München, Bayern
Mein Name ist Karl Anton Reithmeier, geboren am 4. Juni 1935 in München. Eltern: Vater Anton Reithmeier geboren 1913, Mutter: Cäcilie geborene Brandl, geboren 1911. Beide sind in München geboren und in der Nähe von Landshut nach 50jähriger Ehe verstorben. Meine Mutter wurde 1920 mit ihren Eltern in der Kirche Jesu Christi getauft, mein Vater 1933. Ich bin das älteste von 5 Kindern. Meine Geschwister: Hildegard (1941), Richard (1946), Ruth (1951), Evelyn (1959).
Da meine Aufzeichnungen sich auf die Periode des Zweiten Weltkrieges konzentrieren sollen, werde ich in großen Zügen einige wenige – aber für mich denkwerte – Ereignisse herausgreifen. Erinnerungen habe ich von meinem dritten Lebensjahr an, als mein Vater in den Krieg eingezogen wurde. Zu der Zeit war er als Lastwagenfahrer in einer Firma tätig, die Arzneimittel vertrieb. Im August 1939 wurde er direkt von der Firma mit dem Wagen voller Arzneimittel eingezogen. Wir hatten keine Gelegenheit mehr, uns von ihm vorher zu verabschieden. Es hieß, er sei zur Ausbildung nach Norddeutschland geschickt worden.
Meine Mutter hatte, bevor er dann nach Frankreich kam, noch einmal Gelegenheit, ihn in Köln zu treffen. Nach der Frankreich-Invasion kam er über Norwegen nach Finnland und erlebte dort den berüchtigten Winterkrieg 1941 u.a. in Rovaniemi. Zwischendurch bekam er eine Woche Heimaturlaub. Da aber das Transportschiff auf der Ostsee einfror, wurden aus dem „Urlaub“ nur zwei Tage zu Hause. Unter anderem musste er auf dem Rückweg ein schweres Raupenfahrzeug aus der Waffenfabrik mitnehmen und damit gleich nach Russland fahren. Diese Reise sollte dann letztendlich in Stalingrad enden. Die restliche Kriegszeit hörten wir kaum von meinem Vater.
Auch er erfuhr nicht, dass unsere Stadt München und unsere Wohnung durch Bombenangriffe sehr zerstört wurden und meine Mutter, ich und meine kleine Schwester eines Nachts zusammen mit einer Menge anderer obdachlosen Frauen und Kindern evakuiert wurden. Wir waren plötzlich von Freunden, der Kirche und allem Eigentum abgeschnitten. Unser Gemeindehaus, das uns bisher Gemeinschaft und Schutz bot, war ebenso wie meine Schule in Ruinen. Die Kirche konnten wir die letzte Zeit nur sporadisch besuchen, es gab nur noch wenige Priestertumsträger (Invaliden und alte Männer) und jede Versammlung wurde von Spitzel bewacht. Unterrichtsmaterial war verboten und nur wenige Schwestern konnten unterrichten da sie in verschiedenen Kriegsdiensten helfen mussten.
Wir wurden in einen Eisenbahnzug zusammengedrückt der in Richtung Salzburg fahren sollte, aber kurz davor bombardiert wurde. Wir flohen in alle Richtungen und meine Mutter fand einen Unterschlupf in einem Bauernhof, zumindest für den Winter. Danach kamen wir zu einem alten Bauern-Ehepaar, das uns eine kleine Wohnung bot, in ihrem Hof in Niederstrass, in der Nähe von Freilassing, nahe der österreichischen Grenze. Von dort aus konnten wir einmal im Monat die Gemeinde in Salzburg besuchen (10 km zu Fuß).
Für meine Mutter war es am schwersten, da sie meine Schwester als kleines Kind zu versorgen hatte. Für mich hatte sie wenig Zeit, aber ich konnte wenigstens zur Schule gehen. Der Schulweg betrug etwa fünf Kilometer. Diese Strecke ohne Schuhe zu gehen, auch im Winter mit nur einfachen Holzsandalen, war nicht immer ganz einfach. In der Schule selbst waren alle Klassen, von der ersten bis zur achten, alle in einem Raum untergebracht. Da ich als einziger gut lesen konnte, wurde ich dazu abkommandiert, im Wohnzimmer der Lehrerin den Nachrichtensender im Radio abzuhören. Wenn Luftangriffe gemeldet wurden, sollte ich warnen. Das war ein Jahr meiner Schulzeit, und das habe ich zum größten Teil am Radio verbracht.
Aber wir hatten in dieser Gegend wenigstens keine nächtlichen Luftangriffe mehr. Keine Bomben, die direkt auf unser Haus gerichtet waren, keine Nächte, in denen wir mehrmals in den dunklen Keller oder Bunker geschickt wurden. Ich brauchte als 6-jähriger nicht mehr in den Hohlräumen der Ruinen nach Überlebenden suchen, wie in München. Wir hatten zwar große Not aber weniger Angst. Essen bekamen wir durch Arbeit auf dem Bauernhof oder durch betteln („hamstern“) bei anderen Bauern.
