Lassan, Mecklenburg Vorpommern
Mein Name ist Gerd Wilhelm Skibbe. Geboren wurde ich am 18. Juli 1930 in dem kleinen Städtchen Lassan, das am Peenestrom liegt. Meine Eltern, Wilhelm und Julianne Skibbe, (geborene Kaletta) zogen dann aber zwei Jahre später nach Wolgast. Dort arbeitete mein Vater als selbständiger Holzpantoffelmacher.
Er hatte zu dieser Zeit bereits die Kirche kennengelernt und zwar in Hinterpommern, in einem Ort namens Wobesde. Zunächst war es langweilig für ihn gewesen von den amerikanischen Missionaren mit ihrem merkwürdigen Akzent zu hören. Das Thema mit dem er sich in der ersten Versammlung zu beschäftigen hatte, war vielleicht zu allgemein gehalten. Ein alter Bruder hielt ihn jedoch zurück indem er sagte: „Warten Sie junger Mann, seien Sie nicht so eilig”. Dann erklärte er ihm, warum die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wiederhergestellt werden musste und dass eine der wichtigsten Lehren dieser Kirche, die von unserem Vorherdasein ist, dass unser Geist bereits vorher existierte, nämlich bevor diese Erde gegründet wurde. Das interessierte meinen Vater. Es führte dazu, dass er ernsthaft weiter suchte. Nach insgesamt vier Jahren des Forschens schloss er sich 1932 der Kirche an.
Bald darauf gab es ein besonderes Ereignis in unserer Familie. Mutter Juliane, damals 27 Jahre alt, war sehr krank. Sie litt an einer offenen Lungentuberkulose. Es gab keine Aussicht sie zu heilen, da die Krankheit zu weit fortgeschritten war, mit sieben bohnengroßen Löchern und den entsprechenden Entzündungsherden im linken Lungenflügel. Mein Vater war verzweifelt, denn er liebte Mutter sehr. Er schrieb einen Brief an die jungen Missionare, die damals in Demmin wohnten – ein Weg von 120 Bahnkilometern. Er bat, sie möchten meiner Mutter einen Segen geben. Das Sonderbare war, meine Mutter lag zu diesem Zeitpunkt in der Lungenheilstätte Hohenkrug und mein Vater hatte diese Adresse angegeben. In der Nacht bevor einer der Missionare kam, denn der andere war zum Austausch nach Berlin gereist, sah meine Mutter in einem Traum einen jungen Mann mit einem grünen Jackett und einem grünen Schlips hereinkommen.
Mehrere Männer traten in den Saal als die Tür sich zur Besucherzeit öffnete. Da lagen manchmal zwanzig Frauen zusammen. Sofort erkannte meine Mutter diesen für sie bedeutenden Mann und winkte ihn zu sich heran. Er zuckte mit der Schulter: „Ich weiß nicht wer Sie sind”! Meine Mutter lachte ihn an und erwiderte: „Aber ich weiß wer Sie sind, ich habe Sie heute Nacht im Traum gesehen”! Da wusste der Bruder schon, dass hier ein Wunder passieren würde. Wenig später erschien mein Vater. Er bedankte sich bei Elder Latschkowski, der ein Deutscher war – so viel wie ich weiß ein Berliner – dass er so schnell auf seinen Brief reagiert hätte. Der Missionar erwiderte: „Ich weiß von keinem Brief. Ich hatte eine Inspiration, ich sollte heute hierher kommen und Schwester Skibbe einen Segen geben”! Damit stand auch für meinen Vater fest, dass etwas Großartiges geschehen würde. Bruder Latschkowski gab meiner Mutter diesen Segen, denn Vater war zu diesem Zeitpunkt noch kein Ältester. Zwei Tage später wurde Mutter, in Vorbereitung der Operation erneut geröntgt. (es sollte ein Pneu gelegt, der betroffene Lungenflügel ruhig gestellt werden) Diese Geschichte erzählte meine Mutter wiederholt. Sie war damals dem Namen nach noch Katholikin, aber bereits eine ernsthafte Untersucherin. Sie schilderte wie verwundert die Ärzte waren, als sie die beiden Röntgenplatten miteinander verglichen, die eine vor, die andere nach der Segnung. Wie sie erzählte saßen sieben Doktoren im Kreis und einer gab dem anderen die Aufnahmen zum Vergleich. „Sehen Sie mal, Herr Kollege, sehen Sie mal, ein medizinisches Wunder, da ist keine Entzündung, da sind keine Löcher mehr”. Dieses Erleben führte dazu, dass Mutter sich ebenfalls taufen ließ.
Bis an ihr Lebensende 1991 lebte sie beschwerdefrei, fast 55 Jahre nachdem sie durch die Macht des Priestertums geheilt worden war. Sie hielt treu zur Kirche, was auch immer geschah, versäumte keine Versammlung, beherbergte und beköstigte viele Menschen, Mitglieder ebenso wohl wie Nichtmitglieder, da wir in der beneidenswerten Lage waren stets über mehr als genug Lebensmittel zu verfügen. (Das war insbesondere in den Hungerjahren 1946/47 der Fall, da wir nach dem Krieg wieder die Holzschuh-Produktion aufgenommen hatten, wobei die Landwirte nicht selten mit Naturalien statt mit Geld bezahlten.)
