Gilge, Labiau, Ostpreußen

mormon deutsch christel roggowMein Name ist Christel Roggow geborene Simmuteit. Ich komme aus Gilge [heute Matrossowo in Russland], Kreis Labiau, Ostpreußen. Mein Vater heißt Albert Simmuteit und meine Mutter Frieda Hedwig Simmuteit, geborene Schiemann. Meine Großeltern haben bei uns gelebt und heißen Daniel Simmuteit und Anna Simmuteit, geborene Lascheit. Ich habe noch drei Schwestern: Helga, Kätchen und Hannelore und wir lebten am Ende des Dorfes.

Ich möchte erzählen, wie es zu unserer Flucht aus Ostpreußen gekommen ist. Wir hatten in der Nacht einen schweren Angriff auf Königsberg erlebt und dabei die „Christbäume“ (Beleuchtung am Himmel, die von den Flugzeugen abgesetzt wurde, damit es zum Bombardieren hell genug war) am Himmel gesehen, die vom Beschuss kündeten. Als alles etwas nachließ, sind wir dennoch beunruhigt zu Bett gegangen. In der Nacht hatte meine Mutter dann einen seltsamen Traum. Sie hatte geträumt, dass Adolf Hitler hinter ihr her wäre und konnte sich am Morgen gar nicht beruhigen, dass sie so etwas träumen konnte. Dann kam die Post. Mein Vater schrieb aus Marseille, Frankreich, wir möchten bitte sofort unsere Sachen packen, alles stehen und liegen lassen und zu Tante Anna und Onkel Rudolf Köpke nach Mecklenburg gehen. So sind wir mit dem Dampfer Lotte nach Labiau gefahren, wo meine Großeltern mütterlicherseits, Auguste und Franz Schiemann, uns abgeholt hatten. Dort haben wir eine Nacht geschlafen und sind am nächsten Tag mit dem Zug nach Blankensee weitergefahren. Unterwegs gab es einen Angriff von Tieffliegern, die den Zug beschossen. Zum Glück gab es aber keine größeren Schäden.

Unser Onkel Rudolf hatte in Blankensee ein großes Anwesen und ihm gehörte ziemlich viel vom Ort. Außerdem war er der Bürgermeister dort und war insgesamt gesehen ein sehr angesehener Mann. Er hatte viele Arbeiter dort, unter anderen. Franzosen und auch Polen. Die hat er immer gut behandelt, denn er war ein sehr loyaler und netter Mensch. Das zeigte sich auch daran, dass das Hausgesinde, die Arbeiter von den Feldern und andere Ausländer zusammen mit ihm und seiner Familie am Tisch gesessen und gegessen haben, obwohl es verboten war. Mein Onkel hat sich sehr um diese Menschen gekümmert. Als einer der Polen krank wurde, hat mein Onkel aus dem 18 Kilometer entfernten Neustrelitz sogar einen Arzt für ihn besorgt. Später, nachdem die Russen gekommen waren, haben diese Franzosen und Polen, die ja nun befreit waren, meinem Onkel das Leben gerettet. Er sollte erschossen werden, weil er Bürgermeister war und damit sicher einer Partei angehört hatte. Das hat mein Onkel aber verneint und erklärt, dass er das nie geschätzt hätte. Diese Aussagen haben die Franzosen und Polen unterstützt und ihm damit das Leben gerettet.

In Blankensee blieben wir einige Nächte, dann brachte uns mein Onkel zu seinem Freund nach Hinrichshagen, der dort ein Gut hatte. Sie waren Jagdfreunde und hatten früher zusammen studiert. Diese Familie Kröger hatte die gleiche Einstellung wie mein Onkel, denn sie haben die Menschen geliebt. Wir haben bei ihnen im Gutshaus gewohnt, in dem es wunderschöne Treppen, Stiegen, Wendeltreppen und ein Turmzimmer gab, in dem wir schliefen. Das war eine neue Erfahrung für mich, denn in Gilge kannte ich nur ein flaches, erdnahes Haus. Wir verlebten dort ein wunderschönes Weihnachtsfest und fühlten uns dort sehr wohl, nur für meine Mutter war das alles nicht so einfach, zumal meine Schwester Hannelore noch sehr klein war. Plötzlich hieß es: „Die Russen kommen, wir müssen weg “. Meine Mutter sagte: „Jetzt müssen wir doch wieder weiter “.

