Mehlsack, Braunsberg, Ostpreußen
Ich heiße Anton Polkähn und bin am 7. Dezember 1918 in Mehlsack, Ostpreußen, geboren. Mein Vater, Johann Polkähn, ist am 23.Oktober.1872 in Rosengarten, Kreis Braunsberg, Ostpreußen, geboren. Meine Mutter, Anna Polkähn, geborene Freier, ist am 26. Juli 1880 in Plauten, Kreis Braunsberg, geboren. Ich bin das Zwölfte von fünfzehn Kindern, die die Mutter geboren hat.
Ich kann mich noch an meine Kindheit erinnern, als ich vier bis fünf Jahre alt war. Meine Eltern zogen 1922 oder 1923 mit Leiterwagen und Pferd von Schönsee nach Mehlsack. Die Kuh war am Wagen angebunden, das Schwein war auf dem Wagen, und auch die Hühner, Kaninchen und Katzen. Das Mobiliar wurde nachgeholt. Das waren zwei Betten für die Eltern, ein Schrank für die Kleider und einige Betten für uns Kinder. 1923 bestand die Familie aus zehn Personen, Vater, Mutter, Maria, Anna, Franz, Paul, Josef, Anton, Andreas und Hugo. Zwei Jahre danach wurde noch ein Junge mit Namen Otto geboren. Hugo und Otto sind in einem Monat im Alter von fünf und drei Jahren an Diphtherie verstorben. Das Haus, in das wir einzogen, war ein freistehendes Haus mit großem Garten, Scheune und Stall. Die Wohnung war kalt. Der Herd in der Wohnstube war aus Ziegelsteinen mit einer Kochplatte und daneben ein Kachelofen. Die Wohnstube wurde geheizt. Es gab kein Extra-Wohnzimmer. Unser Leben spielte sich in der großen Wohnstube ab. Auch standen noch zwei Betten in der Wohnstube.
Oft haben die Eltern am Samstag mit uns Kindern Spiele gemacht. Mutter hatte den Fußboden geschrubbt, eine große Holzwanne wurde aufgestellt und mit warmem Wasser gefüllt, und wir Kinder wurden eines nach dem anderen abgeschrubbt. Zum Schluss kam Vater dran. Danach wurde gesungen, gebastelt und geturnt. In dem Haus gab es kein elektrisches Licht, keine Wasserleitung und keine Toilette. Die Notdurft musste auf dem Feld verrichtet werden.
Meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass beim Essen und beim Zubettgehen gebetet wurde. Sie hat den Glauben an Gott-Vater uns Kindern vermittelt. Wir waren sehr arm. Nächte hat Mutter damit verbracht, irgendeinem Kind Handschuhe oder Strümpfe zu stricken. Oft lag sie am Morgen mit dem Strickzeug in der Hand übermüdet im Bett. Ich weiß, dass sie es fertig brachte, in einer Nacht ein paar Handschuhe oder ein paar Strümpfe zu stricken, für das Kind, das es benötigte. Im Spätherbst wurde der Webstuhl in der Wohnstube aufgestellt. Wir Kinder mussten die Schafswolle zupfen, die die Mutter gewaschen und getrocknet hat. Wie oft haben Vater und Mutter an ihren Spinnrädern gesessen und Wolle gesponnen. Daraus wurden dann Stoffe, Strümpfe und Handschuhe gefertigt. Den ganzen Winter war der Webstuhl in Betrieb. Mutter hat aus dem gesponnenen Garn für uns Jungs Leinen gemacht, das sie zu Hosen verarbeitete. Sie kratzten zwar, aber nach einigen Wäschen konnte man sie gut tragen.
Im Sommer war das Haus von Getreidefeldern umgeben. Obstbäume blühten, die Vögel sangen, es war eine himmlische Ruhe. Kornblumen blühten, aus dem wir Kinder uns Kornblumensaft machten, der wunderbar schmeckte. Die Blüten der Kornblumen wurden gezupft, in eine Flasche getan, bis sie voll war. Dann wurde lauwarmes Wasser eingefüllt, ein Esslöffel Zucker dazu, die Flasche wurde verschlossen und in die Sonne nach draußen gestellt. Nach etwa zehn Tagen war das ein köstliches, gutes Getränk.
