Tetschen, Bodenbach, Sudetenland
Ich heiße Christa, Elsa Perle. Mein Mädchenname lautet Russ. Ich wurde am 13. Juli 1937 in Tetschen Bodenbach an der Elbe im Sudetenland, im heutigen Tschechien, geboren. Mein Vater hieß Anton Karl Russ und meine Mutter Irmgard Storch. Wir waren eine glückliche Familie bis in das Jahr 1942. Ich wurde von meiner Großmutter, mit Namen Anna Storch, geborene Slawik, erzogen, da meine beiden Eltern arbeiten mussten. Wir wohnten in einem Zweifamilienhaus, und in diesem Hause war unten eine Fahrradwerkstatt. Wir wohnten über dieser Werkstatt in einer Einzimmerwohnung mit meiner Großmutter.
Meine Tante, die später noch sehr wichtig für uns war, wohnte eine halbe Etage weiter über uns. Meine Tante war die jüngste Tochter meiner Großmutter, und sie hieß Else Brust. Es war im Jahre 1942, als die ersten Flugzeugangriffe kamen. Ich stand mit meiner Großmutter, ich war damals fünf Jahre alt, in Tetschen nach Lebensmitteln an in einer Schlange. Die Tiefflieger kamen und beschossen uns. Die Leute spritzten auseinander. Es waren zum Glück rechts und links Felder. Dort auf die Felder haben wir uns hingeworfen. Glücklicherweise sind weder meine Großmutter noch ich verletzt worden, aber viele andere Menschen. So ging es über eine lange Zeit weiter.
Von unserem Haus in Altstadt, Vorort von Tetschen, konnten wir nach Dresden schauen. Und wir haben gesehen, wie das Bombardement von Dresden stattfand. Es wurden so genannte Christbäume abgeworfen. Sie sahen aus wie solche, aber dadurch sahen wir die Angriffe auf Dresden. Oft wurde unsere Nachtruhe durch Fliegeralarm gestört. Es waren mehrere Jahre, dass wir mit dieser Situation leben mussten.
Mein Vater wurde zum Militär eingezogen. Er war in Russland stationiert, in Dnjepropetrovsk. Wir hatten wenig Kontakt zu ihm, so dass wir drei Frauen, wenn man mich als Frau bezeichnen darf, allein waren. Es war im letzten Kriegswinter, als mein Vater noch ein Mal Heimaturlaub bekommen hat und ich Scharlach hatte. Es ist eine Kinderkrankheit, die damals oft zum Tode geführt hat. Mein Vater war natürlich schon älter und ist sehr schlimm an Scharlach erkrankt. Unser Glück war, dass er nicht mehr eingezogen wurde, sondern er konnte zu Hause bleiben. Es war in sofern eine ganz schlimme Zeit, weil wir an der Elbe lebten. Um von Tetschen nach Bodenbach zu kommen, musste man die Elbe überqueren. Wir konnten nur mit der Fähre von einem Ort zum anderen gelangen. Und es gab sehr viele Tote, die auf der Elbe schwammen. Diese sahen natürlich nach mehreren Tagen im Wasser schrecklich aus. Der Fährmann musste dann mit der Stange die Leichen zur Seite schieben, um überhaupt die Elbe überqueren zu können.
Mein Vater war zu Hause, weil es ihm wirklich sehr, sehr schlecht ging. Und die Russen überrollten uns. Sie liefen durch die Straßen und riefen: „Frau“ und „Uri, Uri.“ Sie wollten Uhren haben. Ich war zum Glück noch sehr jung; aber meine Mutter war eine junge, attraktive Frau. Und wir hatten Angst. Wir waren unterwegs, und die Russen sind gekommen. Die einzige Möglichkeit für meine Mutter sich zu verstecken war, dass sie sich in den Bach gelegt, ein Schilfrohr genommen und dadurch geatmet hat. Sie war so durch das Schilf gedeckt, dass man sie nicht sehen konnte. Die Männer sind dann an uns vorbei gerannt. Ich stand natürlich vor Angst zitternd da und wusste nicht, was eigentlich vor sich ging, warum sie sich in den Bach gelegt hatte. Man kann von einem Kind in diesem Alter nicht erwarten, dass es weiß, worum es geht. Meine Mutter war eine attraktive, junge Frau. Aber als sie aus dem Wasser wieder herauskam, war sie weißhaarig. Vorher hatte sie braune Haare. Wie weit mein Vater dieses alles mitbekommen hat, das weiß ich nicht, weil er immer im Fieber lag. Denn damals war Scharlach eine wirklich sehr schlimme Krankheit.
