Insterburg, Ostpreußen
Mein Name ist Anna Sanne. Ich bin geboren am 24 11. 1920 in Insterburg, Ostpreußen. Mein Vater ist Gustav Braun und meine Mutter Minna Braun, geborene Kunetat. Wir waren sieben Kinder zu Hause, drei Jungs und vier Mädchen. Meine Mutter war sehr religiös und hat gesucht. Sie ist in die katholische Kirche gegangen, in die Evangelische und in die anderen Gemeinden. Aber das war ihr immer nicht das Richtige. Und sie wollte auch gerne, dass wir Kinder immer mitkamen.
Ich ging zur Schule, ich war damals 12 Jahre alt. Wir hatten Vormittag und Nachmittag Unterricht. Ich ging mit meiner Freundin durch den Park und da kamen zwei Missionare uns entgegen. Und die sprachen uns an, ob wir gerne Bonbons essen. Natürlich aßen wir gerne Bonbons, denn zu Hause kriegten wir nicht so viel. Da haben sie uns eingeladen, zur Kirche zu kommen. Wir waren in Insterburg eine sehr kleine Gemeinde, der Gemeindepräsident war Bruder Jakulat. Wir hatten eine schöne Gemeinde, wir waren ungefähr 30 Personen.
Die Missionare kamen uns oft besuchen, wir hatten ein kleines Haus, da kamen sie oft, sie wollten immer meinen Vater bekehren, aber er wollte nicht. Aber meine Mutter war sehr interessiert und sie haben dann mit meiner Mutter gesprochen, und haben uns dann eingeladen, zur Sonntagsschule zu kommen. Es gab damals nur Sonntagsschule und Abendmahlsversammlung. PV und FHV, die wir heute haben, die gab es damals nicht.
Ich bin dann mit meiner Freundin am Sonntag hingegangen. Das hat mir so sehr gefallen. Die Lehrerin hatte eine Karte an der Wand mit vielen Städten und darauf waren so kleine Fähnchen, und wenn wir die richtige Antwort hatten, bekamen wir ein Bonbon. Und dann hab ich das meiner Mutter erzählt und sie war sehr begeistert und kam auch zu den Versammlungen. Sie musste aber ein Jahr warten, bis sie getauft werden konnte und darüber war sie sehr traurig. Das war damals so, dass man so lange warten musste. Das ist nicht so wie heute.
Mein Vater arbeitete bei der Eisenbahn, der war viel unterwegs, er war Lokomotivführer. Der fuhr nach Russland, nach Litauen und überall. Aber er war nicht so interessiert. Aber wir gingen dann alle zur Kirche, er hat für uns Mittag gekocht. Und wenn wir nach Hause kamen, war alles fertig.
Ich habe inzwischen geheiratet. Ich war 19 Jahre alt. Mein Mann war kein Mitglied. Er war beim Militär, und als der Krieg ausbrach, wurde er eingezogen und wir sind danach nach Preußisch Holland gezogen. das war in Westpreußen. Da gab es dann keine Kirche mehr. Und die Missionare mussten alle wieder zurück, nach Amerika, wie der Krieg ausbrach.
So waren wir alle zerstreut. Keiner wusste vom andern, wo er abgeblieben war. Mein Mann wurde dann eingezogen. So blieb ich mit zwei Kindern alleine. Ich hatte einen Jungen, der war 1½ und eine Tochter die war drei. Mein Mann ist gefallen und kam nicht mehr zurück. Er war an der Westfront.
Und die Russen kamen ja immer näher und der Hauptsitz von Ostpreußen war Königsberg. In Königsberg war auch der Kirchendistrikt. Aber das war auch nicht mehr da. Und so blieb ich alleine in Preußisch Holland. Und als die Russen näher kamen, da musste ich ja weg. Da war noch eine Kompanie von meinem Mann in Preußisch Holland, die mich mitnahmen, sonst wäre ich da gar nicht rausgekommen und die haben mich dann mit meinen beiden Kindern mitgenommen.
So kam ich nach Stargard in Pommern. Ich war dann auf der Flucht. Die Russen kamen immer näher. So kam ich nach Plauen in Mecklenburg. Von meinen Geschwistern habe ich überhaupt nichts gewusst. Meine älteste Schwester Gertrud, die war nach Russland verschleppt. Die hatten die Russen mitgenommen. Und als sie krank wurde, haben sie wieder zurückgeschickt. Mein ältester Bruder ist auch nicht wieder gekommen, der ist auch gefallen im Krieg. Mein jüngster Bruder, der war 14 Jahre alt, den hatten auch die Russen mitgenommen. Nach einem Jahr ließen sie ihn aber wieder zurückgehen. Und mit noch einem Jungen sind die von Russland bis nach Deutschland zu Fuß gegangen. Unterwegs haben sie dann gearbeitet, um von den Bauern zu essen zu bekommen. Und so kamen sie auch wieder nach Deutschland. Aber ich weiß gar nicht mehr, wo die abgeblieben sind.
Bei Schwierigkeiten wusste ich, dass ich immer beten konnte. Ich bin eigentlich immer so beschützt worden. Ich wusste, dass ich beten konnte. Manchmal hat es länger gedauert, wenn ich gebetet habe und Hilfe brauchte. Aber wenn ich wirklich in der Not war, dann kam die Hilfe schnell. Zum Beispiel, wie wir von Ostpreußen nach Westpreußen kamen, da war eine ganze Schlange von Menschen. Da waren viele Frauen mit Kindern. Und wir sollten in ein Haus kommen, wo wir übernachten konnten; da waren zwei Männer, die das organisierten. Von meinem Kinderwagen ging immer das Rad ab. Und die Anderen gingen immer weiter und ich wusste nicht, wo die abgeblieben waren nun stand ich da, was mach ich nun? Und da hab ich gebetet und ich wartete, und da kam einer von den Männern zurück und er hatte gemerkt, dass ich nicht da war, und kam zurück und hat mich denn mitgenommen.