An dem Nachmittag wäre ich beinahe ums Leben gekommen. Ich liebte Pferde und wollte mich von meinem Pony verabschieden, das ich dort reiten durfte. Dafür war ich in die Stallungen gegangen, als ich meine Mutter rufen hörte. Ich musste endlich meine Sachen packen und bin über den großen, kopfsteingepflasterten Platz zum Gutshaus gelaufen. Plötzlich kamen Tiefflieger, entdeckten mich und haben mich beschossen. Meine Mutter hatte immer verboten draußen zu sein, wenn die Flieger kamen. Doch ich hatte mich ja nur von meinem Pony verabschieden wollen, was mir fast zum Verhängnis geworden wäre. Um ein Haar wäre ich getroffen worden und konnte mich mit letzter Kraft ins Haus retten. Die Mamsell vom Gutshaus nahm mich an der Tür in die Arme und stammelte nur „Marjellchen [Mädchen], Kind, wie konntest du nur“. In dem Moment hatte ich gar nicht begriffen, was da wirklich geschehen und wie knapp ich dem Tod entronnen war. Das habe ich erst Jahre später erfasst.

Netterweise hatte Herr Kröger uns einen Kastenwagen zur Verfügung gestellt. Wir packten alles ein und fuhren wieder los. In der Nähe der Müritz angekommen, rasteten wir in einem schönen Wald. Plötzlich kamen Soldatenautos und mit ihnen die Information, dass die Russen kämen. Alle mussten an die Seite fahren, damit die Soldatenautos weiter konnten. Aber ein Auto hatte Rast gemacht. Als meine Mutter merkte, dass wir mit unserem Kastenwagen nicht mehr weiterkommen würden, nahm sie eine große Kiste mit Zigarren, die sie als Tauschobjekte mitgenommen hatte, und versuchte Platz für uns auf dem Soldatenauto zu ergattern. Das klappte und so nahmen uns die Soldaten mit.

Irgendwann kamen wir durch eine Allee und das Bild, das sich uns da bot, werde ich nie vergessen, so schrecklich war es. In dieser Allee hatte die SS überall Soldaten an den Bäumen aufgehängt – die ganze Allee entlang. An jedem Baum hing ein Soldat, wahrscheinlich solche, die den Krieg für verloren gegeben hatten. Einen erkannte meine Mutter sogar, denn er hatte uns aufgefordert so schnell wie möglich zu flüchten. Es war ein Bild des Grauens, das sich für immer bei mir eingeprägt hat. Für mich war das Leben in dem Augenblick vorbei. Ich habe das Grauen nicht fassen können. Fast mein ganzes Leben lang konnte ich keine Filme über diese Zeit sehen, weil der Schrecken so tief war.

Wir fuhren weiter und verließen diesen furchtbaren Ort. In der Nähe von Waren an der Müritz schlief der Soldat am Steuer ein, weil er schon so viele Stunden gefahren war und niemand ihn ablösen konnte. Unvermutet kam der Wagen von der Straße ab und stürzte die Böschung hinunter. Kurz vor dem See kam er glücklicherweise zum Halten und wir dankten Gott, noch am Leben zu sein. Er hatte uns beschützt, denn wir hatten kaum Verletzungen. Anderen war es schlechter ergangen. Der Frau, die neben meiner Mutter saß, war der Bauch aufgeschlitzt worden, einer anderen das Ohr abgerissen. Es gab weitere Verletzte, doch uns war nichts Schlimmes passiert. Auch meine Schwester Hannelore, die ja noch ein Baby war, hatte den Unfall unbeschadet überstanden.

Als wir die Böschung hoch krabbelten, nahmen uns andere Soldatenautos mit. Die Zeit drängte sehr, denn wir hörten, dass die Brücke, die aus Waren weiter nach Westen hinaus führte, gesprengt werden sollte und dann wären wir den Russen ausgeliefert gewesen. So sollten alle nur schnell einsteigen. Dabei passierte es, dass meine Schwester Helga keinen Platz mehr in unserem Auto bekam. Es hieß, dass alle Autos in Waren am Marktplatz halten und wir Helga dort treffen würden. Doch als wir dort ankamen war Helga nicht zu finden. Meine Mutter sagte, dass sie ohne Helga nicht gehen würde, obwohl alle sagten, dass wir es sonst nicht mehr über die Brücke schaffen würden. Verzweifelt suchte meine Mutter Helga überall und ging dazu von Haus zu Haus. Tatsächlich fand sie Helga auch in einem Haus. Da sie so nach ihrer Mutter geweint hatte, hatten die Leute sie mit ins Haus genommen, um ihr zu trinken zu geben, nicht bedenkend, dass sie dadurch nicht gefunden werden konnte. Im letzten Moment konnten wir noch einen Platz auf einem Wagen ergattern und kamen noch rechtzeitig aus Waren heraus. Wir konnten hören, wie die Brücke gesprengt wurde und meine Mutter sagte: „Danke, Herrgott, danke, dass wir rausgekommen sind “.

