Aschersleben, Sachsen–Anhalt
Ich heiße Rolf Karl Richter und wurde am 23. April 1930 in Aschersleben geboren. Mein Vater ist Karl Richter, meine Mutter Martha Luise Schiele. Ich habe noch weitere sechs Geschwister. Als Ältester hatte ich einen großen Teil Verantwortung über meine Geschwister. Ich konnte vieles von meiner Mutter lernen, wie man mit Babys umgeht. So hatte ich mir schon damals Dinge angeeignet, die ich später als Familienvater gut gebrauchen konnte. So bin ich in der Vorstadt von Aschersleben groß geworden. Die Schule in die ich eingeschult wurde, nannte man Johannisschule, in der später nur noch Mädchen waren. Ich kam dann in eine Knabenschule. Mit 10 Jahren musste ich in der nationalsozialistischen Zeit zum Jungvolk.
Ich war etwas musikinteressiert, deshalb ging ich beim Jungvolk zum Fanfarenzug. Dort gab es Trommler und Fanfarenbläser. Ich war der Anführer der Trommler. Wir mussten als Luftschutzhelfer während des Krieges tätig sein. Es gab Tage an denen wir uns in der großen Turnhalle unserer Schule melden mussten um von dort zu den verschiedenen Einsatzorten zu gehen. Zum Beispiel bei Unfällen oder wenn Bomben gefallen waren. Dort mussten wir dann hinlaufen um zu sehen, was passiert war. Weil ich zum Jungvolk gehörte hatte ich das große Glück nicht mehr zum Reichsarbeitsdienst eingezogen zu werden. Mein Vorgesetzter beim Fanfarenzug meinte nicht auf mich im Fanfarenzug verzichten zu können, aber wir mussten Schanzen, Panzersperren bauen und Schützenlöcher graben. Beim Einsatz, wenn Bomben gefallen waren, habe ich das erste Mal tote Menschen gesehen, von denen nur noch die Reste vorhanden waren. Menschen, die man nur noch stückweise zusammensammeln konnte. Es muss um die Osterzeit gewesen sein. Es war Ruhe, kein Flugzeug zu sehen. Ich sah Frauen aus einem Haus kommen, die zum Frisör wollten. Plötzlich Alarm. Wohin so schnell. Nach Hause? Ob man das noch schafft? Wenn die Flieger erst da sind, schießen sie sofort auf laufende Menschen mit Querschlägern. Schnell sind alle in den Keller gelaufen. Das Haus aus dem sie gekommen waren wurde zerstört. Ich habe viele Häuser gesehen, die zerstört wurden. Traurige Anblicke, die man nie vergisst. Wir mussten bei jedem Alarm zur Verfügung stehen. Die Amerikaner bombardierten alle Ziele, die den Krieg verlängern konnten.
Froh waren wir dann 1945 als der Krieg zu Ende ging. Ich erlebte noch die Bombenangriffe auf Halberstadt, die wir oben vom Dachboden aus beobachten konnten und hörte die vielen Explosionen der Bomben. Es stellte sich sofort die Angst ein mit der Frage: „Wann sind wir wohl dran?“ Aber wir sind glücklicher Weise verschont geblieben. Eines Tages kamen die amerikanischen Truppen. Sie zogen auf den Straßen durch die Orte. Die Panzer in der Mitte und die Soldaten an den Seiten. Wir, Jugendliche, standen in der Tür und sahen dem Ganzen zu. Die Soldaten lachten uns aus oder an, oder sie freuten sich selber, dass der Krieg zu Ende ging für sie. Ich glaube die Kinder haben mit den Soldaten Freundschaft geschlossen. Am Ende unseres Wohnortes war ein ehemaliges Kriegs-Gefangenenlager indem jetzt die Amerikaner Station machten. Wir Jungs gingen gern dort hin. Das war für uns etwas Neues. Wir konnten etwas sehen, ohne dass uns Gefahr drohte. Es entstand ein reger Tauschhandel. Wir brachten Eier und bekamen dafür Schokolade, die wir ja kaum noch kannten. Ich war nun vierzehn Jahre alt und musste mich bemühen eine Arbeit zu finden. Durch Zufall und Hilfe meines Lehrers, bekam ich eine Lehrstelle als Kaufmann in einem Eisenwarengroßhandels-Geschäft. Meine Lehrzeit betrug drei Jahre, von 1944 bis 1947. Aber der Lehrherr konnte mich nicht weiter beschäftigen, da er nur Arbeit für die schon älteren Beschäftigten hatte. Ich musste mir also eine neue Arbeitsstelle suchen.
