Neisse, Schlesien

mormon deutsch elfriede wibornyIch bin Elfriede Wiborny, geborene Lippert. Ich bin am 24. Mai 1928 in Neisse in Schlesien geboren. Mein Vater heißt Herbert Wilhelm Lippert und meine Mutter Martha Menzel. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr haben wir dort gewohnt. Dann wurde mein Vater nach Oppeln in Oberschlesien versetzt. Das war kurz vor Beginn des Krieges. Mein Vater war beim Arbeitsamt beschäftigt. Als der Krieg begann wurde er zum Militär eingezogen, obwohl er schon acht Kinder hatte. Auch mein ältester Bruder wurde eingezogen und er kam unverletzt nach Hause. Aber nach einem Jahr ist mein Vater entlassen worden. Er war auch an der Front, ist aber nicht verwundet worden. Vielleicht war es dem Staat zu viel, so viele Kinder zu ernähren, falls er fallen sollte. Er musste sich aber bereithalten.

Wir waren eine große Familie; sieben Mädchen und fünf Jungen waren wir zu Hause. Zwei meiner Brüder sind im Kindesalter gestorben. Eine meiner Schwestern, verstarb, als sie schon verheiratet war. Das war die Hannelore. Wir waren also dreizehn Kinder, [hier steht dreizehn, aber ich kann nur 12 zählen] von denen zehn großgezogen worden sind. Meine Mutter hat das Mutterkreuz bekommen. Wir haben immer gesagt, dass wir militärisch erzogen worden sind, weil es soviel zu tun gab. Die Arbeit wurde unter uns aufgeteilt, und wenn wir unsere Arbeit getan hatten, dann hatten wir frei.

Eingeschult worden bin ich in Neisse. Wir hatten einen großen Garten, nein, eigentlich waren es zwei Gärten. Es war ein doppelter Schrebergarten, weil wir so viele Personen waren. Es war das Hobby meines Vaters, das Gemüse selber anzubauen. Auch ich habe in diesem Garten gearbeitet. Wir haben alle arbeiten gelernt. Wir hatten auch Kaninchen und Hühner und Gänse. Mein Vater hatte gerne Tiere um sich, wie seine Kinder. Morgens stand er früh auf, damit er zuerst seine Tiere füttern konnte. Wir Geschwister hatten alle unsere Aufgaben, aber wir halfen uns gegenseitig, wenn der eine oder der andere mit seiner Arbeit noch nicht fertig war, so dass wir zusammen spielen konnten. Wir waren untereinander die besten Spielgefährten. Meine Mutter hat uns gut erzogen. Wir sind auch damals schon jeden Sonntag in die Kirche gegangen, in die evangelische Kirche in den Kindergottesdienst.

Ich war auch im BDM. Es war schön für uns Mädchen. Ich durfte am Sonnabend nicht hingehen, sondern musste zu Hause bleiben, um den Sonntag vorzubereiten helfen. Aber am Mittwoch war es sehr schön. Wir haben zusammen gesungen, erzählt, auch geholfen. Man hätte eine Uniform tragen können, aber man musste es nicht. Ich trug eine weiße Bluse und einen Rock, aber nur am Mittwoch.

Nach der Schule habe ich eine Lehre als Weißnäherin gemacht. Drei Jahre dauerte das. Ich brauchte auch kein Pflichtjahr abzuleisten, weil wir zu Hause so viele Kinder waren und ich zu Hause helfen konnte, denn meine Mutter war viel krank. Anfang September mussten wir Oppeln verlassen. Wir flüchteten in das Sudetenland. Meine Großmutter, achtundsiebzig Jahre alt, und meine Tante waren auch bei uns. Meine Großmutter wollte nicht mit. „Ich gehe nicht hier weg. Hier habe ich mein Bett, meine Sachen, und hier bleibe ich.“ Das sagte sie. Die Großmutter war noch gestürzt. Da so viele Menschen am und im Zug waren und das Drängeln und Stoßen heftig war, ist sie versehentlich aus dem Zug gestürzt worden. Den Schrecken hat sie wohl nicht überwunden, denn sie wollte immer nach Hause. Sie wollte nicht im Sudetenland bleiben, sie wollte zurück nach Neisse.