Zur Nacht fanden wir Obdach in einer Ziegelei. Dort durften wir im Stroh übernachten und uns von den Strapazen erholen. Am nächsten Morgen sollten wir die Box aufräumen und das Stroh glätten, dabei habe ich regelrechte Schätze gefunden – einen großen Kasten mit Silberbestecken, viele kleine Dosen Schokakola und ein bisschen Schokolade. Die Schokolade durften wir mit den anderen Kindern teilen. Es gab für jeden nur ein Fitzelchen, aber es war köstlich.

Nun waren wir schon so weit gekommen, doch dann ereilte uns eine schreckliche Hiobsbotschaft, die uns alle vor Kummer aus der Bahn warf. Uns wurde mitgeteilt, dass wir nicht weiterfahren durften. Wir befanden uns zwar schon in der amerikanischen Zone, doch inzwischen hatte es ein Abkommen gegeben, dass dieses Stück Land den Russen übergeben worden war und wir zurück mussten. Da brach für uns eine Welt zusammen. All der Schrecken, alle Angst, alle aufgebrachte Kraft war umsonst gewesen und wir sollten zurückgehen wo wir hergekommen waren. Meine sonst so starke Mutter hat verzweifelt geweint, es war furchtbar. Dann hat sie sich aber wieder zusammen gerissen und ist mit dem Rest an Zigarren losgegangen, um einen Kastenwagen mit zwei Pferden zu organisieren. Es wurde ein zweiter Boden in diesen Wagen eingezogen und ein paar Löcher in die Wand gebohrt. Meine Mutter mit dem Baby sollte sich zum Schutz vor den Russen dort verstecken und ich sollte den Wagen fahren.

Plötzlich kam eine alte Frau auf uns zu und meinte, dass ich den Wagen nicht allein fahren könne, weil das unglaubwürdig wäre. Sie sagte, dass sie sich zu mir auf den Wagen setzen würde, wir aber kein Wort deutsch sprechen dürften. Sie konnte polnisch und würde sagen, dass wir ihre Familie seien und alle krank wären. Deshalb mussten meine Schwestern und ich einen Schal umbinden. Meine Mutter müsse aber zusehen, dass das Baby still wäre und nicht weinen würde. Notfalls müsste sie es immer stillen, damit es keinen Ton von sich gab. So sind wir losgefahren und oft kontrolliert worden, doch der Vater im Himmel hat uns beschützt und die Russen ließen uns mit „Dawai, dawai“ Rufen passieren. Wir sind wieder zu Tante Anna und Onkel Rudolf nach Mecklenburg gefahren, doch ich war erschüttert, als ich dort ankam. Vieles war zerstört, die Tiere verschwunden, von den Russen mitgenommen. Zum Glück hatten sie noch ein bisschen zu essen, da die Russen einen Vorratskeller unter dem Fußboden nicht entdeckt hatten. So lebten wir wieder in Blankensee bei unseren Verwandten in Mecklenburg.

Nach einiger Zeit, wurde meine jüngste Schwester, unser Baby, sehr krank. Mein Onkel vermutete Diphtherie, was sehr ansteckend und gefährlich war. Er organisierte eine Fahrt für meine Mutter, Hannelore und mich nach Neustrelitz ins Kreiskrankenhaus. Wir konnten dort bei einem Verwandten von Onkel Rudi übernachten, der Geigenbauer war und mit Uhren zu tun hatte. So übernachteten wir in einem Zimmer, an dessen Wänden viele Uhren und Geigen hingen. Die Uhren gingen aber nicht und standen alle still. Plötzlich um fünf Uhr morgens geschah aber etwas ganz Eigenartiges, denn zwei von den Uhren fingen an zu schlagen. Da sagte meine Mutter: „Christel, steh‘ auf, Hannelore ist gestorben“. Und so war es tatsächlich, sie war gestorben und wir sollten sie mit nach Blankensee zurücknehmen. Sie wurde in einen provisorischen Sarg gelegt und wir fuhren los. Auf einmal kamen russische Soldaten und wollten wissen, was wir in der Kiste hätten. Obwohl meine Mutter zu erklären versuchte, dass da ihr totes Kind im Sarg läge, bestanden die Russen darauf, dass die Kiste geöffnet werden sollte. Meine Mutter war empört und wollte das nicht, worauf der Russe drohte sie zu erschießen. Da riss meine Mutter ihre Jacke auf und rief: „Dann schieß doch, schieß doch“! Voller Wut hat der Russe sie geschlagen und der Sarg musste dennoch geöffnet werden. Als sie sahen, dass in der Kiste tatsächlich ein totes Kind lag, sind sie fortgerannt. Zu Hause angekommen, haben wir Hannelore dort beerdigt.