Wir wurden herausgerufen von den Russen. Wir sollten alles stehen und liegen lassen und sollten uns in Viererreihen aufstellen. Ich durfte nicht einmal meine Puppe mitnehmen. Gerade so, wie wir angezogen waren, hieß es: „Heraustreten.“ Mein Vater war damals, bevor er nach Russland verlegt wurde, ein Schuhmacher. Er war Schuhmacher in Tetschen bei einem tschechischen Arbeitgeber. Und dieser tschechische Arbeitgeber ist zu den Russen gegangen, zu den Offizieren und hat gesagt: „Wir brauchen den Anton Russ Ich habe niemanden für meine Werkstatt. Wir brauchen ihn.“ Er konnte den Offizier überreden, dass wir heraustreten durften, um mit diesem tschechischen Arbeitgeber nach Tetschen zu gehen. Wir kamen nach Tetschen und hatten nur das, was wir an Kleidung an uns trugen. Wir wurden in eine verlassene Wohnung in Tetschen einquartiert. In dieser Wohnung fanden wir, dass die vorigen Bewohner eine Doppelwand eingezogen hatten, und zwischen diesen Doppelwänden fanden wir Betten. Diese Betten haben wir uns herausgeholt, weil es keine Eigentümer mehr gab. Sie waren vertrieben worden. So hatten wir wenigstens etwas zum Schlafen. Wir waren ungefähr ein Jahr dort. Mein Vater war inzwischen wieder gesund geworden. Und dann kamen die Tschechen. Die Tschechen haben uns wieder aus den Wohnungen herausgeholt. Dieses Mal war niemand da, der uns hätte helfen können. Wir wussten, dass alle, die herausgeholt wurden, in den Osten verfrachtet wurden.
Ich hatte vorher meine Tante erwähnt, die mit bei uns in dem Haus gewohnt hat. Die hatte inzwischen nach Stuttgart geheiratet. Sie hatte immer Eingaben an die Regierung geschrieben, dass sie unbedingt ihre Mutter und ihre Schwester, das waren wir, bei sich in Stuttgart haben möchte. Durch diese vielen Eingaben war der Name von uns bekannt. Sie hat erreichen können, dass wir zu ihr nach Stuttgart kommen konnten. Sie hat uns eingeladen zu kommen. Das war unser Glück. Wir wurden nicht in den Osten transportiert, sondern wir durften zu meiner Tante. Wir wurden in Viehwaggons verladen, in denen es oben nur ein kleines Fenster gab und dann die große Schiebetür. Von hier wurden wir nach Rostock gebracht.