Nun etwas über mein Leben: Im Alter von neun bis zehn Jahren stürzte ich beim Spielen in der Scheune vom Oberbalken ab und schlug mit dem Kopf auf einen Eisenhebel einer Kartoffelmaschine. Ich zog mir dabei eine sehr schwere Verletzung zu und bin wochenlang mit verbundenem Kopf zur Schule gegangen. Eines Tages fragte unser Lehrer, ob jemand der Kinder ein Instrument spiele. Mein großer Bruder, Franz, hatte sich eine kleine Ziehharmonika gekauft. Wenn er zur Arbeit ging, übte ich heimlich und konnte nach einiger Zeit ein Lied spielen. Also meldete ich mich und der Lehrer fragte mich, was für ein Instrument ich denn spiele. „Ziehharmonika“ sagte ich. Der Lehrer war hocherfreut und bat mich, am nächsten Tag vorzuspielen. Er war so erfreut, dass er alle Kinder der Klasse bat, sich zu Weihnachten von den Eltern irgendein Musikinstrument schenken zu lassen. Nach Weihnachten gab es dann auch einige Mundharmonikas, Blockflöten, eine Geige, eine Ziehharmonika und auch Querflöten. Der Lehrer Knobelsdorff probte privat mit uns jede Woche. Nach und nach kamen durch die Proben noch einige andere Instrumente hinzu, so dass wir die nächsten Weihnachten ein kleines Konzert darboten. Der Eintritt betrug zehn Pfennig. Wir staunten, denn es waren vier- bis fünfhundert Menschen in den Saal gekommen. Die Einnahme waren fünfzig DM. Die Menschen waren so begeistert, dass wir Kinder und auch der Lehrer weitere Instrumente kauften, wie Schlagzeug und Ziehharmonika, die ich spielte. Leo Schwarke, der eine Ziehharmonika von seinen Eltern geschenkt bekam, spielte sie ausgezeichnet. So hatten wir jetzt drei Ziehharmonikas, Schlagzeug, fünf bis sechs Mundharmonikas, sieben bis acht Querflöten, Teufelsgeige und einige andere Instrumente.
Im Jahr 1930 bis 1932 haben wir zu Weihnachten und auch zu anderen Anlässen Konzerte gegeben und auch zum Tanz gespielt. Der Eintritt war nun schon auf fünfundzwanzig Pfennig gestiegen. Zu Weihnachten mussten wir drei Tage lang Konzerte geben. Der Saal ließ nur fünfhundert Menschen zu, aber weit über eintausend-vierhundert Karten wurden verkauft. Es war für uns Jungs eine große Freude zu sehen, wie begeistert die Menschen von uns vierzig Jungen und dem Lehrer waren. Wir aus der Stadt Mehlsack waren die einzige Schülerkapelle in ganz Ostpreußen. Unser Lehrer Knobelsdorff machte an einem schönen Sommertag mit uns einen Ausflug an den schönen Taftersee. Natürlich wurden die Musikinstrumente mitgenommen. Wie erstaunt waren wir, dass dort eine Militärkapelle zum Tanz aufspielte. Wir haben gefragt, ob wir auch etwas spielen durften, und wir durften. Die Militärkapelle war von unserer Musik so erfreut, dass sie uns fragten, ob wir auch Tanzlieder spielen können – wir konnten, und wie. Jetzt spielten wir zum Tanz auf. Die Soldaten der Militärkapelle tanzten alle und wollten gar nicht mehr selber spielen. Wir haben einen Teller genommen und ein Junge von uns hat während des Spielens von den Tanzpaaren Geld gesammelt. Über acht DM waren auf dem Teller. Dafür haben wir uns Torte und Kuchen gekauft. Es war ein wunderbarer Tag für uns Jungs.
Im März 1933 kam ich aus der Volksschule. Ich wollte Musik studieren, da ich in der Schülerkapelle gespielt habe. Es gab 1933 über sechs Millionen Arbeitslose und mein Vater war damals auch arbeitslos. Mein Vater bekam sechs Mark fünfzig Stempelgeld für den ganzen Monat. Jetzt kam der Musiklehrer zu meinen Eltern und bat sie, mich Musik studieren zu lassen. Ich wollte es, aber mein Vater hatte kein Geld. Er sagte zu mir: „Junge, wenn du Musik machen möchtest, müssen wir eben noch mehr hungern“. Das tat mir so leid und ich sagte daraufhin zu meinem Vater: „Nein, ich möchte arbeiten gehen und etwas dazu verdienen“. Da ich keine Arbeit erhielt, bin ich zu einem Großbauern gegangen. Ich habe sechs Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet und habe etwas mit Pferden zu tun gehabt. Deshalb brauchte ich nicht zur Hitler Jugend. Hitler hat damals gesagt: „Die in der Landwirtschaft arbeiten, brauchen nicht zur HJ gehen“. Das war ein Glück für mich.