Da meine drei älteren Geschwister nicht mehr bei uns lebten, war ich das älteste Kind, welches mit in das Sudetenland fuhr und hatte natürlich auch schon Verantwortung zu übernehmen. Da der Zug so überfüllt war, wurde meine Mutter gegen die Tür gedrückt, die Tür öffnete sich, und sie fiel hinaus. Der Zug fuhr zum Glück nicht so schnell, und meine Mutter kam wieder in den Zug. Sie hatte durch die vielen Geburten sehr starke Krampfadern an den Beinen. Meine Mutter hatte mir aber immer gesagt, was ich machen sollte, wenn ihr etwas zustoßen sollte. Sie trug immer eine Notverpackung mit Verbandszeug bei sich. Sie sagte mir, dass ich auf die Wunde ein Fünfmarkstück legen sollte und dann das Ganze mit einem festen Verband umwickeln sollte. Ich war damals etwa vierzehn Jahre alt. Aber alle, die da waren, haben geholfen. Eine Frau, die mit im Zug war, hat mir das Geldstück gegeben. Meine Mutter hatte uns schon sehr früh beigebracht, wie man verbindet. Sie hat mir und meiner Schwester alles beigebracht. Und es hat geholfen. Sie hatte selber aber immer ein Geldstück dabei. Man wollte sie ins Krankenhaus bringen, weil bei dem Sturz eine Ader geplatzt war, aber sie wollte bei der Familie bleiben.

Sie hat dann das Bein immer hoch gehalten. Zum Glück waren wir alle in einem Abteil zusammen. Die Kinder saßen auf dem Schoß oder im Gepäcknetz. Im Jahre 1943 oder 1944 sind wir geflüchtet, zuerst zu meiner Tante nach Schweidnitz [heute Świdnica]. Meine Mutter und auch mein Vater stammten aus Schweidnitz. Meine Tante war ledig und hatte immer Zimmer vermietet an Leute, die die Woche über [in Neisse oder Oppeln oder anderswo??] hier arbeiteten und am Wochenende nach Hause fuhren. Durch den Krieg waren die Zimmer aber frei geworden, und so konnte sie uns zwei Zimmer geben. Aber wir konnten natürlich nicht alle dort Platz finden. Auch meine andere Tante hat Räume vermietet, in dem Haus, das sie geerbt hatte. Ihr Verlobter war im Krieg gefallen, und so war sie auch unverheiratet geblieben. Dort wurde ich mit meinen kleineren Geschwistern untergebracht. Wir blieben dort, bis der Krieg zu Ende war.

Dann kamen wir nach Brake im Landkreis Wesermarsch in Niedersachsen. Und das war ganz wichtig, denn dort haben wir das Evangelium kennengelernt. Das kam so: Mein Vater forschte nach seinen Geschwistern, und dabei hat er die Kirche kennengelernt, nein, eigentlich nicht kennengelernt, sondern wiedergesehen. Als meine Mutter in Schweidnitz gewohnt hat, da gab es eine Familie in der Nachbarschaft, die der Kirche angehörte. Die hat meine Mutter jeden Sonntag mit in die Kirche genommen, als meine Mutter noch sehr jung war. Aber sie war noch nicht getauft worden. Sie hat uns aber schon so erzogen, dass es weder Bier noch Alkohol überhaupt gab. Es gab nur Milch oder Kakao oder Carokaffee. Es gab also keinen Bohnenkaffee. Meine Mutter hat uns wirklich für die Kirche vorbereitet. Wenn ich daran denke, was sie für uns alles getan hat. Sie hat uns immer in die Kirche geschickt, und auch sie ist immer in die Kirche gegangen. Ich bin in Brake getauft worden, in der Weser. Wir sind immer in die Kirche gegangen, aber getauft werden wollten wir nicht. Denn zu der Zeit gab es die „Carepakete“ aus Amerika, und ich wollte nicht wegen der Carepakete getauft werden. Ich wollte mir ganz sicher sein. Ich wollte kein „Büchsenmormone“ sein. Meine Eltern hatten sich inzwischen taufen lassen. Ich war dann zwanzig Jahre alt, als ich getauft worden bin.

Mein Mann heißt Hans Wiborny. Die Zeiten waren schlecht als ich meinen Mann kennengelernt habe. Mein Vater war inzwischen Mitglied der Kirche. Da es in Brake keine Gemeinde gab, sind wir jeden Sonntag mit dem Zug nach Bremen gefahren und haben dort die Versammlungen besucht. Später hat mein Vater die Missionare eingeladen, und so sind sie nach Brake gekommen. In der Gemeinde in Bremen gab es eine Schwester Wiborny, für deren Kind ich Kleider nähen sollte. Diese Schwester wollte nach Amerika auswandern. Mein späterer Mann war mit dieser Schwester verheiratet. Sie wollte unbedingt auswandern, wenn es sein musste auch ohne den Mann. Die Schwester sagte: „Wenn du möchtest, dann hole ich dich nach.“ Aber er wollte seine Mutter nicht alleine lassen.

Ich war mit am Kai, als die Schwester Wiborny nach Amerika ging. Sie ging ohne ihren Mann. Sie hatten sich vorher scheiden lassen. Er sagte: „Was kann ich denn? Ich bin doch kein Handwerker. Ich bin ein Drogist von Beruf. Ich verdiene nicht genug!“ Er wollte nicht auswandern. Er hatte auch seine Eltern in Schweidnitz. Also habe ich meinen Mann das erste Mal am Kai in Bremen gesehen, als er seine Frau verabschiedete. Die Schwester Wiborny fragte mich, wie ich denn ihren Mann fände. Und ich sagte, dass ich ihn nicht schlecht fände und meinte, dass es sich mit ihm leben lassen müsste. Aber sie hatte dieses und jenes, sie wollte auswandern.

