Boock, Vorpommern
Mein Name ist Albert Roggow. Ich wurde in Boock, Pommern geboren und zwar in Vorpommern. Das ist immer noch deutsch und war früher DDR Gebiet. Mein Vater hieß Albert Roggow; mein Großvater hieß auch Albert Roggow. Meine Mutter hieß Frieda, geborene Wagner. Sie ist 1944 gestorben, denn meine Eltern waren beide sehr krank und ich habe sie gepflegt. Sie hatten schon zwei Wochen lang Typhus gehabt und wurden immer schwächer. Plötzlich sagte mein Vater, dass das so nicht weiterginge, denn so er würde kaputt gehen. Er beauftragte mich, in die Küche zu gehen, zwei Eier in die Pfanne zu schlagen und Essen zu kochen. Das hat er dann gegessen. Meine Mutter hatte mit ihm geschimpft und gesagt, dass er davon nur noch kränker werden würde, aber er hat sich nicht darum gekümmert, sondern sagte: „Ich muss etwas essen, sonst komm ich hier nicht durch“. Das hat ihn gestärkt und er ist tatsächlich durchgekommen. Meine Mutter wurde immer schwächer. Eines Tages sagte sie, dass ich ihr eine Schüssel mit Wasser holen sollte, weil sie sich waschen wollte.
Danach hat sie für sich Wäsche herausgesucht und hingelegt. Anschließend sagte sie zu mir: „Heute Nacht werde ich sterben. Diese Sachen gibst du deinem Vater, die soll er mir anziehen. Und du siehst zu, dass du nach Hamburg gehst zu unseren Verwandten“ und so geschah es tatsächlich. Mitten in der Nacht weckte mein Vater mich, dass ich ins Dorf laufen und einen Arzt anrufen sollte. Aber es gab im Dorf kein Telefon, nur ein Gastwirt hatte eines. Der hat auch versucht einen Arzt anzurufen, aber es war 1944 und es gab keine Ärzte mehr, da die alle Soldaten waren. So konnte kein Arzt kommen und meine Mutter starb in der Nacht. Ich konnte nicht begreifen, dass es so war, denn ich war erst 13 Jahre alt. Nur eines hatte ich erfasst, nämlich dass ich nach Hamburg gehen sollte.
Mein Vater war im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen und auch im Zweiten Weltkrieg. Er sah, dass Pastoren Waffen und Kanonen segneten, damit möglichst viele Feinde, Engländer, Franzosen, Amerikaner, umkommen sollten. Für ihn wurde klar, dass das auch die Pastoren der Feinde tun würden. Durch diese Geschehnisse hatte er zur Kirche kein Vertrauen mehr und von da an brauchte ich nach dem Krieg nie wieder am Konfirmandenunterricht einer Kirche teilnehmen, um nicht verwirrt zu werden. Und das war dann auch nicht der Fall.
Aber mein Großvater hatte ein ganz großes Buch, eine Bibel. Er wohnte ebenfalls bei uns im Ort und hat für mich immer eine Seite aufgeschlagen, die ich lesen konnte, wenn ich ihn besuchte. Immer wenn ich kam, habe ich darin gelesen. „Der Auszug der Kinder Israels aus Ägypten“ – das habe ich fast durch bekommen. Wenn man diese Geschichten gelesen hat und von nichts anderem verwirrt wurde. Ich denke, dann kennt man Gott und weiß wie er mit den Menschen umgeht.
Wie schon gesagt, war mein Vater auch im zweiten Krieg Soldat. Eine Zeitlang war ich alleine zu Haus, bis ich dann zu meinem Großvater kam. Mein Vater kam zu den Engländern in Gefangenschaft und danach zu Verwandten nach Hamburg, wo ich laut meiner Mutter auch hingehen sollte. Doch mein Vater ist dort nicht geblieben, denn er hat immer gesagt, dass er nach Hause zu seinem Sohn müsse. Und er kam auch wieder.
Er war ein selbstständiger Schneider. Doch zu der Zeit war alles knapp, auch die Lebensmittel und es gab nichts in unserem Ort, der auch nur ein Bauerndorf war. Es gab keine Kuh mehr und keine Hühner, da die Russen alles mitgenommen hatten, was sie bekommen konnten. Die Russen hatten natürlich auch Hunger und so gab es große Trecks Richtung Russland. Von Bekannten hatte mein Vater nur einen Beutel Schrotmehl bekommen. Davon haben mein Vater und ich vier Wochen lang gelebt. Morgens Mehl und Wasser, abends Mehl und Wasser. So sind wir durchgekommen, bis wir das erste Gemüse aus dem Garten ernten konnten.