Ich habe oft gespürt, dass die Hand Gottes ausgestreckt war, um mir zu helfen. Ja oftmals nicht nur einmal. Also, das werd ich nie vergessen. Da waren wir auf einem Feld. Wir hatten keine Hacke, sondern mit den Fingern versuchten wir so Kartoffel, zu holen. Und die Russen, die marschierten so rum, und wenn die uns bemerkt hätten, wäre es schlimm gewesen. Eines Tages kam der ein Russe und hielt mich, die Pistole an den Kopf. Und da hab ich gedacht, was machst du nun? Und neben mir standen die beiden Kinder, und ich habe gebetet. Da ließ er die Pistole fallen. Ich hab vieles vergessen. Aber das werde ich nie vergessen.
Ostpreußen war besetzt; mein Vater war auch in Gefangenschaft. Und er musste für die Russen arbeiten. Die hatten die schönen Trakehner Pferde und alle gingen nach Russland und auf die musste er aufpassen. Und als das zu Ende war, konnte er nach Hause gehen. Und er ging mit einem andern mit einem kleinen Handkarren nach Insterburg zurück. Meine Mutter kam später zu mir nach Preuβisch-Holland in meine Wohnung und ich wurde ja nachher raus gebracht von der Kompanie von meinem Mann, aber meine Mutter blieb zurück mit meiner Tante und meinem Onkel, die waren alle zusammen in meiner Wohnung. Aber ich hab nachher nichts mehr gehört von ihnen. Als der Krieg zu Ende war, bekam ich einen Brief von einer Dame, die mit meiner Mutter zusammengewohnt hat. Und die schrieb nämlich, dass meine Mutter sehr viel geweint hat. Sie hat ja von keinem gewusst, wo wir alle weggeblieben waren. Sie ist dann ins Krankenhaus gekommen und hatte Typhus und ist in zwei Tagen dann gestorben. Sonst hätte ich gar nichts gewusst, wenn ich diesen Brief nicht erhalten hätte. Aber diesen Brief hab ich von dieser Dame bekommen, den ich noch habe.
Und mein Vater, der war nachher in Königsberg in Gefangenschaft. Er konnte aber später aber gehen. Dann ist er mit einem Freund, erst nach Insterburg gegangen. Aber da war ja auch nichts mehr. Dann ist er wieder zurückgegangen. Wir hatten ja eine Tante in Essen. Und das war ja unter amerikanischer Hoheit. Wir hatten ja alle diese Adresse. Und wir haben da alle hingeschrieben. Und da haben wir von der Schwester Ruth, die in Hamburg jetzt lebt, erfahren, wo mein Vater war. Schwester Ruth Fricke ist meine Schwester! Wir beide leben noch von sieben Kindern, nur Ruth und ich, auch nicht meine Eltern.
Mein Vater wusste, dass ich in Emshorn wohne. Wie ich nach Emshorn kam? Wir waren in Plauen in Mecklenburg, und wir sollten nach Lübeck gebracht werden und es ging in der Nacht nur noch ein Zug. Und ich hab schnell ein paar Sachen eingepackt und mit dem Kinderwagen, mein Sohn, der war ja noch klein. Ich wollte unbedingt nach dem Westen. Es war russisch Plauen, und da wollte ich weg. Ich wusste, dass meine Schwester Ruth in Elmshorn war. Die hatte eine Freundin, die bei der Stadt gearbeitet hat. Und so kam meine Schwester nach Elmshorn. Und ich wollte auch nach Elmshorn.
Der Zug fuhr in der Nacht nach Lübeck; da waren noch zwei junge Frauen, von dort aus wollte sie uns an die Nordsee bringen, aber da war doch keine Arbeit. Und da haben wir uns drei zusammen, die zwei Frauen und ich, uns zusammengetan, und sind nach Hamburg, auf eigene Faust gefahren. Ein bisschen Geld hatten wir noch. Die beiden sind nach Hamburg und ich bin nach Elmshorn und so kam ich nach Elmshorn und da wohne ich bis heute.
Ich hab 30 Jahre gearbeitet. Ich habe sehr hart arbeiten müssen. Ich habe 30 Jahre genäht an der Maschine. Betten genäht. Jetzt hat man ja alles Synthetik. Früher hatte man diese Federbetten. Und das Inlett, wo die Federn reinkamen, die habe ich genäht. Es war eine große Fabrik, da waren zwei Hundert Angestellte. Und da hab ich gearbeitet, bis ich in Rente ging. Mit 60 hab ich dann aufgehört. Das war ziemlich hart, harte Arbeit.
Ich habe früh geheiratet, mit 19 und mit 26 war ich Witwe. Ich bin aber im Tempel angesiegelt. Mein Vater hat sich nie taufen lassen. Aber für ihn ist die Arbeit im Tempel jetzt gemacht worden. Und auch für meinen Mann.
Meine Tochter, die lebt in England. Da fahr ich immer zwei Mal im Jahr hin. Ich war jetzt über Weihnachten zwei Monate da. Und meine Enkelkinder, zwei Mädchen. Und Urenkel, zwei Jungs. Mein Sohn ist hier in Elmshorn. Er heißt Rüdiger Sanne.