Kaum vierzehn Tage später bin ich auch mit Verdacht auf Diphtherie ins Krankenhaus eingeliefert worden. Inzwischen hatten wir aber gehört, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugegangen sein sollte und meine Oma, die ich über alles liebte, hatte gefürchtet, dass ich nicht wiederkommen würde. Und es war wirklich schlimm, was ich dort sah. Es lagen viele kranke Babys in den Bettchen, aber auch viele tote Babys. Eine deutsche Schwester kam und sagte zu mir, dass ich nicht hinschauen sollte und dass ich eine Spritze bekommen würde, nach der ich das alles nicht mehr sehen würde. Da erinnerte ich mich, dass meine Schwester auch eine Spritze bekommen haben sollte, nach der sie dann gestorben war. Dann kam ein Arzt mit einer Spritze und wollte sie mir geben, doch da habe ich mich gewehrt. Ich weiß nicht, was mir die Kraft gegeben hat, aber ich habe die Spritze mit den Füßen aus der Hand geschlagen. Sie kamen mit einer neuen Spritze, doch ich musste Bärenkräfte bekommen haben, denn wieder konnten sie mir die Spritze nicht geben, weil ich mich so gewehrt hatte. Schließlich sagte der Arzt „Njet“ und zwei Tage später durfte ich nach Hause. Hinterher erfuhr Onkel Rudi, dass es dort einen russischen Arzt gegeben haben soll, der Kinder umgebracht hätte und dafür von seinen eigenen Leuten erschossen worden sein soll. Seit diesem Erlebnis habe ich keine Angst mehr vor dem Tod gehabt. Als mein Vater viele Jahre später starb, oder meine Mutter oder mein Stiefvater, habe ich sie alle begleitet, denn durch diese Erlebnisse hatte ich keine Angst mehr vor dem Tod.

Schließlich beantragte meine Mutter eine Familienzusammenführung. Ihre Eltern waren nach Schleswig-Holstein gekommen. Das hatte sie durch den Suchdienst erfahren und so sind wir 1946 nach Schleswig-Holstein gereist. Meine anderen Großeltern blieben in Blankensee bei ihrer Tochter. Im Zug war alles gefroren, weil es so kalt war. Meine Mutter hatte ein Federbett mitgenommen, in das sie uns eingepackt hatte. Durch das Ausatmen fing das an zu tropfen und ich sagte: „Guck mal, die Oma weint, weil wir nun weg sind “.

Als der Krieg zu Ende war, kam mein Vater aus französischer Gefangenschaft nach Hause. Er war von den Franzosen nach Korsika gebracht und unter arabische Bewachung gestellt worden. Er kam 1948 wieder. Aber er konnte keinen Araber mehr sehen oder ertragen. Wenn im Radio irgendwas mit Arabern kam, Musik oder ähnliches, hat er das sofort ausgemacht. Die haben seine ganze Kompanie – und es war eine sehr große Kompanie — im Wüstensand auf Korsika in der prallen Sonne und Hitze eingegraben. Die Menschen starben wie die Fliegen, einer nach dem anderen. Sie bekamen morgens ein kleines Bisschen zu trinken und fast nichts zu essen. Dann wurden sie wieder ausgegraben, mussten arbeiten und ein paar Tage später oder wie es ihnen gefiel, wurden sie wieder eingegraben. Die Kompanie wurde dabei immer kleiner und kleiner.

Mein Vater war ein schöner Mann. Er sah gut aus und war gut gebaut. Doch als er wiederkam, war er ganz mager und sehr krank. Ich hatte damals gedacht, dass mein Vater verrückt geworden war, als er wiederkam. In einem Krankenhaus in Hamburg haben sie ihn dann langsam wieder aufgebaut, aber es war eine schwere Zeit.