Auch wenn wir mit mehreren Wochen Abstand die Kirche in Salzburg besuchen konnten, kann ich mich nicht an Aktivitäten in Form von Unterricht und Ansprachen erinnern. Wir sangen und nahmen das Abendmahl und lasen oder zitierten aus älteren Schriften. Trotzdem erlebten wir eine Weile geistigen Friedens. Als Mormonen wurden wir zwar bewacht und bespitzelt aber nicht verfolgt wie andere Glaubensgemeinschaften, deren Mitglieder oftmals in Konzentrationslager geschickt wurden. Die Partei respektierte unseren 12. Glaubensartikel, das Wort der Weisheit, unsere Organisation des Priestertums, der FHV, der Jugendorganisationen und den Fastensonntag mit Fastopferspenden – alles war in der Struktur des „Dritten Reiches“ vorhanden –auch wenn der Sinn ein anderer war.
Mein Vater, der 1942 nach Stalingrad kam wurde wie viele der deutschen Soldaten „eingekesselt“ d.h. umzingelt. Von den russischen Einheiten wurden sie mit Dauergefechten aus der Luft und durch Granatenfeuer stark dezimiert. Er erkrankte durch leichenverseuchtes Wasser an Typhus lebensgefährlich. Bevor Stalingrad eingenommen wurde, gelang es ihm mit Hilfe seines kanonenbestückten Fahrzeuges aus dem „Stalingradkessel“ herauszukommen. Er war einer der Wenigen, denen dies gelang, bevor der Kessel völlig abgeriegelt wurde. Er bekam Anschluss zu den deutschen Einheiten. Nach einer langen, über drei Monate dauernden Irrfahrt mit allen möglichen Transportmitteln kam er zurück nach Deutschland in ein Lazarett in Baden-Baden. Die folgenden 2 Jahre war er in verschiedenen Lazaretten, Krankenhäusern und Erholungsheimen, bis er 1945 kurz vor Kriegsende zu unserem Evakuierungsort kam.
Er musste aber noch einmal „dessertieren“, d.h. sich verstecken, weil er einige Wochen vor Kriegsende wieder zurück an die Front geschickt werden sollte. Das Kriegsende kam nicht unerwartet aber nur schrittweise, verbunden mit Nahkämpfen die wir aus der Ferne hörten.
Als ich zehn Jahre alt war, erlebte ich die Amerikaner als Besatzungsmacht. Es war aufregend, als die ersten Jeeps an unserem Haus vorbeifuhren. In der Nacht kamen die bewaffneten Truppen, die mit Panzern, Kanonen und einer Menge Soldaten gleich hinter unserem Haus auf einer Wiese ihre Truppen sammelten. Wir Kinder waren die ersten, die sich herauswagten und man warf uns einige Dosen und Pakete Essbares zu. Die wenigen Häuser der Umgebung wurden durchsucht, nach Waffen, brauchbaren Gegenständen und versteckten Personen. Auch mein Vater wurde verhaftet und in ein Internierungslager mitgenommen. Er war aber nach einer Woche wieder frei, nachdem festgestellt wurde, dass er kein Mitglied der SS und der Partei war.
Unser Problem war die Versorgung. Man konnte nichts kaufen, nur tauschen. Beispielsweise hatten wir Fallschirmseide von einem abgeschossenen Piloten. Daraus konnte meine Mutter Kleidungsstücke nähen. Wir tauschten eine Kamera, die ein amerikanischer Soldat haben wollte, gegen einige Stücke Schokolade und zehn 10 Seifen. Aber manchmal kam uns auch das Glück zu Hilfe. Die Truppenversorgung der Amerikaner führte auf einer schmalen Straße durch unser Dorf und wir Kinder wussten, dass jeden Tag Lastwagen mit Lebensmitteln vorbei fuhren. Irgendeiner der Jungen kam auf die Idee, die schmale Bachbrücke nahe unserem Haus zu versperren, sodass die Lastwagen einen Umweg über die Felder und den Bach machen mussten. Wir kletterten von hinten auf die Fahrzeuge und warfen einige Papiersäcke herunter. Es war frisches Brot darin, das wir uns teilten.
Nach Auflösung der deutschen Infanterie in unserer Nähe, fanden wir auch ein Gehege mit mageren Pferden, die für wenige Mark verkauft wurden. Mein Vater kaufte eines der Tiere und ich musste es heimlich nachts zum füttern auf die Weide führen, damit es wieder zu Kräften kam. Nach einiger Zeit wurde es von meinem Vater mit einer gefundenen Pistole erschossen, und dank seiner Erfahrungen aus den Kriegsjahren, im Stall des Hauses zu Wurst und Geräuchertem verarbeitet. Wir konnten davon eine lange Zeit leben.
