Versammlungen wurden heimlich abgehalten, oder man traf sich privat. Dennoch wohnte die Pastorenfamilie und der Organist sowie ach der Küster (ein Kirchenhausmeister) auch im Haus. Bei Pastors gab es sehr viel Hausmusik mit Zither, Geige. Flöte und Gesang. Das waren unvergessliche Stunden für mich.
So eilten schöne, aber auch entbehrungsreiche Jahre dahin. Mit sieben Jahren kam ich in die Schule. Man lernte nicht so viel, da die Klassen 40 und mehr Schüler hatten und der Unterricht, durch die Alarm-Sirenen oft abgebrochen wurde. Im letzten Kriegsjahr wurde der Unterricht immer weniger, auch die Lehrer, die nun doch noch zu den Soldaten gerufen wurden.
Auch meine entbehrungsreichen, aber glücklichen Kindertage fanden 1945 ihr Ende. Die letzten Kriegstage hatten auch Zwickau ereilt. Jede Nacht wurden wir von Alarm geweckt und eilten in den Keller. Das ging sehr schnell, denn wir gingen bekleidet ins Bett. Jeder nahm nur sehr schnell sein Köfferchen und eilte los. Als dann Amerikaner einrollten mit Panzern, also Befreier, brach Jubel los, obwohl es uns etliche Jahre schlecht ging und es an allem mangelte.
Aber zunächst sollten die Kinder zurück in ihre Heimat. Nur diesmal war keine Organisation vorhanden. Zuggleise waren zerstört, Bahnhöfe unbrauchbar. Nun war zwar Zwickau zuerst amerikanisch besetzt, aber die Russen nahten noch und so galt es zu eilen, da es wohl sonst kein Entkommen gab. Und Grobheit, Willkür und Schikanen vom Sieger zu erwarten waren, worin sich besonders die Russen hervortraten.
Ehemalige Hitler-Soldaten und Beamte, wie auch Onkel Arthur, wurden gesucht und eingesperrt. So tauchte er, wie viele andere, unter. Aber ich sollte nach Bremen, wieder mal heimlich und nachts und er holte mich ab. Und dann ging es zu Fuß quer durchs Land. Aber nicht wie ein Ausflug, sondern stets nur nachts, durch Wälder über Stock und Stein, in leeren Bachläufen und immer in Begleitung der Angst, dass man erwischt wird. Am Tage haben wir uns zu Schlafen versteckt. in Heu in Scheunen und Ställen. Unsere Wanderung dauerte etwa acht Wochen. Wir sind etwas von Zwickau nach Altenburg, Weißenfels, Merseburg bis Halle gezogen, wobei wir entlang der Grenze immer wieder versucht haben, an dem postierten Wachposten vorbei, über die doch erst neue und imaginäre Grenze in die amerikanische Zone zu gelangen.
Unterwegs zur Gruppe von etwa 25 Personen angewachsen, wurden wir von den Russen erspäht und mit entsicherten Maschinengewehren im Rücken abgeführt. In einer Grenzposten Baracke wurde uns Wichtiges und Unentbehrliches weggenommen. Der Soldat warf alles hinter sich auf ein Bett, was er aus allen Taschen entwendete. Kinder, von den Russen meist geliebt, wurden nicht durchsucht, das bemerkte ich sehr schnell. Jedenfalls saß ich als „abgehakt“ auf jenem Bett und sammelte die aller wichtigsten Dinge wieder ein. Ausweise und Brillen fand ich am Wichtigsten, so verstaute ich diese heimlich in meinen Strümpfen, Ärmeln, und Taschen. Eigentlich waren aber so viele Soldaten im Raum in dem so etwas 20 Betten waren, dass ich das gar nicht unbemerkt tun konnte. Also hatten die Anwesenden Mitleid und Verständnis, oder der Vater im Himmel hat sie für mein Tun blind gemacht.