1938 wurde ich zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. In Lübbenau, Spreewald, bei Berlin, habe ich ein halbes Jahr gedient. Im Frühjahr 1939 wurde ich entlassen und mir wurde gesagt, dass ich keine Arbeit annehmen sollte, weil ich sofort zum Militär eingezogen würde. Da Hitler alle Leute, die in der Landwirtschaft arbeiteten, ein Jahr zurückgestellt hat, war ich nicht im Krieg in Polen und in Frankreich, sondern nur 1940 in Russland. Als im Sommer 1941 der Krieg mit Russland begann, marschierten wir durch Litauen, Lettland, Estland, bis auf die Inseln Mond, Esel und drei Kühe. Die Inseln liegen etwas nordwestlich von Estland. Dann weiter Richtung Leningrad.
1941 war ein sehr starker Winter mit viel Schnee und Kälte in Russland. Nicht nur die Soldaten, sondern auch das russische Volk hatten in dem Winter gehungert und gefroren. Der Schnee war so hoch, dass der Nachschub für Pferde und Soldaten so schlecht war, dass wir gezwungen waren, für die Pferde Birken zu fällen. Die Äste wurden kleingehackt und den Pferden zum Fressen gegeben. Es waren Temperaturen von fünfzig bis zweiundzwanzig Grad Kälte. Selbst der Wasserbrunnen vor dem Haus einer finnischen Familie, bei der wir einquartiert waren, war zugefroren. Ich bin nach Koporje mit Pferd und Schlitten mit zwei Fässern beladen gefahren, um Wasser aus dem Fluss zu holen. Eine Bahnverbindung gab es nicht. Die Familie hieß Ruponen, auch sie haben viel gehungert. Ich habe manchmal Brot und auch Kartoffeln von der Wehrmacht gestohlen und es der Familie gegeben, weil sie nichts zu essen hatten. Wenn man mich erwischt hätte, dass ein deutscher Soldat die Wehrmacht beklaut, um es dem Feind zu geben – so hieß das damals – wäre ich vor das Kriegsgericht gestellt und erschossen worden, oder in eine Strafkompanie abkommandiert worden. Aber meistens wurde man wegen eines solchen Vergehens standrechtlich erschossen. Wenn es Verpflegung für die Soldaten gab, mussten wir sechzig Kilometer mit dem Schlitten fahren. Das nahm drei Tage in Anspruch. Wir hatten keine warmen Wintersachen und es war bitterkalt. Ich bin fast die ganze Strecke gelaufen und habe mit den Armen und Beinen aneinandergeschlagen. Als wir in Koporje im Lager ankamen, war ich wie tot. Ich konnte meine Arme nicht mehr bewegen. Man hat mich auf das Pferd gesetzt und das Pferd lief die drei Kilometer zum Stall, wo ich einquartiert war.
In Koporje kamen wir in ein Quartier. Wir mussten den Nachschub nachholen, der sechzig Kilometer zurücklag und die Verpflegung und die Geschosse für die Artillerie holen. Innerhalb drei Tagen waren wir wieder zurück. Auf diesem Weg, als ich die Munitionseimer fahren musste, geschah folgendes: Der Russe hatte bemerkt, dass wir die Munition zu unserer Artillerie fuhren und hat uns beschossen. Da ich Angst hatte, dass eine Granate in unserem Wagen einschlagen könnte, bin ich abgestiegen und bin hinter dem Wagen hergelaufen. Ich war vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten lang hinterhergelaufen, als plötzlich eine laute Stimme zu mir sagt – ich war ganz alleine mit dem Wagen – „bleib stehen!“ Ich habe mich dermaßen erschrocken und bin stehengeblieben. Im gleichen Moment schlug eine Granate ein und ein großes Stück der Granate flog an meine Brust und schlug dann neben mir ein. Mir wurde ganz heiß. Ich dachte: „Da hast du wieder Glück gehabt!“ Heute weiß ich ganz genau, dass es kein Glück war, sondern eine Bestimmung. Ich musste auf dieser Erde noch weitere Dinge erledigen.