Im Sommer des Jahres 1928 kamen die ersten Missionare nach Aschersleben. Es waren die Missionare Cook und Glade. 1932 hatten wir zur Weihnachtfeier in der Gemeinde die höchste Anwesenheit von 140 Personen, so erzählte Schwester Margarete Liebing. Durch den Ausbruch des Krieges 1939 wurden die Missionare von den Gemeinden abgezogen. Bruder H. Fiedler kam aus Magdeburg um Sonntag die Versammlungen durchzuführen. Am 30. März 1940 wurde Bruder Paul Wanke der Gemeindepräsident von Aschersleben. Er war mit seiner Familie von Breslau nach Staßfurt gezogen und gehörte nun zur Gemeinde Aschersleben. Den ganzen Krieg hindurch wurden die Sonntagsschule und der Predigtgottesdienst abgehalten.
Am 16. Januar 1946 kamen wieder Missionare nach Aschersleben. Am 19. Dezember 1936 hatte sich meine Mutter durch die Taufe der Kirche angeschlossen. Mein Vater war kein Mitglied. Ich ließ mich am 5.April 1947 taufen.
Ich hatte bei der Post eine Arbeit gefunden, wo so viele ehemalige Soldaten als Briefträger arbeiten konnten. Das war für mich alles sehr neu, aber ich habe mich schnell daran gewöhnt. Doch so einfach wie heute war es damals nicht. Heute sind die Briefkästen unten an den Haustüren angebracht. Wir mussten damals in jedes Haus hineingehen bis zur obersten Etage und das in alle Häuser um die Post jedem Mieter zu bringen. Ich habe richtig laufen gelernt. In meinem Gebiet wohnten viele Kaufleute, Bäcker, Schlachter, Obst- und Gemüsehändler. Ich bekam mitunter Schrot vom Bäcker, woraus man eine Suppe kochen konnte oder ein Brot, oder der Obsthändler füllte den Postsack mit Äpfel. Das hat meiner Familie sehr geholfen. Später begann dann auch der Postverkehr mit dem Westen. Wenn ich ein Westpäckchen ablieferte, bekam ich als Dankeschön manchmal eine Kleinigkeit, die ich mit nach Hause nehmen konnte. Das hat damals alles geholfen uns zu ernähren. Wir waren sieben Kinder und Hunger hatten alle. Dann kam ich zur Bahnpost. Dort hatte ich die Aufgabe, die Postzüge zu beladen und zu entladen. Danach durfte ich selber auf der Postlinie fahren bis dieselbe eingestellt wurde.
In der Gemeinde lernte ich meine liebe Ruth kennen, die mit ihrer Mutter und Großmutter von Breslau als Flüchtlinge nach Rieder im Harz gekommen war und zu unserer Gemeinde zählte. Am 14. August 1952 haben wir dann im Rathaus Aschersleben den Bund der Ehe geschlossen. In der Gemeinde Aschersleben haben wir Ende August gefeiert. Der Distriktpräsident Bruder Gützlaf war gekommen um uns den Segen zu geben. Es war eine wunderschöne Zeit. Ich musste nur eine neue Arbeit und eine Wohnung suchen. Die Wohnungsnot war zu dieser Zeit sehr groß. Wir fanden eine Ein-Zimmer-Wohnung unter dem Dach in der Worthstraße 3 bei Frau Hemmer. Man konnte zwei Betten, Schrank, Tisch und Stühle stellen. Vor die Tür hatte ich eine spanische Wand gebaut, um sich dahinter zu waschen. Das Wasser mussten wir ein Stockwerk tiefer aus der Küche holen, Toilette war eine Etage tiefer. Wir waren froh, diese kleine Wohnung als Erstes zu haben, denn es gab so viele Flüchtlinge und wer geheiratet hatte bekam nicht gleich Zuzug für Selbständigkeit. Später gab uns die Hauseigentümerin noch 1 Zimmer und Küchenbenutzung ein Stockwerk tiefer dazu. Dann war es soweit, meine Frau sollte Mutter werden. Zu der Zeit war Bruder Henny Burkhardt Missionspräsident für Ostdeutschland. Bruder Herold Gregory war Missionspräsident für Deutschland. Bruder Burkhardt kam in unsere Gemeinde und sagte zu mir: „Wir möchten, dass Sie auf Mission gehen.“ Ich war überrascht. Kein richtiges zu Hause. Meine Frau schwanger. Aber ich bin gegangen. Meine Frau war stolz, dass wir dem Herrn dienen durften. Am 5.November.1954 wurde ich für 18 Monate berufen. Begonnen habe ich in Meerane und wohnte in Werdau. Wir mussten immer hin und her fahren. Von Meerane ging ich nach Gotha. Dort hatten wir das Missionsgebiet Mühlhausen und Eisenach. Von dort aus hatten wir auch die Gelegenheit zum Missionarstreffen nach Dresden zu fahren. Allerdings nicht mit der Bahn, sondern nur per Anhalter oder mit dem Fahrrad. Mein Mitarbeiter, Gerd Hegewald, der jetzt in Salt Lake wohnt, hatte ein Fahrrad und ich habe mir meines von zu Hause schicken lassen. Wir sind dann mit den Fahrrädern über Gera, Werdau nach Döbeln gefahren. Dort versammelten sich viele Missionare. Wir hatten dort eine Missionstagung und haben auch dort übernachtet. Dort ging es weiter mit den Fahrrädern. Ich reiste mit den Missionarinnen mit dem Dampfer nach Dresden. Dann wurde ich nach Auerbach versetzt. Die Gemeinde besteht heut nicht mehr. Meine Abschlussgemeinde war Naumburg. Von dort wurde ich aus meiner Mission entlassen.