Nach dieser ganzen Aktion wurden wir wieder freigelassen und sollten zurückgehen. Da war aber nicht unser Ziel. Wir teilten uns in kleine Gruppen wodurch wir uns ein leichteres Gelingen, der Flucht über die Grenze erhofften. Aber nach wenigen Nächten liefen wir geradenwegs wider in eine Falle. Es war ein großes Bauer-Gut, welches die Russen besetzt hatten. Da wir wieder vom weitem gesichtet wurden, gab es kein Vorbeikommen. Hier wurden wir eingesperrt drei Tage in Viehstallungen, die vergittert waren und vor dem ständig bewaffnete Soldaten hin und her gingen. Wir schliefen auf dem Steinfußboden und lagen mit anderen in wurmender Enge. Zur Klobaracke wurden wir mit dem Gewehr im Rücken begleitet. Einmal täglich gab es Wasser und trocken Brot. Nach drei Tagen wurden wir in kleine Gruppen geteilt und anderswo wieder eingesperrt. Zum Glück wurde ich nicht vom Onkel Arthur getrennt.
Wir waren nun in einem Steinhaus; ich denke heute es war eventuell ein Vorratshaus des Bauern. Dort waren wir mehrere Tage. Ich weinte Tag und Nacht und war nicht zu trösten, dachte ich doch hier solle ich nun für immer sein und langsam verhungern. Doch wir kamen wieder raus und es ging weiter. In Halle verlautete, ein Zug könne uns heimlich „rüber“ nach Braunschweig bringen. Nachts stiegen wir ein, im dunkel, die Fenster vernagelt mit Brettern, die Türen von Innen mit Seilen zugezurrt, ging es los. Wir fuhren mehrmals los, kamen aber unter russischen Beschuss so bald wir entdeckt wurden. So fuhren wir wohl 2-3-mal hin und zurück. Alle lagen flach auf dem Boden. Die Fenster waren schon gesiebt vom Beschuss. Die Russen dachten wir sind hin. „Stille sein“ war de letzte verzweifelte Versuch. Wir versuchten es noch einmal und schafften es irgendwo auf der Strecke in die amerikanische Zone.
Jeder hat beten gelernt in all der Not. Nun knieten wir am Wegrand, alle, und dankten dem Vater für unser Leben und unsere Freiheit. Nachdem wir auf einen großen Bauernhof mit Hotel und Gasthaus gebracht wurden, hatten wir seit Wochen ein lang ersehntes sauberes Bett und Zimmer. In diesem Anwesen mussten wir erstmal bleiben, bis alle Papiere geregelt waren.
Nach drei oder vier Wochen war alles soweit geregelt und behandelt, dass wir weiter durften. Es ging zwar immer noch zu Fuß, aber nun angstfrei und am hellen Tag. Als wir im sehr zerstörten Bremen ankamen, habe ich mein Elternhaus sofort erkannt. Vater war allein da. Der Schreck meiner Kindheit, dass Mutter fortgelaufen war, holt mich schmerzlich ein. Die Wunde, die Tante Ina liebevoll, schweigend, verbunden hatte in all den Jahren brach auf. Meine Geschwister, die auch in Sachsen verteilt waren, kamen auch in den nächsten zwei Wochen in Bremen an. Onkel Arthur besuchte einige Bekannte und zog weiter Richtung Zwickau.
Meine Schwester blieb dann bei Vater wie schon früher. Ich kam zu Mutter. Und mein Bruder kam zu einem entfernten Verwandten Onkel irgendwo bei Syke. Nun wohnte ich in Wienbergen bei Hoya an der Weser. Meine Mutter lebte dort mit einem Kriminalkommissar und seiner jüngster Tochter zusammen. Dieser Mann, Carl Pfeng, war mein neuer Papa. Nun hatte ich einen Papa der mich nicht recht mochte, der mir fremd blieb.
Ich litt unter Heimweh und fühlte mich verlassen, entwurzelt. Der Vater im Himmel, den ich so lange lieb hatte, wurde nun mein Zuhörer, Vertrauter, Helfer und Freund. „Bete immer, vergiss es nie“, hatte mir Tante Ina auf dem Weg gegeben.