Von Rostock ging es dann nach Stuttgart; aber diese Reise hat ein ganzes Jahr gedauert. So lange waren wir unterwegs. Der Zug fuhr nicht ununterbrochen. Es gab nichts zum Essen. Alle paar Stationen, wenn der Zug hielt, dass man die Verstorbenen herausholen konnten, waren Schwestern vom Roten Kreuz da, die uns eine Tasse mit Suppe gegeben haben, so dass wir etwas zu essen hatten. Wir waren von 1945 bis 1946 unterwegs. Im Frühjahr 1946 kamen wir dann in Stuttgart an. Die Menschen sind in den Waggons weggestorben. Für die vielen Menschen, gab es nicht genügend Möglichkeiten, auszutreten. Es gab nur einen Kübel. Es gab keinerlei Freiraum. Mein Vater, der zum Glück bei uns war, hat mir eine Hängematte gemacht. Und da ich ein Kind war, konnte ich in dieser Hängematte unter der Decke dieses Viehwaggons sein. Die Stationen, an denen wir gehalten haben, die weiß ich nicht mehr. Aber als wir nach Rostock kamen, hat mein Vater vier Wochen lang gearbeitet als Steinmetz, damit wir von hier aus weiterfahren konnten nach Stuttgart, auch wieder im Viehwaggon. An den anderen Haltestellen durften wir nicht aussteigen. Es war ein sehr langer Zug, alles Viehwaggons, in denen wir ein Jahr lang dahin vegetierten. Das war kein Leben. Das Glück war, dass wir zusammen waren, meine Eltern, meine Großmutter und ich.
Als wir dann hier in Stuttgart ankamen, im Jahre 1946, kamen wir erst in ein Lager. Es war das Lager Friedland. Dort wurden die Flüchtlinge alle gesammelt, die angekommen waren. Dort waren wir vier Wochen in der sogenannten Quarantäne. Aber diese bestand darin, dass wir morgens von Flöhen zerstochen aufwachten und von Läusen gebissen worden sind. Also woraus diese Quarantäne nun bestand ist mir unklar. Wir sind aufgewacht und waren total verschwollen von all den Floh- und Läusebissen. Bevor wir entlassen wurden und nach Stuttgart fahren durften, wurden wir entlaust. Aber es gab immer noch keine neuen Kleider für uns. Es waren die Sachen, die wir das ganze Jahr getragen hatten. Es gab auch keine Möglichkeit, sich zu waschen. Es gab nur die Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen. Wir starrten vor Schmutz. Und wir stanken. Dass wir überhaupt aufgenommen worden sind. Aber wir waren ja nicht die Einzigen. Es gab unheimlich viele Flüchtlinge.
Meine Tante und mein Onkel hatten keine Kinder und wohnten in einer Dreizimmerwohnung. Das war zur damaligen Zeit zu viel Wohnraum für zwei Personen, deswegen wurde von der Regierung eine Familie mit drei Personen in eines der Zimmer eingewiesen. Dann sind wir alle noch dazu gekommen, mein Vater, meine Mutter, meine Großmutter und ich. Dann wurde noch eine Tochter meiner Großmutter mit aufgenommen. Da das alles unsere Familienmitglieder waren, musste mein Onkel auch von seiner Familie noch zwei Personen aufnehmen. So waren wir am Ende in dieser Dreizimmerwohnung mit dreizehn Personen. Fünf Jahre haben wir so zusammen gelebt.
Die Kirche habe ich hier kennengelernt. Im Nachhinein habe ich festgestellt, dass der Vater im Himmel mich mein Leben lang, bis ich die Kirche kennen- gelernt habe, geführt hat, und auch später. Und ich habe es nicht gewusst. Wenn man später darüber nachdenkt, dann spürt man die Führung. Denn ich weiß bis heute nicht, wie wir überlebt haben. Ich weiß es nicht. Und es geht ohne die Hilfe des Vaters im Himmel nicht, so eine lange Zeit zu überleben. Hier habe ich die Kirche kennengelernt und später meinen Mann
Wie ich die Kirche kennengelernt habe, das ist eine besondere Geschichte. Es geschah durch meine Freundin und Arbeitskollegin, die in Wäldenbronn, das ist in der Nähe von Esslingen, lebte.
Missionare sind zu ihr und ihrer Familie gekommen im Jahre 1957. Die Missionare haben sie eingeladen. Zu der damaligen Zeit gab es in Stuttgart noch sehr viele amerikanische Soldaten mit ihren Familien. Wir gehörten zu der sogenannten amerikanisch besetzten Zone. Sie sind in die Birkenwaldstraße gegangen, wo die Gemeinde untergebracht war und Gottesdienste abgehalten wurden. Und als wir eingeladen wurden, war ein Tanzabend.