Durch meine Mutter bin ich zur Kirche gekommen. Sie hat uns Kinder immer mit zur Kirche genommen. Mitunter wollten wir lieber spielen, doch Mutter und auch Vater, obwohl er kein Mitglied war, sagten dann immer: „Was ihr angefangen habt, dabei bleibt ihr auch.“ Das hat sich bis heut bei mir eingeprägt. Leider habe ich meine Mutter viel zu früh 1954, durch ihre schwere Krankheit verloren. Mein Vater stand mit meinen vier Geschwistern, die noch zu Hause waren allein da. Meine Mutter hat auch leider nicht mehr erfahren, dass sie Großmutter wurde.
Meine Frau hat immer als Kindergärtnerin gearbeitet. Als ich auf Mission war dachte ich an die Zeit, als ich das Fahrrad, dass ich durch Zufall zur Konfirmation geschenkt bekommen hatte, benutzt habe um von Aschersleben nach Rieder (Harz) zu fahren. Das waren allerhand Kilometer. Es ging immer bergauf und bergab. Aber ich habe es zu Ruth geschafft. Wenn die Zeit es erlaubte habe ich dort geschlafen. Das durfte ich dann in der Küche, denn ihre Mutter und Großmutter hatten nur ein Zimmer. Mehr Platz war nicht für Flüchtlinge. Ruths Vater war im Krieg erschossen worden. Am 2. Juni 1955 wurde unsere Tochter Gudrun geboren. Ich kannte sie nicht. Ruths Großmutter war nach Aschersleben gekommen um während meiner Missionszeit das Baby zu betreuen, wenn Ruth arbeiten ging.
Als ich dann nach Hause kam war es wichtig für mich wieder eine Arbeit zu finden. Damals war es nicht so, dass das Arbeitsamt vermittelte. Ich musste viele Stellen anlaufen um Erfolg zu haben. Nicht für alles war meine Kaufmannslehre nutzbar. In einem Großandelsbetrieb, indem ich nach Arbeit fragte, wurde mir gesagt, dass sie Arbeitskräfte brauchen. Als sie hörten, dass ich Missionar für die Kirche Jesus Christi war, sagten sie, sie können Arbeit haben aber denken sie auf keine Weise daran, hier im Betrieb zu missionieren. Ich habe dann als Beifahrer auf einem Pferdegespann begonnen, aber anderthalb Zentner schwere Säcke zu tragen war nicht so einfach. Danach habe ich eine Zeitlang als Beifahrer auf einem Lastkraftwagen gearbeitet. Von dort kam ich in das Lager der Großhandels-Gesellschaft und war für eine Warensortimentsgruppe zuständig. Auch wurde mir eine Hilfskraft zugeteilt. Wir mussten an Hand einer Liste die verschiedenen Waren für unterschiedliche Touren und Kunden zusammenstellen. Später wurde ich Bodenmeister. Dies war ein größeres Aufgabengebiet und mehr Verantwortung. Ich hatte die Genussmittel wie Kaffee, Alkohol, Zigaretten usw. unter mir. Aber durch die Lehre der Kirche bestand keine Gefahr, dass ich mich an irgendwelchen Sachen dieser Art vergriffen hätte.