Ich kam in die dritte Klasse unserer Dorfschule. Es war ja gerade Kriegsende; Lehrer waren knapp. So hatten wir einen über 70 Jährigen Lehrer, Herr Probst. Er war sehr gottesfürchtig und unser Unterricht begann immer mit einem Kirchenlied und einem Gebet. Trost meiner Seele; denn im Dorf waren wir Flüchtlinge, nicht beliebt. Irgendwie lernten wir aber wohl doch das Wichtigste: Schreiben, Lesen, Rechnen, Musik und Religion. Drei Jahre ging ich dort zur Schule.
Es waren Jahre in denen immer noch Not und Hunger herrschten. Wir Dorfflüchtlinge gingen zu den Bauern und baten um die Kartoffelschalen und Gemüseabfälle, um die für uns zu einem Mittagessen zu verwenden. Es gab kein Mehl, das Brot wurde aus Mais gebacken und schmeckte mir recht bitter. Nun hatten wir auf dem Land zwar Gemüse und Obst, auch Fleisch durch die Tiere, aber vieles wurde bei Tauschaktionen, „Hamsterfahrten“ in die noch ärmeren Städte getragen. Ganz Deutschland schien immer mit Rücksäcken unterwegs zu sein. Geld verlor mehr und mehr an Wert. 1948 kam die große Währungsreform. Jeder Bürger bekam 40 Deutsche Mark, egal wie viele Reichsmark er besaß.
Nach der Währungsreform sollte ich nicht mehr in Wienbergen bleiben. Ich sollte nach Bremen zu meinem Vater. Da meine Schwester heiratete und nun in Vaters Wohnung wohnte, hatte mein Vater sein Quartier in der Kornstraße aufgeschlagen und wohnte bei einer Kriegswitwe, Irma Wiese, und Ihren zwei Töchtern Liesel und Margret. Wieder neue Familienverhältnisse für mich, neue größere, wenn auch jüngere „Schwestern“ und eine fremde Frau zu der ich „Mutti“ zu sagen hatte. Es war wieder mal furchtbar für mich. Obwohl „Mutti Wiese“ gut zu mir war, konnte auch sie nicht in mein Herz wachsen.
Meine geliebte Tante Ina wurde meine Ina Mutti. Viele Briefe schrieb ich ihr. Aber die Antwortbriefe wurden mir vorenthalten. So war ich, wie so oft, allein mit Gott, von dessen Liebe und geistigen Umarmungen, seinem Trost, ich zutiefst durchdrungen war. Ich durfte zur Kirche gehen, wurde aber immer ausgelacht deswegen.
Mit 15 Jahren kam ich aus der Schule, aus der 8.Volksschulklasse. Ich lernte sehr gern, aber mir fehlten die Möglichkeiten und die Unterstützung von zu Haus. Vater hatte kein Geld, wir lebten doch von der Witwenrente. So sollte ich für mich allein sorgen. Es war 1951 als ich eine Anstellung als Hausgehilfin bei Herrn Kammersänger Theodor Schlott und seiner Familie antrat. Die Arbeit war schwer, aber es gab viel Musik und viele Supergäste. Es war alles, was ich so sehr liebte; ich wollte wohl immer in diesem Haus arbeiten, um ja keinen Ton, kein Lied zu entbehren. Aber Vater sagte nun, ich solle ganz zu Haus ausziehen. So musste ich mich nach zwei schönen Jahren von meinen Herrschaften verabschieden, und zog in eine „ganztags“ Stelle.
Nun hatte ich eine neue Anschrift und es stellte sich heraus, dass meine gute „Inamutti“ mir immer geschrieben hatte. Ich ahnte es, aber nun war es Gewissheit. Unser Briefwechsel führte dazu, dass Tante Ina mich einlud. Ich fuhr in die schreckliche DDR zurück aus Heimweh nach Inamutti. Dort blieb ich 1½ Jahre. Im Westen gab es schiene Bananen und manchmal Apfelsinen, in der DDR nicht. Überhaupt herrschte dort noch immer großer Mangel an allem!