Ich komme aus keiner religiösen Familie. Ich war zwar katholisch, aber nicht aus freier Entscheidung, sondern weil es in diesem Umfeld einfach so war. Für meine Freundin und mich war es selbstverständlich, dass wir am Sonntagnachmittag zum Tanztee gegangen sind. Dann haben wir die Einladung in das Gemeindehaus bekommen.
Auf meinem Weg zur Arbeit bin ich täglich am Gemeindehaus vorbeigelaufen. Die jungen Mädchen damals waren nicht so keck wie heute. Ich hätte sehr gerne gewusst, was das mit dem Haus auf sich hat, aber ich hatte Angst, dort alleine hineinzugehen. Ohne Freunde sind wir auch nirgends hingegangen.
Das war nun die Gelegenheit, hinter diese Türen zu schauen, und so habe ich meiner Freundin gesagt, dass ich mitgehe. Das Schöne war, im Gegensatz zu den Tanztees, dass nicht getrunken wurde, nicht geraucht wurde, einfach so, wie es bei uns in der Kirche ist. Das hat uns sehr gefallen. Es hat uns auch gefallen, dass die jungen Männer, die mit uns getanzt haben, uns nicht abgetastet haben. Es ging alles sehr ordentlich und schön von statten. Als wir das nächste Mal eingeladen wurden, wurde zuerst eine Fireside abgehalten, und wir sind wieder hingegangen. Und so sind wir langsam mit den Mitgliedern in Kontakt gekommen. Das Missionarsprogramm damals war nicht so wie heute. Ich bin nur dreimal von Missionaren besucht worden. Einmal haben sie über das Gebot der Reinheit mit mir gesprochen, einmal haben sie mir den Zehnten erklärt, und das dritte Mal haben sie mit mir über das Wort der Weisheit gesprochen. Dann habe ich ein Buch Mormon in die Hand bekommen. Bei den Katholiken damals gab es keine Bibel in den Häusern. Es gab einfach keine heiligen Schriften. Ich kannte die Bibel eigentlich nur aus dem Religionsunterricht. Selbst gelesen hatte ich nie etwas. Nun hatte man mir einfach so das Buch Mormon in die Hand gedrückt. Ich konnte nichts damit anfangen und habe es wieder zur Seite gelegt. Ich habe wohl ein bisschen gelesen, aber dachte nur: „Was soll das?“ Aber ich bin regelmäßig zu diesen besonderen Abenden gegangen, jeden Samstag war etwas.
Mein Mann war damals GFV-Leiter und hatte immer alles organisiert. Und es war wunderschön. Das war mein erster Kontakt mit der Kirche. Dann habe ich bei den Tanzabenden meine heutigen Schwägerinnen kennengelernt. Sie haben mich nach Hause eingeladen. Dort habe ich meinen Mann kennengelernt. Es waren seine Schwestern. Den ersten Kontakt mit der Kirche hatte ich im Juli 1957. Ich war lange Zeit nur an diesen Abenden in der Kirche, und am Donnerstag in der GFV. Später sagte man mir, dass Sonntagmorgens Sonntagsschule ist. Deshalb bin ich zur Sonntagsschule gegangen. Der damalige Sonntagsschulleiter hat mich zur Sekretärin gemacht, und ich war noch kein Mitglied. Ich konnte immer noch nichts mit dem Buch Mormon anfangen. Es war erst im Jahre 1959, dass irgend jemand mir das Buch Lehre und Bündnisse gegeben hat. Und das war mein Buch. Ich war so berührt! Ich bin eigentlich über das Buch Lehre und Bündnisse zum Buch Mormon gekommen. Aber bis dahin habe ich immer noch nicht gewusst, dass es einen Abendmahlsgottesdienst gibt am Sonntagabend. Es hat mir niemand gesagt. Erst im Jahre 1959 habe ich erfahren, dass es auch einen Abendmahlsgottesdienst gibt. Und so hat der Herr mich geführt bis heute.