Später bin ich dann doch zu meinen Verwandten nach Hamburg gekommen. Mittlerweile war ich schon 19 Jahre alt und es gab in der DDR einen Befehl, dass die Jugendlichen entweder im Erzbergbau oder in der Volksarmee dienen mussten. Da wäre ich dann auch hingekommen, aber ich hatte eine dritte Möglichkeit – die Berufsfeuerwehr – gewählt. Dort sollte ich am Ende der Ausbildung vor der Beförderung zum Brandmeister als letzte Prüfung einen Kollegen bespitzeln. Das habe ich jedoch verweigert, weswegen ich nicht befördert wurde. Plötzlich hieß es, dass ich nach Rostock versetzt würde. Als ich zu Hause am Packen war, kam ein Freund vorbei und sagte, dass ich sofort verschwinden müsste, weil ich verhaftet werden sollte. Ohne mich von meiner Familie verabschieden zu können, bin ich anstatt nach Rostock nach Berlin gefahren, um von dort nach Hamburg zu meinen Verwandten zu kommen. In Berlin-Bernau bin ich in die S-Bahn gestiegen, mit der man durch Berlin in den französischen Sektor fahren konnte. Ich hatte keinen Personalausweis oder sonstige Ausweispapiere bei mir, sondern nur meinen Koffer mit der Feuerwehruniform und anderen Unterlagen. Ohne einen Personalausweis oder sonst eine Berechtigung konnte man nicht in den Westen reisen, sondern musste damit rechnen verhaftet zu werden. So wusste ich nicht was passieren würde und hoffte gut durch zu kommen.
Die S-Bahn fuhr rein nach Berlin-Frohnau. Und da auf dem Bahnsteig standen sie draußen – links und rechts der Bahn. Es war die Volksarmee mit Maschinenpistolen, die jeden kontrollierte, der in den Westen wollte. In unserem Abteil saßen wir zu viert. Zuerst haben sie die beiden vorderen kontrolliert. Nun blieben noch mein Gegenüber und ich. Der Mann mir gegenüber war aber fest eingeschlafen. Die Vopos wollten ihn zuerst kontrollieren und versuchten ihn wachzurütteln. Sie riefen: „Ausweiskontrolle“! und schüttelten ihn, doch er wachte erst beim dritten Mal auf. In seiner Verwirrung dachte er, es sei eine Fahrscheinkontrolle, griff in die Tasche und zückte seinen Fahrschein. Da haben die Volkspolizisten so lachen müssen, dass sie vergaßen mich zu kontrollieren. Der Zug fuhr weiter und ich war davon gekommen, denn mich hätten sie auf jeden Fall rausgeholt.
So bin ich nach Berlin-Frohnau gekommen. Ich meldete mich dort bei der Polizei, die mir sagte, dass ich im französischen Sektor sei. In einer halben Stunde würde ein Wagen der französischen Kommandantur kommen um ich abzuholen und ich müsste dort eine Nacht bleiben. Außerdem warnten sie mich, dass man dort versuchen würde mich für Indochina zu interessieren. Zu der Zeit war Krieg in Indochina und sie versuchten jeden jungen Mann dafür zu werben. Doch ich müsse immer nur standhaft sagen, dass ich nach Hamburg wolle, dann könne mir nichts passieren. So geschah es auch und ich wiederholte immer wieder, dass ich zu meinen Verwandten nach Hamburg wollte. Daher haben sie mich am nächsten Morgen entlassen. Für eine kurze Zeit habe ich in Berlin in einem Jugendheim gearbeitet. Schließlich bin ich mit einem halbleeren Flugzeug von Berlin nach Hamburg geflogen. Dort hat mein Onkel Willi mich in Empfang genommen. Der hatte viel Geld und ist mit mir zu den Behörden gefahren. So bekam ich die Genehmigung dort zu wohnen, weil mein Onkel alles geregelt hatte mit Hamburg enttrümmert wurde. Durch diese Arbeit habe ich meine Frau in Hamburg kennen gelernt. In dieser Baufirma gab es einen Arbeitskollegen, der drei Töchter hatte. Meine Verwandten waren sehr nett, aber auch sehr wohlhabend, haben viel für mich getan und mich sehr gut behandelt. Dennoch fühlte ich mich in deren Umgebung nicht ganz so wohl, denn ich kam vom Dorf und war nun in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie gelandet. Weil mein Arbeitskollege merkte, dass ich mich bei meinen Verwandten ein wenig unwohl fühlte, fragte er mich eines Abends, ob ich ihn und seine Familie nicht einmal besuchen wollte. Er hätte zwar nur Mädchen, aber er hätte auch einen Schrebergarten –vielleicht würde ich mich dort wohl fühlen.
So ging ich ihn besuchen. Er hatte einen Schrebergarten mit einem kleinen Holzhaus. Dort habe ich zum ersten Mal meine Frau getroffen. Sie war 13 Jahre und ich 19 Jahre alt. Ich kann mich noch gut an den ersten Abend erinnern. Sie hatten drei große Teller auf dem Tisch, auf dem lauter Häppchen und belegte Brote waren. Die Erzählungen dauerten und dauerten – über Ostpreußen und die Flucht – und mein Hunger wurde immer größer. Ich hatte gearbeitet, war fast 20 Jahre alt und hatte Hunger! Was sollte ich tun? Schließlich habe ich einfach ihren Teller genommen und habe ihnen etwas von ihrem eigenen Teller angeboten! Sie waren total erstaunt, haben dann aber genommen. Nun, dann konnte ich ja auch essen!
Vier Jahre später, als meine Frau 17 und ich 23 Jahre alt waren, haben wir geheiratet. Wir bekamen fünf Kinder und alle wurden in Hamburg geboren. Doch bis auf unseren Ältesten, der in Niedersachsen wohnt, leben wir alle in Schleswig-Holstein.