Der Konsum suchte dann Geschäftsstellenleiter. Ich bekam eine Landverkaufsstelle in Frose zur Leitung. Das war ein recht großes Geschäft und ich musste zur Einarbeitung erst einmal Schulungen absolvieren. Es war eine sehr verantwortungsvolle und vielseitige Aufgabe. Aber auch dort war ich nicht sehr lange, denn in Königsaue benötigten sie jemanden für das große Landwarenhaus. So kam ich dort hin. Dort hatte ich einen sehr guten Stand mit Fleischwaren, Genussmitteln, Nährmitteln und landwirtschaftlichen Artikeln. Durch meine guten Verbindungen zum Obst- und Gemüsegroßhandel habe ich immer etwas mehr Extra für die Bevölkerung des Ortes besorgen können und habe den Gewinn des Geschäftes in die Höhe gehoben, war beliebt bei Leuten und Bürgermeister. Ich wurde dreimal Aktivist und Leiter des Kollektivs der Sozialistischen Arbeit, was auch in der Presse gewürdigt wurde.
1964 wurde unsere Tochter Esther geboren und 1967 unsere Tochter Noreen. Als ich von Mission kam wurde ich zum Gemeindepräsident der Gemeinde Aschersleben berufen, war immer Lehrer in der Sonntagsschule, Besuchslehrer und wo ich sonst gebraucht wurde. Der größte Höhepunkt war der 8. Mai 1957 unsere Siegelung im Tempel Zollikofen, Schweiz. Auch unsere Silberne und Goldene Hochzeit mit allen Kindern und Enkeln.
Um noch einmal auf meinen Berufswerdegang zurück zu kommen. Ich bin seit 1985 chronisch Herzkrank und habe mich dann nach Aschersleben versetzen lassen. Ich hatte als Leiter zwei Verkaufsstellen, musste mich aber auch dreimal wegen Bauchdeckenbrüche operieren lassen. Als Einsatzleiter bin ich dann für die Fahrzeuge des Fuhrparks zum Großhandel OGS (Obst, Gemüse und Südfrüchte) gegangen und wurde 1990 mit sechzig Jahren in den Vorruhestand geschickt.
Um von der Kirche noch zu berichten war es in den Jahren durch die politische Situation immer schwerer geworden. Wir mussten unsere gesamten Versammlungsabläufe für die Behörden der DDR auflisten. Die Themen, die angesprochen wurden genau aufschreiben und an einer dafür bestimmten Stelle abgeben. Öffentliche Missionarsarbeit war nicht erlaubt. Nur auf Empfehlungen war es möglich Missionarsarbeit zu tun. Bei den Gottesdiensten selbst war es sehr schwer feststellbar, ob wir kontrolliert wurden. Auch wusste man nicht, ob alle Mitglieder das waren was sie vorgaben. Die Zahl der Mitglieder war klein geworden. Viele Mitglieder sind weggezogen, verstorben oder blieben fern. Die Räume wurden deshalb auch von staatlicher Seite für Wohnräume gebraucht. Am 22.August.1982 um 10.25 Uhr gab es die Gemeinde Aschersleben nicht mehr. Wir wurden Bernburg zugeordnet. Unser Distriktpräsident Bruder Siegfried Schmidt sagte: „Jetzt braucht ihr ein Auto.“ Lange Jahre waren wir angemeldet, ohne Erfolg. Das war damals eben so. Siegfried konnte uns durch seinen Nachbar mit einem gebrauchten Wartburg Tourist helfen, natürlich für viel Geld. Aber so konnten wir jeden Sonntag nach Bernburg fahren, Schwester Jendrasch und Bruder Fügener mitnehmen. Da gab es auch genügend Berufungen für uns bis heut. In meiner ganzen Lebenszeit lebten wir nie im Überfluss, aber wir waren immer reich gesegnet, da alles immer ausreichend da war. Bei Krankensegnungen haben wir die Hand des Herrn sehr stark verspürt. Besonders auch bei unserer Tochter Noreen, die ein Karzinom am Ohr hatte.
Über 10 Jahre waren wir, meine Frau und ich, Tempelarbeiter im Tempel Freiberg. Durch eine starke Freundschaft mit Geschwister Jürgen und Rosi Pawelke hatten wir immer eine starke Verbindung zur Gemeinde Halberstadt, dafür sind wir sehr dankbar. Weitere Höhepunkte waren natürlich, dass wir die Siegelung unserer Kinder und 2 Enkelkinder im Freiberg Tempel erleben durften. Unsere Tochter Noreen und zwei Enkel waren bis jetzt auf Mission.
Wir sind so dankbar, für all die Segnungen in den vielen Jahren. Trotz all den Schwierigkeiten, war der Herr immer an unserer Seite und wird es immer sein, wenn wir treu im Glauben bleiben.
es war ein Freund der ging…