Von diesem Ort wurden wir versetzt in die Nähe von Leningrad bis runter nach Kiew. Dort war der Russe durchgebrochen und wir sollten ihn aufhalten. Das gelang uns aber nicht, wir haben dort alles verloren und waren auf dem Rückzug. Ich wurde als Meldereiter eingesetzt, denn damals gab es kein Telefon oder sonst so etwas, und ich musste die Meldungen weiterbringen. An einem dieser Tage lag ich nachts in einem großen Heuschober, weil ich müde war. Als ich gerade am Einschlafen war, weckte mich jemand. Ich solle sofort zum Hauptmann kommen, weil ich eine Meldung in den nächsten Ort bringen musste. Ich bin aufgestanden, habe mein Pferd gesattelt und habe die Meldung in Empfang genommen. Eine kleine Skizze wurde angefertigt. Nun hatte ich eine Skizze und sollte in ein Dorf reiten, den Namen weiß ich nicht mehr. Ich kam an eine kaputte Brücke und musste mit dem Pferd durch das Wasser reiten. Letztendlich merkte ich, dass im Dunkeln Leute auf mich zukamen. Das waren deutsche Soldaten, die sich absetzten. Endlich sah ich irgendwo ein Licht und bin hin geritten. Ich habe gefragt, wo dieser Ort liegt, weil ich die Meldung hinbringen musste. Mir wurde gesagt, dass ich über den Berg durch den Wald reiten soll, hinter dem Berg liege das Dorf. In Russland von einem Dorf zum anderen, das sind keine zwanzig, dreißig Kilometer, sondern unendlich. Ich kam durch den Wald auf eine Lichtung und ich sah schon den Ort und einen Reiter. Plötzlich schreit jemand auf Russisch: „Wer ist da?“ Ich sah den russischen Soldaten und merkte, dass ich schon an der russischen Linie war. Instinktiv bin ich weitergeritten, es war nachts, also dunkel. Der Russe hat mich nicht als Deutschen erkannt. Auf einmal kommen mir sechs russische Reiter entgegen. Ich weiß auch nicht mehr, wie das alles passiert ist. Die sausten an mir mit einem Karacho vorbei. Ich bin stur weitergeritten, habe das Pferd gewendet und bin circa. zehn Meter hinter den Russen her geritten. Sie hatten wahrscheinlich einen Auftrag. Als ich durch die Linie der Russen war, bin ich mit dem Pferd links über den Graben gesprungen und bin querfeldein die ganze Nacht durchgeritten, bis zum nächsten Tag, ohne Essen oder sonst etwas. Ich habe nur gedacht: „Wo hörst du jetzt irgend etwas“. Es war totenstill. Endlich hörte ich Fahrzeuge und bin die Richtung weitergeritten. Am nächsten Tag, nachmittags, habe ich eine Einheit gefunden. Warum hat mich von den Russen keiner gesehen? War das wieder Vorsehung? Ich glaube daran. Die durften mich nicht sehen. Ich musste weiter und die Dinge erledigen.
Ich kam zu der Einheit und wurde abkommandiert, weil wir wieder alles verloren hatten, alle Geschütze waren weg. Wir wurden wieder gesammelt und ich kam zur untersten Gebirgsdivision, die in Braunau am Inn lag. Ich kam zur Infanterie und dort geschah folgendes: Ich hatte keine Erfahrung mit der Infanterie, ich hatte nur von Pferden Ahnung. Wir waren mit vielleicht zehn, zwölf Leuten auf einem Berg und eines Tages griff der Russe an. Wir haben geschossen, die haben geschossen, jedenfalls haben wir den Berg verteidigt. Wie man so ist als junger Mensch, ich sprang in ein Loch hinein und habe auch geschossen. Plötzlich schießt ein Russe mit einem Gewehr genau in das Loch. Wieder geht die Granate durch meine Füße durch, schlägt in die Erde ein und hat mich nicht getroffen. Ich sprang aus dem Loch, habe nur mit Handgranaten verteidigt und bin nicht verwundet worden. Drei Tage später wurden wir von der Ungarischen Einheit abgelöst und wir mussten nach Jugoslawien. Irgendwie war der Russe wieder durchgebrochen und wir sollten ihn dort aufhalten. Wir liefen den Berg runter, es waren zwölf Kilometer Gebirge. Als wir unten ankamen, geschah wieder ein Wunder: Unser Leutnant sagte: „Setzt euch nicht alle zu einem Haufen zusammen“. Ich nahm meinen Rucksack und ging zehn, zwanzig Meter weiter weg und setzte mich auf einen Felsbrocken. Als ich gerade mein Butterbrot essen wollte, gab es dort, wo wir gesessen hatten, einen fürchterlichen Knall. Bei dieser Explosion haben wir über zwanzig Leute verloren. Mir ist wieder nichts passiert. So etwas geschah fortwährend.
Ein anderes Beispiel war, als wir eingekesselt waren. Wir mussten wieder zurück und der Russe hat uns eingekesselt. Wir lagen auf einer Wiese. Alles hatten wir verloren, alles war weg. Es hieß nur: „Rette sich, wer kann!“ Ich wollte in einen Wald laufen und wieder war eine Stimme, die sagte: „Lauf nicht dort, lauf alleine!“ Dieser Eingebung bin ich gefolgt. Ich bin die ganze Fläche bis zum Wald gelaufen, bin dahin und dahin gesprungen. Plötzlich war es wieder so: „Lauf nicht dahin!“ Ich habe mich hingeworfen, ein riesiges Loch riss auf, meine Beine hingen in dem Loch und mein Oberkörper lag oben. Meine Gedanken waren: „Meine Güte, hoffentlich ist den Beinen nichts passiert“. Nichts ist passiert! Ich habe die Beine aus dem Loch rausgezogen. Das war ein Loch von mindestens zwei Meter Durchmesser. Zufall? Nein! Ich glaubte immer an Gott, aber ich habe nie verstanden, wer er ist. Meine Mutter hat uns das Beten gelehrt und das habe ich auch gemacht. Ich habe nicht gewusst, wer wirklich Gott ist, das habe ich erst viel, viel später kennenlernen dürfen.
1943 wurde ich verwundet. In den Karpaten habe ich ein Auge verloren. Ich bin dann erst einmal nach Wien ins Lazarett geflogen. Dort wurde das Auge rausgenommen. Von Wien wurde ich nach Dresden verlegt, weil der Russe schon so weit war. In Dresden geschah folgendes: Ich lag in dem großen Lazarett mit über achthundert Verwundeten. Jetzt griffen die Engländer und Amerikaner an und bombardierten die Stadt. Ich lag drei Tage in dieser Stadt, im Linkischen Bad und habe folgendes mitgemacht: Da ich verwundet war, wollte ich nicht in den Keller und blieb bei Luftalarm einfach liegen. Der Offizier kam und sagte: „Geht wenigstens in den Heizungskeller“. Ich bin dann aufgestanden, habe alles liegenlassen und ging in den Heizungskeller. Der Angriff kam, die Bomben fielen. Ich wusste aber nicht, dass sie Brandbomben warfen und die riesige Halle, in der wir lagen, in Flammen stand. Ich saß mit noch einem Soldaten und zwei Frauen in dem Heizungskeller. Das Licht war plötzlich ausgegangen. Auf einmal schlug eine Gasgranate in den Luftschacht, zu uns in den Keller. Alles war dunkel und ich sagte, dass ich einmal nachsehe, was da los ist. Ich bin die Treppe hoch – wir konnten gar nicht mehr raus. Nur noch Feuer, rechts, links, oben, unten, alles brannte. Ich habe gesehen, dass die Seitenwände durchgebrannt waren, es bestand ja alles aus Holz. Ich habe Luft geholt, mit dem Stiefel gegen die Mauer gestoßen und bin nach draußen gerannt und geflogen. Als ich zehn, fünfzehn Meter weg war, stürzte das ganze Haus ein. Die ganze Asche lag über mir. Ich habe nur noch ins Gras gebissen und gesagt: „Gott im Himmel, wann hört das endlich auf?“ Aber ich habe überlebt, auch diese Sache und das waren drei Nächte. Ich habe mitgeholfen, die fast fünfhundert Verwundeten aus diesem Haus herauszuschleppen.