Im April 1954 fuhr ich also wieder nach Zwickau. Ich kam nachts an von Leipzig, wo ich umsteigen musste. Ich fühlte mich ständig beobachtet. Mein Gefühl hat sich als Wahrheit herausgestellt. Als ich ankam war es stockdunkel. Es gab weder Reklame noch helle Schaufenster; erst recht keine Straßenbeleuchtung. Aber Inamutti holte mich mit einer Taschenlampe ab.
Zuerst war es Urlaubswochen, doch ich mochte mich nicht trennen. Meine lieben Pflegeeltern wollten mich auch so gern behalten. Es wurde handfest geplant und ich „eingebürgert“ in ein Regime von Kommunisten. Aber das begriff ich erst als ich länger dort war. Als sehr beobachtete Bürger aus dem Westen durfte ich eigentlich fast alles. Ich bekam sofort Arbeit in einem Herrn Bekleidungsfabrik, wo ich am Fließband die einzelnen Positionen besetzte, um zu lernen, wie ein Anzug genäht wird.
Aber das war nur mein Broterwerb. Meine Freizeit wurde weitaus schöner erfüllt. Ein Klavierlehrer wurde gefunden und ich lernte fleißig; eine Opernsängerin wurde meine Gesanglehrerin. Nach etwa drei Monaten bewarb ich mich im Zwickauer Gewandhaus, dem Stadt Theater, als Chorsängerin. Nun ging ich täglich von 8:30 – 12:30 zur Theaterprobe. Ich lernte Schwindel erregende Partituren lesen.
Die Operette, die goldene Meisterin, war als erstes dran. Ich wurde mit langen Zöpfen geziert, hatte ein langes rosa Kleid an und saß auf einer Bank mitten auf der Bühne als sich zum ersten Mal der Vorhang auftat vor mir. Es folgten die Oper die lustigen Weiber von Windsor, Madam Butterfly und auch viele andere Veranstaltungen gemischter Melodien, die nicht im Gewandhaus, sondern in umliegenden Orten von uns dargebracht wurden.
Die Chorstunden wurden mir aber noch nicht mit einem Staatsgehalt bezahlt. Ich hatte ja noch kein Examen vorzuweisen – so habe ich denn auch noch irgendwie etwas dazu verdient. In der Mittagspause, vor dem privaten Klavier und Gesangunterricht, ging ich für einige Wochen zur Müllabfuhr. Zwischendurch brauchte ich aber auch mal Pausen. So machte ich Verschiedenes immer für ein paar Wochen. Ich nähte nachts in Heimarbeit Büstenhalter. Ein anderes Mal war ich im Städtischen Krankenhaus beschäftigt. Mein Leben war wirklich vielseitig. Wenn ich nachts vom Theater kam oder auch mal frei hatte, habe ich auch meiner Inamutti die Wohnung geputzt.
Ich meldete mich am „Robert Schumann Konservatorium an, um dort Musik zu studieren. Ich belegte an zwei freien Nachmittage in der Volkshochschule die Fächer Russisch und Ökologie, das wurde mir noch zur Bedingung gemacht, bei der Aufnahmeprüfung zum Konservatorium, die ich gut bestand. Meine Lehrjahre, für die ich weder Lohn des Meisters, noch Diplom erlangte, waren dennoch das schönste Erlebnis meines Lebens.
Bei verschiedenen „Volkskunst-Gruppen“, die es in der DDR gab, bewarb ich mich, erhielt überall Einladungen. So reiste ich denn auch an mehrere Orte, um vorzusingen. Nach der praktischen Prüfung kam irgendwann überall die Frage nach meiner politischen Einstellung und wo ich denn tätig sei. Es gab drei Möglichkeiten: 1) Eintritt in die Sozialistische Partei; 2) Eintritt in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, den FDGB; 3) Eintritt in die FDJ, Freie Deutsche Jugend.