Ein Jahr später, nachdem seine Frau ausgewandert war, haben wir geheiratet. Mein Mann war schon lange Mitglied der Kirche. Er war auf Mission in Deutschland. Er ist 1928 Mitglied geworden, und ich bin 1928 geboren. Er ist im Krähenteich in Lübeck getauft worden.

Wir konnten niemanden finden, der das Evangelium annehmen wollte. Mein Mann sagte: „Ach, lassen wir das, wir bekommen Kinder, und dann haben wir genug Mitglieder.“ Das war ein netter Scherz! Aber wir haben sieben Kinder bekommen, und die Jungen sind alle auf Mission gewesen. Manchmal waren sogar mehrere gleichzeitig auf Mission. Eigenartig, nicht wahr? Ich habe immer Arbeit zu der Zeit gefunden. Einmal wurde ich gefragt, ob ich für jemanden einspringen konnte, weil die Frau in Urlaub fahren wollte und noch keine Vertretung für sich hatte. Natürlich wollte ich das gerne. Morgens um sechs Uhr, manchmal noch früher, habe ich mit der Arbeit begonnen. Ich habe Büroräume sauber gemacht. Wir wohnten dann schon in Lübeck. Und immer, wenn ich das Geld brauchte für meinen Sohn auf Mission, dann habe ich Arbeit gefunden. Ist das nicht schön? Ich hatte immer ein gutes Kindermädchen. Man geht doch nicht gerne aus dem Haus, wenn man kleine Kinder hat. Es war mein Schwiegervater. Er war mein bestes Kindermädchen. Er hat aufgepasst, und wehe, wenn das Essen nicht pünktlich fertig war. Dann sagte er: „Du, es ist jetzt schon halb zehn, das Kind muss etwas zum Essen haben.“ Aber es war nur Spaß. Ich habe fünf Jungen und zwei Mädchen.

Gottlieb Wiborny, der Vater meines Mannes, ist zusammen mit seiner Frau, Pauline Wiborny und dem Sohn Hans Wiborny, meinem Mann, zusammen in Lübeck getauft worden in einem kleinen Teich, dem Krähenteich. Und Großvater, Gottlieb Wiborny hatte vorher einen schweren Unfall gehabt und konnte nicht laufen. Er wurde aber schon von den Vollzeitmissionaren belehrt. Die Missionare haben gesagt: „Bruder Wiborny, wir können die Taufe auch verschieben. Daraufhin war er sehr, sehr deutlich und sagte: „Auf keinen Fall.“ Er meinte sogar: „Geh weg von mir, Satan.“ Er wollte unbedingt getauft werden. Er war so begeistert. Er wurde dann von den Missionaren im Rollstuhl zur Taufe gefahren. Und sie sagten: „Aber wenn sie aus dem Wasser kommen, dann können sie laufen.“ Er wurde am achten Dezember getauft. Das Eis musste aufgeschlagen werden. Zwei Missionare haben ihn in das Wasser getragen. Er ist dann getauft worden. Er ist dann alleine aus dem Wasser gekommen. Man hat ihm etwas umgehängt, dass ihm warm wurde. Und er hat dann den Rollstuhl nach Hause geschoben. Das waren drei oder vier Kilometer. Es ist ein Wunder, man kann es kaum glauben. Aber es ist wahr. Er ist sogar noch Missionar geworden. Er war Baumissionar. Er war der Erste auf der Baustelle und der Letzte. Und er hat nie eine Pause gemacht.“ Es war für ihn herrlich, dass er Baumissionar wurde

Interessant war, dass meine Eltern es geschafft haben, dass drei Jungen zur gleichen Zeit auf Mission waren. Das ist finanziell eine große Leistung. Aber einer hatte sich seine Mission selbst erspart. Es war Gerald. Der hat immer gesagt: „Ich will auf Mission gehen.“ Er ist auch gegangen. Wir hatten ein wenig Angst, dass er es nicht schafft, weil er eine schwierige Geburt hatte und lange im Krankenhaus bleiben musste. Ich habe ihn erst wiederbekommen, als er schon ein halbes Jahr alt war. Aber er sah aus wie ein neugeborenes Kind. Ich konnte Tag und Nacht in das Krankenhaus kommen und das Kind besuchen. Als er geboren war, musste er abwechselnd in heißes und kaltes Wasser gelegt werden, damit seine Organe und sein Herz richtig arbeiteten, denn er war nicht bei Bewusstsein. Aber er hatte seit der Kindheit immer Probleme mit Wasser. Er hat nie schwimmen gelernt. Er hat eine sehr starke Abneigung gegen Wasser. Aber er wollte unbedingt getauft werden. Er hatte Angst vor dem Wasser, aber er wollte getauft werden.