Nach drei, vier Wochen kam ich wieder zur Front, in den Osten. Dort hatte ich wieder ein Glück, ich hätte beinahe mein rechtes Auge auch noch verloren. Es ging aber alles gut. Ich war auf dem Weg nach Bad Schandau. In einem Dorf, den Namen weiß ich nicht mehr, habe ich eine Raststätte aufgesucht, weil ich Durst und Hunger hatte. Ich fragte den Wirt, ob er mir ein Glas Wasser geben könne. Ich hatte keinen Ausweis, gar nichts, weil alles verbrannt war, nur Hose, Jacke und Schuhe. Dem Wirt habe ich erzählt, dass ich aus Dresden komme und dort alles verbrannt ist. An dem Tisch saßen zwei Damen, die auch aus Dresden waren, was ich aber nicht wusste. Als ich wieder auf die Straße gehen wollte, sprach mich eine Dame an und fragte: „Kommen Sie aus Dresden?“ „Ja“ sagte ich. „Wo wollen Sie denn hin?“ „Ich wollte Richtung Bad Schandau“. „Wir wollen auch dorthin, kommen Sie mit uns!“ Ich wusste nicht, dass eine Dame Schauspielerin war, sie hieß Anna Fischer. Sie hatte einen riesigen Koffer bei sich, auf dem stand „Bühnengepäck“. Diesen Koffer habe ich genommen und wir sind auf die Straße circa sechs, sieben Kilometer gegangen. Plötzlich standen auf der Straße Soldaten, „Kettenhunde“ genannt. Sie sammelten alle auf, Soldaten oder was auch immer. Ich hatte doch keinen Ausweis. Jetzt kamen sie: „Halt, Ausweispapiere!“ Diese Anna Fischer ging gleich hin und sagte: „Hören Sie mal, wir sind eine Künstlergruppe und wollen in Bad Schandau ein Abendspiel machen“. Die Kettenhunde schauten mich an und sahen den großen Koffer auf meinem Rücken, auf dem „Bühnengepäck“ stand. Sie haben das geglaubt und ließen uns gehen. In Bad Schandau habe ich zwei Tage übernachtet, aber dann habe ich mich doch an einem Sammelplatz gemeldet. Ich brauchte unbedingt einen Ausweis, denn wer sich damals nicht ausweisen konnte wurde entweder als Kriegsverbrecher, oder Absetzen vom Feind, erschossen oder in eine Strafkompanie versetzt.
Ich kam an der Sammelstelle an und man hat mich nach Braunau am Inn geschafft, um dort Wache zu schieben. Ich war verwundet, hatte ein Auge verloren. Bei der deutschen Wehrmacht war es eigentlich nicht erlaubt, einen verwundeten Soldaten wieder zur Front zu schicken. In letzter Zeit haben sie aber alle genommen, ob alt oder jung. Ich wurde eingekleidet und am 20. April 1945 wieder in Deutschland, nach Görlitz, zur Front geschickt, wo der Russe schon war. In diesen Tagen hatte ich noch zwei, drei Einsätze, zur Verteidigung vor den Russen. Einen Tag, bevor wir kapitulierten, hatten wir den Auftrag, für die deutsche Bevölkerung, die in den Westen wollte, den Russen zu halten und mit ihm zu kämpfen. Alle Straßen waren schon verstopft.
Einmal haben wir uns in einem Ort eingegraben. Wir waren vielleicht fünfzig, sechzig zusammen gesammelte Soldaten. Auf einmal kam der Russe mit vielleicht hundert Leuten über die Wiese. Wir haben gewartet und ihn bis auf achtzig Meter herankommen lassen, dann haben wir uns natürlich verteidigt. Der Russe griff nicht weiter an und blieb liegen, hat aber sechsunddreißig Panzer geschickt. Ich habe sie gezählt. Sie kamen auf uns zu. Was machen wir jetzt? Wir hatten kleine Panzerlöcher an der Straße gegraben und eine Gruppe von sechs Mann lag an der Straße in diesen Löchern. Wir haben gewartet, bis die Panzer kamen. Der erste Panzer kam und ein Deutscher hat ihn gleich mit der Panzerfaust abgeschossen. Der Panzer ging in Flammen auf. Wir hatten Sturmgeschütze und der zweite Panzer wurde abgeschossen. Alle vierunddreißig Panzer haben kehrt gemacht und sind abgehauen. Wenn die gewusst hätten, wie wenige wir nur waren!
Zwei Tage später, am 8. Mai 1945, hieß es auf einmal: „Deutschland hat kapituliert!“ Nun stand ich dort auf der Straße und bin in Gefangenschaft gekommen. Die ersten vier, fünf Monate, bis Oktober, November war ich beim Russen und habe in der Landwirtschaft gearbeitet. Die haben uns gut behandelt. Dann hat man uns den Polen übergeben. Das war im Winter 1945. Ich kam in polnische Gefangenschaft und habe dort dreieinhalb Jahre verbracht.
Im April 1949 wurde ich aus Warschau in Polen und nach Duisburg entlassen. Dort wohnte meine Schwester, Anna Hardt. Meine Eltern wohnten auch dort. Sie sind von Pommern aus dem Lager der Polen entlassen worden und auch zu meiner Schwester gezogen. Ich hatte nur das, was ich an hatte und habe mich bei der Stadt gemeldet. Mich besuchte ein Kamerad aus der Kriegsgefangenschaft, Gerhard Schröder, der dort bei einer Firma arbeitete. Er fragte: „Hast du schon Arbeit?“ Ich sagte: „Nein“. „Du kannst bei uns anfangen, in der Margarinefabrik Schmitz und Loh. Komm doch einmal mit!“ So bin ich dorthin gefahren und wurde eingestellt. Ab Mai 1952/53 habe ich dort gearbeitet. In dieser Firma gab es einen Mann, Johannes Hopfe, der Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage war, was ich aber nicht wusste. In der Fabrik habe ich die Maschinen bedient und Freitagnachmittags wurden sie gesäubert. An einem Freitag, das war 1956, wunderte ich mich, wo denn die Leute alle sind. Wir haben Montag bis Freitag gearbeitet und Samstag, Sonntag hatten wir frei.
Ich fragte einen, wo die denn alle sind und er sagte: „Die sitzen bestimmt unten im Keller und warten auf den Feierabend“. Ich bin in den Keller gegangen. Tatsächlich saßen dort ungefähr zwanzig Leute und unterhielten sich. Ich stellte mich neben der Treppe hin und hörte, dass sie sich über Religion unterhielten. Da waren katholische, evangelische, einer war von der Pfingstgemeinde, der andere war Neuapostole. Ich traute meinen Augen nicht. Ich war katholisch und wusste von alldem überhaupt nichts. Ich dachte, was sagen die da alles. In der Ecke saß jemand, der nach meinen Erfahrungen die besten Antworten gab. Ich habe den Mann angesprochen: „Hör mal Hans, welcher Religionsgemeinschaft gehörst du denn an?“ Er antwortete: „Ich bin Mormone“. Ich packte mich an den Kopf, ich verstand gar nichts mehr. So viele Religionsgemeinschaften, ich kannte zu diesem Zeitpunkt nur katholisch und evangelisch. Ich fragte ihn, was das wäre. Er sagte: „Wenn ich dir das jetzt erklären würde, würdest du nicht daran glauben. Das Beste ist, du kommst einmal dahin und schaust dir die Kirche an. Da kannst du deine Fragen stellen“. Ich ganz schnippisch: „Darauf kannst du dich verlassen. Den Verein schaue ich mir an!“
Ich weiß nicht genau, ob es gleich der Sonntag war oder der nächste, ich bin tatsächlich nach Oberhausen gefahren (in Duisburg gab es keine Gemeinde), habe die Gemeinde gesucht und sie tatsächlich gefunden. Allerdings suchte ich eine Kirche mit Turm. Dort war auch alles kaputt und ich wusste nicht, dass diese Kirche in einem behelfsmäßigen Raum untergebracht war. Endlich habe ich ein Schild gelesen „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ und bin reingegangen. Das war ein kleiner Saal, von dem Bruder Hopfe sich ein kleines Zimmer abgeschlagen hatte und dort wohnte. Ich habe ihn gefragt, was ich denn jetzt machen müsse. „Gar nichts“, sagte er. „Du setzt dich auf die Bank und fertig. Ich war gewohnt, mich zu bekreuzigen usw. Plötzlich begann eine Sonntagsschule. Ich muss ganz ehrlich sagen, der Geist hat auf mich so stark gewirkt, dass ich von einer Schwester, die vorne stand, sehr beeindruckt war. Für mich war neu, dass sie eine Sonntagsschule abhielten. In dieser Sonntagsschule gab es damals eine zweieinhalb Minütige Ansprache. Ein Bruder sagte, dass wir jetzt eine zweieinhalb Minütige Ansprache von einer Schwester Starenfeld hören. Ich dachte: „Was, eine Frau?“ Das war für mich ganz neu. Diese Schwester, eine Missionarin, war verheiratet und hatte drei Kinder. Ein Kind hatte sie auf dem Arm gehabt, ein Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, saß neben ihr, links saß ein ungefähr dreijähriges Kind. Da steht diese Frau auf, gab das Baby einer anderen Schwester, geht nach vorne und hält eine Ansprache. Ich war dermaßen begeistert und wirklich überzeugt. Ich konnte fast nicht glauben, dass eine Schwester so überzeugend eine Ansprache halten kann.