Da ich aber meinen Eintritt in eine kommunistische Organisation stets verweigerte folgte immer: „wir können Sie leider nicht aufnehmen.“ Ich wurde wiederholt aufgefordert, politisch aktiv zu werden. Aber ich konnte dort nicht eintreten: Sie waren gottlos! Gott verleugnen, das konnte mein Herz nicht. Immer wieder fand ich Mut und Kraft mit dem ständig, drängenden Gewerkschaften heiße Diskussionen zu führen. Das hatte Folgen. Ich wurde als „Werkspion“ betrachtet. Ich musste aufhören am Theater nach einer weiteren Befragung, wegen der Parteizugehörigkeit. So endete unter unstillbaren Tränen mein Traum. Ein erfülltes herrliches Jahr, mit Arbeit und Erfahrung war wie ein beglückender Rausch verflogen.
Tante Ina hatte in Thüringen Bekannte. Zu ihnen fuhr sie jedes Jahr, um ein wenig zu helfen. Jetzt bat sie mich ihr diese Aufgabe abzunehmen. In Waldau kam ich zur Familie Amm. Vater Amm war Musiker! Schlagzeuger einer Unterhaltungskapelle, nicht als Hobby. Es war sein Beruf. So war er jeden Abend unterwegs. Mutter Amm war krank und wurde gerade zur Kur geschickt. Oma Amm, 75 Jahre jung, hatte alle Fäden in der Hand. Haus, Pension für etwa zehn Gäste und Landwirtschaft. Wie sah die Heilmethode meines bekümmerten Herzens aus? Arbeit, Arbeit, Arbeit. Für Tränen oder Selbstmitleid hatte ich gar keine Zeit. In Waldau feierte ich meinen 18. Geburtstag. Eine Feier, mit ganz normalem Arbeitsablauf von früh um 5:00 bis nachts um 11:00 täglich. Vier Monate.
Auch die Zeit in Thüringen fand ein Ende. Ich fuhr zurück nach Zwickau und bereitete meine wieder verborgene Abreise vor. Die DDR Behörden durften nicht wissen, dass ich nun doch für immer ausreisen wollte. Sie hofften wohl auf meinen Sinneswandel. Notgedrungen, schrieb ich meinem Vater nach Bremen, er möge mir ein ärztliches Attest schicken, dass seine schwerste Erkrankung bescheinigt. Dies war die einzige Möglichkeit meinen „sterbenden“ Vater mit einem DDR Urlaubsschein zu besuchen. So konnte ich nur mit Hilfe dieser Lüge über die Grenze reisen in den Westen und nach Bremen.
Es war im Oktober als ich wieder nach Bremen kam, völlig geblendet vom Lichtermeer; ich kam doch aus der noch immer düsteren DDR. Es gab noch immer Ruinen in Bremen, noch immer Wohnungsnot. Aber es gab Arbeit, Kleidung und wenn man keine Ansprüche stellte, wurde man auch satt. Es war 1955!
Ich suchte lange vergeblich eine Anstellung, bis ich auf eine Familie Noltenius stieß. Noltenius war ehemaliger Bürgermeister von Bremen! Diese Familie war mit ihm verwandt, sie begriffen mein Problem und gaben mir den erhofften Arbeitsplatz. Sofort bekam ich auch gültige Ausweispapiere. Nun hatte ich wieder Arbeit und Quartier, aber ich fühlte mich leer, heimatlos in der Heimat. Ich traf eines Tages meinen Bruder. Er beteuerte Vater wollte mich sehen, so ließ ich mich erweichen und wir trafen uns. Es war ein erträgliches Treffen.
Weihnachten nahte. Ich war bei den Großeltern Zanke zu Besuch; wir gingen gemeinsam in ein Lokal. Dort sah ich Günther! Die Tochter des Lokalbesitzers war mit Oma befreundet, so kam sie eines Tages als ich Oma wieder besuchte dazu und bestellte mir Grüße von jenem hübschen jungen Mann, der mich vom ersten Sehen an so gern mochte, das er mich gern kennen lernen möchte. Ja, so kam unsere erste Verabredung durch eine dritte Person zustande. Am letzten Tag des Jahres lernten wir uns kennen. Ich war 20 Jahre, Günther 23 Jahre. Das Jahr 1956 begann mit diesem hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft.