Selbongen, Sensburg, Ostpreußen

mormon deutsch helmut mordasMein Name ist Helmut Mordas. Geboren bin ich am 13. Juli 1932 in Selbongen, Kreis Sensburg, Ostpreußen. Mein Vater heißt Gustav Mordas, meine Mutter Anna Stopka. Sie wohnten in Selbongen. Wir hatten ein schönes Zuhause. Wir waren sechs Geschwister, fünf Mädchen und ich als einziger Junge. Mein Vater ist sehr früh gestorben, am 6. März 1939. Meine Mutter war damals noch sehr jung. Mein Vater war zweiundvierzig, als er starb, und meine Mutter war sechsunddreißig Jahre alt. Sie hatte große Mühe, das Haus zu bezahlen, das sie 1935 gebaut hatten, und die große Familie zu ernähren. Als mein Vater starb, war meine jüngste Schwester ein halbes Jahr, die Älteste war zwölf Jahre alt. So war es für meine Mutter sehr schwer. Ich weiß nicht, wie viel und wie sie getrauert hat und wann sie geweint hat, sie hat es uns nicht gezeigt. Aber ich kann mir vorstellen, dass sie im Laufe der Zeit viel darunter gelitten hat, dass der Papa nicht mehr da war. Ich hoffe, dass ich meiner Mutter keine großen Probleme gemacht habe.

Mit sechs Jahren bin ich zur Schule gegangen, bis der Krieg zu Ende war, das heißt, bis der Russe unser Dorf eingenommen hatte. Das waren nicht ganz sechs Jahre, die ich zur Schule gegangen bin. Diese Zeit war für uns eine schwierige Zeit. Am 26. Januar kam der Russe rein. Am 28. Januar hatten wir die erste Begegnung mit den Russen und Anfang Februar bin ich mit meiner Schwester von den Russen verschleppt worden. Alles, was die Russen uns weggenommen hatten, wurde an einem Ort zusammengebracht, wo wir dann das Vieh in Richtung Osten treiben sollten, der Weg sollte nach Longscha führen. Der Winter war sehr streng, ungefähr fünfundzwanzig Grad Minus. Das deutsche Vieh war nicht gewohnt, in der Kälte draußen zu grasen oder zu übernachten. Es ist krank geworden und wir blieben an einem Ort hängen, weil wir das Vieh versorgen mussten. Ich war damals zwölf Jahre alt und der Jüngste von der ganzen Truppe. Ich weiß, dass ich sehr viel geweint habe und habe so manches Mal die älteren Männer gebeten: „Kommt, wir laufen weg, ich kenne den Wald.“ Aber es ist mir nicht gelungen. Ungefähr nach sechs, sieben Wochen mussten wir in den umliegenden Dörfern Futter holen. So sind wir auch in unser Dorf gekommen. Da ich in diesen Wochen nie meine Sachen ausgezogen hatte, sondern darin geschlafen und gearbeitet habe, war ich voller Ausschlag, Krätze, Läuse, und alles. Ich bat den Kommandanten, der mit uns war, mich nach Hause gehen zu lassen. Als ich nach Hause kam, hat sich meine Mutter gefreut, dass ich wieder da war und dass ich mich wieder einmal richtig waschen und andere Kleider anziehen konnte. Dann durfte ich zu Hause bleiben, aber in einer Woche sollte ich wieder zurückgehen. Ich bin aber nicht mehr zurückgegangen.

Meine Schwester war auch in dem Lager, sie war damals vierzehn Jahre alt. Sie wollte nicht nach Hause. Sie meinte, dass sie im Lager sicherer sei, weil sie doch bewacht würden und da könne doch nichts passieren. Aber im Laufe der Zeit ist sie doch verschleppt worden bis nach Russland, nach Sibirien. Dort sei sie angeblich an Hunger-Typhus verstorben. Das war die zweitälteste Schwester, Margot. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, weil sie nicht wusste, was mit ihrem Kind passiert war. Einmal erzählte sie, dass sie geträumt habe, sie sei auf dem Friedhof bei meinem Vater gewesen. Als sie vom Friedhof zurückging, lief ein Mann hinter ihr her. Auf dem Friedhof hatten sie nämlich einen Soldaten gefunden, der erschossen worden war und den sie notdürftig begraben hatten. Dieser Soldat lief ihr im Traum hinterher und sagte, dass sie nicht weinen solle, denn von ihm weiß auch keiner, wo er geblieben sei. Deshalb sollte sie nicht um ihr Kind weinen. Meine Mutter hat das beruhigt, dass sie nicht alleine von solchem Schicksal betroffen war, denn andere hatten das Gleiche erlebt. Das war die Zeit, in der wir den Russen erlebt haben. Mit der Zeit hat sich alles ein wenig normalisiert. Die Russen sind nur ein Jahr in Ostpreußen geblieben. Später wurde das den Polen übertragen. Der Pole war eigentlich in dieser Richtung noch brutaler als der Russe. Sie haben alles weggenommen, was nicht niet- und nagelfest war.

Es war gut, dass wir in Selbongen ein eigenes Gemeindehaus hatten, in dem wir Zuflucht finden konnten. Ich möchte eine Geschichte erzählen. Wenn ich mich nicht irre, war das im April 1945. Die Russen haben in unserem Dorf sehr gewütet. Die jungen Frauen und Mädchen mussten sich verstecken, damit sie nicht von den Russen vergewaltigt wurden. Wir haben uns mit dem Gemeindeleiter, Bruder Kruska, in diesem Gemeindehaus versammelt. Einige Schwestern und meine ehemalige Schwiegermutter waren da. Sie sangen das Lied „Komm o komm, du Tag der Glorie“, dass weiß ich noch. Wir knieten uns nieder zu einem Kreis und Bruder Kruska fing an, das Gebet zu sprechen, und alle im Kreis sprachen ein Gebet und baten den Vater im Himmel, dass er uns doch alle vor den Russen bewahren möge. Die Straßen waren voll mit Russen. Sie haben bestimmt das Lied gehört, das wir gesungen hatten. Aber es ist kein Russe in das Gemeindehaus reingekommen. Das hat uns schon damals sehr verwundert. Natürlich wussten wir, dass das Gemeindehaus nicht verschlossen werden durfte. Über dem Podium war ein großes Christusbild. Man erzählte mir, dass einmal Russen reingekommen seien und dass sie vor dem Christusbild niedergefallen seien, als wenn sie ihn anbeten wollten. Aber sie haben im Gemeindehaus nichts kaputt gemacht. So ist das Gemeindehaus uns erhalten geblieben und auch von allen bösen Einflüssen der Außenwelt verschont geblieben.

In der Polenzeit, 1946, hatten wir keinen Schutz und keine Rechte, weil wir Deutsche waren, und man konnte mit uns machen, was man wollte. Da ist vieles geschehen, was für uns als Erinnerung nicht gut war. Ich weiß nur, dass sich so mancher das Leben genommen hat. Eine Bekannte von uns aus dem Nachbardorf, die ihre Tochter auf dem Friedhof in Selbongen beerdigt hatte, hat sich vor den Zug geworfen und sich das Leben genommen. Die Polen hatten ihr alles genommen, wie ihr schönes Gehöft. Sie musste in eine kleine Hütte einziehen. Das hat sie nicht verkraftet. Wir haben unser Leben mit Arbeit gefristet. In den Jahren von 1945 bis etwa 1948/49 haben wir nichts zu kaufen bekommen. Wir hatten keine Arbeit und haben nur von dem gelebt, was wir uns auf dem Feld erarbeitet bzw. gesät und gepflanzt haben. Dennoch wurde es uns weggenommen. Aber wir hatten doch wenigstens etwas, dass wir uns am Leben erhalten konnten.

Meine Eltern haben das Evangelium, ich glaube im Jahr 1923, angenommen. Wir Kinder sind in die Kirche hineingeboren und sind auch im Evangelium erzogen worden. Wir haben innerhalb dieser Gemeinschaft sehr großen Halt gefunden. Der Zusammenhalt, wenn ich so zurückblicke, war viel besser als jetzt hier in Westdeutschland. Wir haben uns bemüht, die Gemeinde aufrecht zu erhalten, auch als wir schon herangewachsen waren. Bruder Kruska, der Gemeindeleiter, war nicht mehr der Jüngste. Wir haben versucht, ihn in jeder Phase zu unterstützen, damit wir in etwa die Organisation soweit aufrechterhalten konnten, dass wir uns erbauen durften und von den anderen lernen konnten. Im Laufe der Zeit konnten wir das Gemeindehaus wieder benutzen, und das war gut so, denn es war unser Eigentum. Wir haben die Versammlungen erst einmal in deutscher Sprache abgehalten. Wir haben uns regelmäßig sonntags versammelt und es wurden die Sonntagsschule und der Gottesdienst abgehalten. Die Priesterschaft hatten wir meistens nachmittags. So sind wir in die Kirche hineingewachsen.

Es kam der Zeitpunkt, als die Polen uns die deutsche Sprache verboten hatten. Wir durften die Versammlungen nicht mehr in deutscher Sprache abhalten. Das war etwa in dem Jahr 1950. In dieser Zeit waren die Geschwister bereit, sich im Geheimen bei den Familien zu versammeln, um dort wenigstens die Sonntagsschule oder die Themen durchzuarbeiten, die wir uns vorgenommen hatten. Wir wussten, dass wir von der Kirche weit weg waren, wir hatten keinen Kontakt zur Zentrale der Kirche in Salt Lake City oder Berlin. Deshalb hatten wir keine Leitfäden und konnten nur aus den Büchern, die wir hatten, den Unterricht gestalten. Das waren die Bibel, das Buch Mormon, Lehre und Bündnisse, Köstliche Perle, Evangeliumslehre, das Buch „Der Weg zur Vollkommenheit“ und noch einige andere Bücher, die wir von der Kirche noch von früheren Zeiten hatten. Die haben wir durchgearbeitet. Ich war damals vielleicht sechzehn Jahre alt und als Sonntagsschullehrer eingesetzt worden. Wir haben das Buch Mormon drei Jahre behandelt, Seite für Seite, bis wir es ganz durchgearbeitet hatten.

1949 haben wir die polnische Staatsangehörigkeit angenommen. Das heißt, wir haben sie zwangsläufig angenommen, weil der Pole uns in der Schule versammelt und nicht eher raus gelassen hatte, bis wir für ihr Polen optiert haben. Danach hatten wir ein wenig mehr Freiheit, indem wir ein paar Rechte erworben haben und wir haben Arbeit bekommen. Ich war im Straßenbau tätig, im Wald und viele andere Arbeiten hatte ich, auch auf dem Bau. Dann habe ich mit Bruder Erich Konietz, der Traktorist war, als Traktoristhelfer angefangen auf einem Gut in Baranov. Von dort aus wurde ich zu einer Schulung, einer Weiterbildung geschickt. Das war eine berufliche Ausbildung als Traktorist in der landwirtschaftlichen Genossenschaft. In der Zeit habe ich immer wieder einen Ort gesucht im Wald, wo ich jeden Abend mein Gebet verrichtet habe. Ich habe den Herrn gebeten, wenn ich nach Hause komme, dass für uns das Gemeindehaus wieder geöffnet wird. Ich bin Ende November 1952 nach Hause gekommen. Bruder Kruska sagte, dass der Bürgermeister gekommen sei und gesagt habe, dass wir die Versammlungen wieder abhalten können, wenn wir gewillt wären, sie in polnischer Sprache abzuhalten. Wir waren der polnischen Sprache nicht so mächtig, aber einige konnten sie gut und ich kam jetzt auch von der Schule. Wir haben Weihnachten immer ein wunderschönes Programm gestaltet, am Heiligabend, zum Gedenken an die Geburt Christi. Wir haben uns bemüht, von November bis Heiligabend ein Programm auszuarbeiten, das für alle ein Erfolg sein sollte. Wir haben uns auch bemüht, die polnische Sprache mit einzubeziehen, so gut es ging. Es ist uns auch gelungen. Ich weiß, dass ich an diesem Heiligabend die erste Ansprache in polnischer Sprache gegeben habe. Das war nicht einfach, aber es hat geklappt. Wir hatten eine schöne Zeit. Das Gemeindehaus war so voll mit Menschen, dass die Türen offen stehen bleiben mussten. Alle waren von diesem Programm begeistert. Von dieser Zeit an konnten wir das Gemeindehaus benutzen und die Versammlungen abhalten, wie wir es früher gewohnt waren, mit Sonntagsschule und Gottesdienst, in dem Kompaktprogramm, wie wir es jetzt auch haben. Aber wir hatten eine schöne Zeit. Wir waren viele Jugendliche, auch meine Frau, wir waren damals in dem Alter zwischen achtzehn und zweiundzwanzig/dreiundzwanzig Jahren. Wir mussten das Gemeindehaus selbst unterhalten, weil wir von Staat sowieso nichts bekommen haben. Wir mussten für Brennstoff sorgen und dergleichen. Aber wir Jugendliche haben zusammengehalten, haben dafür gesorgt und im Wald Holz gehauen und nach Hause geschafft. Auch haben wir Torf gestochen und all die Dinge, damit wir das Haus im Winter beheizen konnten, um die Versammlungen abzuhalten.

Etwas muss ich noch hinzufügen. Ich habe später als Monteur in der Werkstatt gearbeitet und hatte viel mit dem Staatssicherheitsdienst zu tun. Meine Schwester war 1949 schwarz nach Deutschland gegangen und dann nach England. Später wanderten sie nach Australien aus. Ich bin vom Stasi vorgeladen worden. Anlass dafür war, warum sie weggegangen sei und warum wir das nicht gemeldet habe. Aber dann ist auch die Kirche zur Sprache gekommen. Sie wussten, dass wir uns selbst unterhalten, sie wussten auch, dass wir unseren Zehnten bezahlten. Hauptmerkmal war, wo bleibt das Geld. Es war verboten, das polnische Geld ins Ausland zu schaffen und so musste ich in dieser Weise Rede und Antwort stehen, was mir auch ganz gut gelungen ist. Sie haben geglaubt, dass wir das Geld haben, um uns selbst zu erhalten, für Brennstoff und für Bedürftige. Es gab viele Geschwister, die sehr arm waren. Die Männer waren nicht da. Sie waren entweder gefallen oder in Gefangenschaft geraten. So hat man dafür gesorgt, dass die Not unter den Geschwistern möglichst niedrig gehalten wurde. Wir junge Männer haben uns bemüht, auch den Geschwistern in der Landwirtschaft zu helfen, Mähen des Getreides oder das Beackern des Feldes, so dass die Saat auch in die Erde kommen konnte. Es war eine schwere Zeit. Sie hat uns alle ein bisschen geprägt. Nicht nur, dass wir eine schöne Zeit hatten, indem wir im Glauben gewachsen sind, sondern wir hatten auch einen guten Zusammenhalt. Einer war für den Anderen da. Es gab keinen Zank und keinen Streit, sondern wir hatten wirklich eine schöne Zeit. Wenn etwas gewesen ist, ist man zusammengekommen, hat sich ausgesprochen und dann war das ausgeräumt und alles war in bester Ordnung.

Weil ich viel mit dem Stasi zu tun hatte, der GUB vom polnischen Staat, habe ich sehr viel gefastet und gebetet. Wenn ich vorgeladen worden bin, bin ich nie ohne fasten und beten dorthin gegangen. Wenn wir über die Kirche gesprochen haben, habe ich ihnen erklärt, woran ich glaube und dass das Evangelium wahr ist. Ich habe einmal eine Ansprache gegeben und die jungen Geschwister darin gewarnt, keiner politischen Organisation beizutreten, keine öffentlichen Veranstaltungen zu besuchen. Das hat man mir bei diesen Besuchen vorgehalten. Wenn ich unsere Jugend in Schutz genommen und darüber gesprochen habe, was wir als Evangelium lehren und was unsere Vorstellung von diesem Leben ist, wollten sie meistens nicht mehr mit mir sprechen. Das gab mir immer ein starkes Zeugnis, dass er Herr mit mir war, denn sie haben sich dann schnell entschlossen, mit mir nicht weiterzureden.

Durch das viele Fasten bin ich krank geworden und hatte einen Lungenriss bekommen. Ich musste im Krankenhaus behandelt werden, dort habe ich sieben Wochen gelegen. Ein Doktor Maxei hat mich betreut. Weil ich viel Blut verloren hatte, habe ich eine Blutübertragung bekommen. Das war zu einem Zeitpunkt, als ich bei einem Bauern, einem älteren Ehepaar, beim Dreschen geholfen habe. Ich habe das Korn auf den Speicher getragen und als ich einen Sack auf die Schulter genommen habe, ist irgendetwas passiert und ich war krank.

Nach dem Krankenhaus hatte ich wieder Kontakt mit dem Stasi, aber ich konnte ihnen immer beweisen, dass ich die Informationen, die sie von mir verlangten, gar nicht geben konnte. Es wäre für mich eine große Sünde, wenn ich jemanden in irgendeiner Form verraten hätte. Das wollte ich nicht.

Aufgrund meiner Krankheit bin ich nach Hause gekommen und es kam der Tag, dass die jungen Leute zum Militär eingezogen wurden. Ich weiß genau, es war am Heiligabend, als der Bürgermeister zu uns kam und die Einberufung brachte, für mich und für Bruder Erich Konietz. Wir kannten uns, wir haben zusammen gearbeitet und wir mussten uns am 7. Januar in Ortelsburg [Szczytno]stellen. Ich weiß nicht mehr, welches Jahr das war. Wir waren vier Leute, die dort zusammengetrommelt waren in Ortelsburg. Alle wurden aufgerufen und wurden zum Bahnhof gebracht. Ich blieb stehen, weil mein Name nicht gefallen war. Als alle weg waren, bin ich zu dem Obersten gegangen und habe gesagt: „Sie haben mich gar nicht aufgerufen.“ Er sagte: „Wie heißen Sie denn?“ Ich sagte ihm das. Er sagte dann: „Ihre Papiere sind gar nicht da. Fahren Sie nach Hause und dann bekommen sie Bescheid.“ Bruder Erich Konietz musste gehen. Wir beide haben uns verabschiedet und ich bin nach Hause gefahren. Ich denke, das war auch die Führung unseres Herrn. Da Bruder Kruska doch schon ziemlich alt war, haben wir ihn sehr unterstützt und auch auf diese Weise haben wir uns bemüht, die Gemeinde aufrecht zu erhalten. In den Belehrungen, in den Versammlungen und was noch zu tun war. Auch in den Besuchen, was die Geschwister anbelangte. Nicht in dieser Form, wie sie heute gemacht werden, aber so gut es ging, haben wir es gemacht. Ich kam nicht mehr zum Militär. Dieser Doktor Maxei war auch ein Militärarzt und hat gesagt, alle die er behandeln hat, schreibe er untauglich. So bin ich nicht beim polnischen Militär gewesen.

Meine Frau und ich, wir kannten uns schon von Kindheit an. Innerhalb der Kirche hatten wir viele Versammlungen und einige Zusammenkünfte, wie Tanz, und wir haben uns auch in den Privatwohnungen versammelt, bei ihnen zu Hause, bei uns zu Hause. Die Polen waren dann doch ein bisschen neidisch auf uns. Aber wir haben es gemacht und sie ließen uns auch in Ruhe. Als ich meine Frau kennenlernte, war das wie bei wahrscheinlich jedem jungen Mann, man hat sich lieben gelernt. Im Laufe der Zeit kam das Gesetz der Familienzusammenführung heraus. Ihr Vater war in Westdeutschland und sie sollten auswandern, aber wir wollten zusammen bleiben und auch heiraten. Das war unser Bestreben. Das war gar nicht so einfach. Jedenfalls sagte ich zu meiner Verlobten: „Du fährst jetzt mit deiner Mutter nach Westdeutschland und irgendwie werde ich dann auch raus kommen.“ In der Zwischenzeit hatten sie Besuch von ihrem Cousin, der in der ehemaligen DDR lebte. Wir haben darüber gesprochen, wie ich rauskommen könnte. Sie hatten schon die Papiere zur Ausreise nach Westdeutschland. Er sagte, dass es vielleicht möglich sei, dass ich zu Besuch in die DDR fahre und von dort sei es kein Problem, mit der S-Bahn nach Westberlin zu kommen. Aber das ist uns nicht gelungen. Wir haben alle möglichen Dinge in Bewegung gesetzt, wir sind zum Amt gegangen und haben vorgetäuscht, dass sie schwanger wäre. Das ist alles nicht gelungen, sie haben mich nicht raus gelassen. Sie konnte fahren und ich musste bleiben. Im Juni sind sie nach Westdeutschland gefahren und Anfang September oder Oktober des gleichen Jahres ist sie als Tourist zurück nach Selbongen gekommen. Das war „Trick siebzehn“. Ich habe gesagt: „Wenn du kommst, werde ich alles vorbereiten, damit wir hier heiraten können.“ Ich habe den Bürgermeister gesprochen und den Standesbeamten. Sie kannten ja meine Verlobte. Sie kam Anfang Oktober nach Posen und dort habe ich sie abgeholt.

In Posen ist mir noch etwas passiert. Ich bin nach Posen gefahren und sollte sie von dem Hotel abholen, in dem sie als Touristen aus Westdeutschland gelandet waren. Ich bin zur Rezeption gegangen und habe gefragt, ob hier eine Delegation von Urlaubern aus Westdeutschland gekommen sei. Sie haben verneint, hier seien keine angekommen. Ich wollte mit dem Taxi in das nächste Hotel fahren und fragte wo denn eines wäre. Als ich von der Rezeption zum Ausgang ging, hörte ich auf einmal meinen Namen. Ich schaute mich um, aber da war keiner. Ich bin aber doch zurückgegangen und da kam meine Verlobte die Treppe herunter. Die haben mich einfach belogen. Ich fragte sie: „Hast du mich gesehen und mich gerufen?“ „Nein, ich habe dich nicht gesehen und auch nicht gerufen.“ Ich habe schnell sie und ihren Koffer genommen, bin zum Taxistand gegangen, schnell zum Hauptbahnhof und dann nach Hause gefahren. Am 4. Oktober haben wir standesamtlich geheiratet. Aufgrund der Heirat haben wir versucht, dass sie mich nach Westdeutschland mitnehmen konnte. Das ist uns aber auch nicht gelungen. Wir sind nach Sensburg zum Landratsamt gefahren und da haben sie uns die Genehmigung erteilt, aber der Regierungsbezirk Allenstein musste das noch bestätigen. Die haben das verweigert. Meine Frau sagte, dass sie hierbleiben wollte. Ich sagte ihr, dass sie zurückfahren solle, denn sie habe jetzt einen anderen Namen und käme sonst gar nicht mehr weg. Sie ist nach Westdeutschland, nach Hause gefahren und ich bin zurückgeblieben. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um nach Westdeutschland zu kommen.

Ich war im Betrieb gut angesehen. Ich habe viele Arbeiten gemacht, ob es im Büro war, oder in der Werkstatt. Einmal sollte ich nach Osterode über Allenstein fahren, um Ersatzteile einzukaufen. Ich hatte eine Besuchsreise in die DDR beantragt. Weil das in Allenstein bearbeitet wurde und ich durch den Stasi ein bisschen bekannt war, wollte ich fragen, ob sie die Papiere bearbeitet und genehmigt hätten. Auf dem Rückweg habe ich den Fahrer des LKWs gesagt, dass er anhalten solle, ich wolle kurz da rein gehen und nachfragen. Ich fragte also nach, er ging nachsehen und sagte: „Sie können einreisen.“ Aber ich musste den Wehrpass, den ich hatte, aber als untauglich geschrieben war, abgeben und meinen Personalausweis auch. Da musste ich etwas vortäuschen und habe gesagt, dass ich sie morgen vorbei bringe. Ich habe drei Tage Urlaub genommen, bin am nächsten Tag nach Allenstein gefahren, habe die Papiere abgegeben und jetzt musste ich schneller sein als die Behörde. Ich habe überlegt, was ich denn nun machen sollte. Die Papiere gingen über Warschau und in Warschau war das Konsulat der DDR, das die Einreisegenehmigung geben musste. Wenn man die Sachen überprüft und merkt, dass ich überhaupt keine Verwandten in der DDR hatte, hätte man mich eingesperrt. Das sollte nicht passieren. Also musste ich ihnen irgendwie zuvor kommen. Als ich mit dem Zug nach Hause gefahren bin, fiel mir ein, dass ich eine Bekannte auf der Post hatte. Ich ließ mir ein Telegramm-Formular geben, das nicht beschrieben war. Hedwig fragte, wozu ich das brauchte. Ich sagte: „Vielleicht kannst du das später einmal erfahren.“ Sie gab es mir und zu Hause haben wir es geschrieben.

In der Zwischenzeit hatte meine Frau ein Telegramm geschickt, dass es ihr gut ginge. Auf das leere Telegramm-Formular haben wir geschrieben, denn es brauchte nicht gestempelt zu werden: „Schwester schwer krank, komme sofort. Bestätigt Doktor Hans Schulze.“ Das war die Unterschrift meines Schwagers. Damit bin ich nach Warschau gefahren. Am Konsulat in Warschau wurde man erst einmal auf Waffen untersucht, bevor man rein durfte. Ich überlegte, was ich nun machen sollte mit diesem Telegramm. Ich hatte schon ein mulmiges Gefühl im Herzen. Ich bin an die Abfertigungstheke gegangen und sagte: „Meine Papiere, meine Ausweispapiere und als ich von Allenstein nach Hause kam, habe ich dieses Telegramm vorgefunden. Ist es möglich, dass das schnell bearbeitet werden kann?“ Er sagte: „Da muss ich zu meinem Chef gehen.“ Er nahm das Telegramm und ging zu seinem Chef. Es dauerte vielleicht zehn Minuten/eine viertel Stunde, das war eine lange Zeit. Auf einmal kam er zurück und sagte: „Ja, es ist für zehn Tage genehmigt worden.“ Nun habe ich ein bisschen gestöhnt: „Soviel Geld ausgegeben und nur zehn Tage.“ Ich brauchte keine zehn Tage, aber irgendetwas musste ich ja sagen. Er wollte von mir noch zwei Passbilder haben. Ich sagte, dass mir von Passbildern keiner etwas gesagt hatte. „Ich habe keine Passbilder.“ Ich fragte, ob hier ein Automat sei, aber da war keiner. Ich habe ohne Passbilder die Einreisegenehmigung bekommen, ganz einfach.

Ich bin nach Hause gefahren und habe meiner Mutter gesagt, dass ich morgenfrüh abfahren muss. Das war schwer für meine Mutter. Sie sagte aber: „Mein Junge, fahre!“ Am nächsten Tag habe ich mich fertig gemacht und bin über Allenstein nach Posen und von dort mit dem internationalen Zug gefahren, der über Moskau nach Warschau, Posen und Berlin fuhr. Als ich in Allenstein ankam, mit meinem Koffer, der schon halb auseinandergefallen war, deshalb wollte ich noch einen Riemen besorgen, sehe ich zwei junge Leute, ein Ehepaar, stehen. Sie schauten auf die Anzeigetafel der Züge. Ich bin etwas näher herangetreten und sagte, dass ich wissen wollte, welche Sprache sie sprechen. Sie sprachen Deutsch. Weil sie Polnisch nicht lesen konnten, habe ich gefragt, ob ich helfen könne. „Ja, das wäre nett“ sagten sie. „Wir wollen nach Berlin über Posen.“ Ich sagte: „Ich will auch nach Berlin. Ich gehe nur kurz in die Stadt, um einen Riemen für meinen Koffer zu kaufen. Dann komme ich zurück und wir können zusammen fahren, wenn sie möchten.“ Sie haben gewartet und wir sind zusammen in ein Abteil gestiegen und haben uns ein bisschen unterhalten. Ich wollte wissen, aus welchem Teil Deutschlands sie kamen. Sie kamen aus Westdeutschland, aus Gelsenkirchen-Buer. Meine Frau wohnte in Gelsenkirchen-Resse. Ich wusste nicht, dass Buer und Resse so nahe aneinander liegen. Als wir so gesprochen haben, habe ich ihnen meinen Plan erzählt. Sie waren beide Lehrer von Beruf. Er sagte: „Wissen sie, wir werden in Ostberlin ihren Koffer nehmen, damit sie ohne Gepäck sind. Sie fahren doch auch mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo in West-Berlin.“ Ich sagte, dass ich in Berlin wahrscheinlich abgeholt werde. Von Geschwister Ranglack, die in West-Berlin wohnten. Er war Dozent an einer Universität. Sie haben auf mich gewartet, denn der Zug hatte auch noch Verspätung gehabt.

Mit diesen jungen Leuten aus Westdeutschland hatten wir ein bisschen Pech. Ich bin erster Klasse gefahren und sie fuhren zweiter Klasse und die war so voll. Ich bin noch zu dem Zugleiter gegangen und habe gefragt, ob diese beiden jungen Leute zu mir ins Abteil kommen könnten. Er sagte, dass sie das können, wenn ich den Zuschlag bezahlen würde. Das habe ich gerne gemacht. Sie waren aber schon in dem Zug drin und kamen nicht mehr raus.

In Ost-Berlin haben sie auf mich gewartet. Sie waren ausgestiegen und ich auch. Als der Zug hielt, genau am Abteil stand Schwester Ranglack. Ich sagte zu den jungen Leuten, dass alles in Ordnung sei und dass ich abgeholt worden sei. Schwester Ranglack hat den Koffer genommen, sie hatte auch die Fahrkarte schon gekauft. So sind wir in die S-Bahn gestiegen und in vielleicht zwanzig Minuten waren wir in West-Berlin.