Seit dem Sonntag bin ich jeden Sonntag nach Oberhausen gefahren. Ich weiß nicht warum. Ich musste einfach nach Oberhausen. Zwei, drei Wochen später kam auch meine Frau mit. Wir waren beide keine Mitglieder, aber wir sind jeden Sonntag hingegangen. Wir sind zum Bahnhof gelaufen, mit dem Zug nach Oberhausen gefahren und dort wieder mindestens zwanzig Minuten zur Kirche gelaufen. Das haben wir fast ein Jahr oder ein dreiviertel Jahr lang gemacht. Das war 1956. Niemand hat mich gefragt, ob ich getauft werden wollte. Es gab keine Missionare, nur die Sonntagsschule. Dann sind wir wieder nach Hause gefahren. Ich habe dort im Chor gesungen, die GFV mittwochs besucht und war schon integriert, aber ich habe nicht verstanden, dass ich getauft werden musste. An einem Sonntag sah Bruder Küpeli, der damals Distriktspräsident war und eine Tafel an der Wand mit den Namen der Anwesenden. Mein Name stand ganz oben und da war ein Strich gezogen. Der Untersucher war ich und der war am meisten anwesend. Das hat er sich angesehen und hat gefragt: „Wer ist dieser Bruder?“ Es wurde gesagt: „Das ist noch kein Bruder, er ist kein Mitglied“. „Was, kein Mitglied?“ So kam er zu mir und hat mir eine Frage gestellt: „Bruder Polkähn, sie sind schon so lange als Untersucher hier. Ich möchte sie fragen, ob sie getauft werden möchten“. Ich habe abgelehnt, mit der Begründung, dass ich noch zu wenig wisse. Ich bin immer zur Kirche gegangen, aber niemand hat gefragt, ob ich getauft, oder vielleicht auch belehrt werden wollte. Eines Tages kam ein Ehepaar aus Amerika. Ich glaube sie hießen Ehle, so ungefähr, ein wunderbares Ehepaar. Sie haben auch die Tafel gesehen und haben gefragt, wo ich wohne. Plötzlich war das Ehepaar bei mir zu Hause, bei meinen Eltern und wir kamen ins Gespräch.
Als das Gespräch begann, sagten sie: „Bruder Polkähn, glauben Sie an Gott, den ewigen Vater?“ Ich habe gesagt: „Jawohl, ja, dass glaube ich“. „Glauben Sie an den Sohn, Jesus Christus, dass er für uns das Sühnopfer vollbracht hat?“ „Das glaube ich auch“. „Glauben Sie auch, dass Joseph Smith der Prophet war, der das Evangelium wieder herstellen musste?“ „Ja, ich habe davon gehört. Ein toller Mann. Ich denke, das glaube ich auch“. Der Mann schaute mich an und sagte: „Bruder, Sie sollten getauft werden“. Das war mein Interview. Ich habe „Ja“ gesagt. Am 22. September 1957 wurde ich getauft und war nach dem Krieg das erste Mitglied in Duisburg. Jetzt kommt das Sonderbare: Ich wurde getauft und fuhr wieder nach Oberhausen. Zwei Monate später kamen zwei Missionare nach Duisburg, standen vor unserer Tür und sagten: „Bruder Polkähn, wir sind Missionare der Kirche Jesu Christi und wir möchten in Duisburg die Sonntagsschule aufbauen“. Ich fragte: „Wo denn?“ „In der Gutenbergschule“. Meine Frau und ich gingen hin. Ich war Mitglied, meine Frau nicht, unser Sohn nicht und die Ulrike im Kinderwagen und meine Mutter nicht und sie sind mitgekommen. Das war die Gründung der Kirche Jesu Christi in Duisburg.
Meine Frau ist im März 1958 getauft geworden. Nach ein paar Wochen sagte meine Frau: „Sollen wir nicht wieder nach Oberhausen fahren?“ In der Sonntagsschule in Duisburg haben die zwei Missionare ein Schild mit „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Sonntagsschule von neun Uhr dreißig bis elf Uhr“ an die Türklinke gehängt. Das war in der Schule. Dort hat man uns eine kleine Garderobe zur Verfügung gestellt. Die Missionare haben das Abendmahl gesegnet und ausgeteilt, dann gingen sie wieder mit ihren Taschen raus. Ich sagte zu meiner Frau: „Weißt du was, lass uns doch ein paar Wochen bleiben, nach Oberhausen können wir immer noch gehen“. Vierzehn Tage später standen zwei Schwestern da. Ich dachte, da laufen immerzu zwei Schwestern rum. Die Missionare haben das Abendmahl vorbereitet und ich sagte zu ihnen: „Da sind zwei Schwestern, kennen sie die zufällig?“ Sie sagten: „Ach, Schwester Schuks kommen sie rein“. Beide wurden getauft. Nach und nach kam Bruder Pulsch und wie sie alle hießen.
So entstand die Kirche, bis Bruder Hopfe von Oberhausen nach Duisburg zog, der jetzt Ältester war. Jetzt hatten wir einen Ältesten und wurden von 1958 bis 1960 eine eigene Gemeinde. Bruder Hopfe wurde Gemeindevorsteher und zwei Jahre später wurde ich Gemeindevorsteher. Ich