Wir waren davon überzeugt, dass der Herr unsere Gebete, wie schon so oft auch weiterhin erhören würde. Und es geschahen Wunder, die ich nie vergesse. Eines Tages erkrankte meine Schwester Hildegard an Scharlach, zu dieser Zeit eine lebensgefährliche Krankheit. Wir versuchten einen Arzt aus der nächsten Stadt zu bekommen. Er hatte zwar ein kleines Auto, aber keinen Tropfen Benzin, sodass er nicht kommen konnte. Ich ging vor das Haus auf die Straße, als wieder amerikanische Versorgungslieferungen vorbeifuhren. Ein Truck war mit den zu dieser Zeit üblichen Benzinkanistern beladen. Als er über einen großen Stein fuhr, hüpfte einer der Kanister vor meinen Augen aus dem hinteren Teil des Trucks und fiel in den Straßengraben. Der Fahrer hatte nichts bemerkt und fuhr weiter. Diese Gottesgabe rettete das Leben meiner Schwester, die damit ins Krankenheim gebracht werden konnte.
1946 konnten wir wieder in unsere Heimatstadt München zurückkehren. Zwar war unser Haus sehr zerstört und die Trümmer des nächsten Hauses reichten bis in unser Stockwerk. Wir befestigten geöltes Papier in die Fensterrahmen, sodass Licht herein kommen konnte. Wir heizten mit Schuttholz unsere beiden Räume und kämpften gegen Ungeziefer und Ratten. Aber wir waren wieder eine Familie, hatten Frieden und Hoffnung auf die Zukunft. Mein Vater litt noch lange an seinen Krankheiten, wurde aber 1946 als Gemeindepräsident berufen. Wir konnten wieder Gottesdienste abhalten, zuerst in einem Lokal der Adventisten, die ihr Lokal am Sonntag nicht benötigten und dann im Deutschen Museum. Dort hielten die LDS-Mitglieder unter den US-Truppen ebenfalls ihre Versammlungen und wir bekamen gute Verbindungen und viel Hilfe. Bereits 1947 wurde unter dem ersten Missionspräsident, Jean Wunderlich, die erste Konferenz in Stuttgart abgehalten und mein Vater wurde als Distriktpräsident im Münchner Distrikt berufen.
Zu dieser Zeit hatten die Hilfssendungen der amerikanischen Wohlfahrtsspenden an Lebensmitteln, Decken und Kleidung ihren Weg nach Deutschland gefunden. Ich erinnere mich an drei große Schiffladungen, wovon eine an unsere Mitglieder verteilt wurde und je eine an das Rote Kreuz und an die Caritas der katholischen Kirche. Wir wurden sehr reichlich versorgt und konnten damit die schwere Not der Nachkriegszeit überbrücken. Ich erinnere mich daran, dass nach jeder Sendung von Konserven, in unserer kleinen Wohnung alles gestapelt wurde und wir mussten die Gaben an die Mitglieder der Gemeinde verteilen. Eine ganze Ration für treue Mitglieder und eine Halbration für Inaktive oder Neumitglieder, die sich infolge der Hilfsaktionen der Kirche zuwandten. Diese Gaben wiederholten sich mehrmals und es wurde genau Bericht über jede Verteilung geführt, damit niemand benachteiligt wurde.
Als ich 1953 auf Mission berufen wurde, fuhr ich in einem Anzug der aus diesen Beständen kam und wurde durch Vermittlung der Missionspräsidentschaft von einem Ältestenquorum in Kanada finanziell voll unterstützt. Mit $50 im Monat konnte ich gut auskommen. Meine Missionspräsidenten waren Edwin Q. Cannon und Kenneth B. Dyer, die mit Geduld und Verständnis mein Zeugnis aufbauten. Erst später verstand ich Gottes Hand die Er über alle Jahre hinweg über uns gehalten hatte. Ich bin dankbar für alle Erfahrungen und für die Möglichkeit, dass ich selbst eine Familie im ewigen Verbund gründen konnte.
Mein Lebenslauf
1941-48 Volksschule mit vielen Unterbrechungen in den Kriegsjahren.
1948-50 Wirtschaftsaufbau-Schule.
1950-53 Kaufmännische Lehre.
1953-55 Mission (Westdeutschland)
1955-99 Leitender Angestellter bei OSRAM München (ab 1961 bei OSRAM Stockholm). Anschließend Pensionierung in Schweden.
1959 Eheschließung mit Helga Rosa Beck, Vier Kinder: Robert (1960) ,Ellen (1961), Henry (1968) ,Annika (1973)