Ich selber wurde 1939 wenige Tage vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges, als neunjähriger auf Wunsch meines Vaters getauft. Ich konnte nicht einschätzen, was das für mich bedeutete, weiß aber sehr wohl, dass es ein Tag der Freude war. Mir lag gar nichts an den Versammlungen, ich störte sie, weil sie mich langweilten und dennoch gibt es Passagen aus Ansprachen der Missionare und Brüder die mir bis heute im Gedächtnis haften geblieben sind.
In der Vorkriegszeit wohnten wir noch in der Wilhelmstraße 53. Dort kam es zwischen meinem Vater und dem Juden Eckdisch, unserem Hauswirt, zu einem Gespräch das meine Mutter mir später schilderte: „Herr Eckdisch, Sie sind im Besitz von drei großem Häusern, treffen Sie eine Entscheidung zugunsten Ihrer Familie. Verkaufen Sie alles, nehmen Sie das Geld und kaufen sich in Palästina ein. Das ist doch das Land Ihrer Verheißung, dahin sollen die Juden aus aller Welt versammelt werden. Als Mormone weiß ich das, weil der Herr es dem Propheten Joseph Smith offenbarte. Und außerdem kommt durch Hitler große Gefahr auf die Juden zu”. Da lachte der kleine joviale Mann: „Herr Skibbe, wir sind sicher in Deutschland, denn wir sind ja nur Gastjuden, wir sind Juden polnischer Nationalität. Hitler darf uns nichts zuleide tun”. Ein Jahr später wurden diese gutgläubigen Leute von Männern der schwarzen SS auf Nimmer-Wiedersehen abgeholt. Ich meine, dass ich mich immer noch an eine Szene erinnere. Da ist ein großes, gerötetes Gesicht über den Kragenspiegeln mit den SS- Emblemen. Der Mann geht in die Küche der Frau Eckdisch und nimmt sie mit sich.
Sechs Jahre später, im Oktober 1944 kam eine Postkarte aus dem Warschauer Getto zu uns, geschrieben von dem einzigen Überlebenden der Familie, vom damals vielleicht 25jährigen Sohn Jakob. Da standen nur sieben Worte: „Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob. Wiederholt in meinem Leben musste ich daran denken und mich fragen; wie oft, lieber Jude Eckdisch, wirst du dich selbst angeklagt haben: der Mormone Wilhelm Skibbe hatte mich gewarnt und ich habe es nicht beachtet.
1941 entstand ein Photo von mir und drei Männern. Wir liegen im Strandsand von Zinnowitz, mein Vater sowie die Missionare Arno Dzierzon und Rudolf Wächtler – die letzten Deutschen, soviel wie ich weiß, danach holte sie der Krieg gewaltsam ins Verderben, das wenigstens Rudolf Wächtler überstand. Niemals wieder vergaß ich einen Kernsatz der mir irgendwie vertraut klang. Die Missionare sprachen mit meinem Vater über die Lehre von der Präexistenz der menschlichen Seele und warum wir aus dem Vaterhaus Gottes wegdrängten um ins Fleisch geboren zu werden. Es war eher zufällig, dass ich hinhörte. Aber es fiel auf fruchtbaren Boden. Vielleicht hätte ich all das kaum wahrgenommen, wäre es in einer Predigt gesagt worden.
Ich hörte die Worte: wir konnten uns der Herrlichkeit die uns umgab nicht mehr erfreuen. Wörtlich: „Wir hatten die Nase voll und wollten es selbst erfahren, wir konnten keinen Fortschritt mehr machen, es war langweilig für uns, weil wir den Gegensatz nicht kannten”. Natürlich war das ungewöhnlich und ich habe dergleichen in dieser drastischen Form nie wieder gehört. Wir hatten also Überdruss an der Gottesschau empfunden. Mir leuchtete das sofort ein, sonderbarerweise, denn ich war damals wirklich ein dämlicher Bengel der als Schüler alleine durch seine schlechten Zensuren auffiel. Aber irgendwie verstand ich das. Man braucht eigene Erfahrungen, sie sind unersetzlich.
Fast fünfzig Jahre später fahre ich mit meinem kleinen „Trabant“ – einem Plasteauto aus der volkseigenen DDR-Produktion – in meiner Freizeit nach Berlin, um in der Berliner Bücherei zu lesen. „Geh’ nur”! hatte meine Frau Erika mich ermutigt. Sie kam nicht mit, weil es ihr nicht gut ging. Ich befinde mich also in der Freihandbibliothek und schaue mich um und da kommt in mir der Name Origenes auf. Ich schaue mich um und sehe das große Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen, 1960. Kaum hatte ich angefangen den Eintrag unter dem Stichwort ‚Origenes’ zu lesen, fallen mir fast die Augen aus dem Kopf. Ich las eben diese Worte unserer Missionare: „Wir waren (in der Präexistenz) Götter, die dem Logos (Christus) als Trabanten anhingen. Wir waren durch den heiligen Geist zur Einheit verbunden, und wir gaben uns mit ihm der unmittelbaren Schau des Vaters hin. Erst die Erlahmung der geistigen Schwungkraft und Überdruss an der Gottesschau führten zum Sündenfall. Ich lehnte mich zurück und meine Gedanken wanderten durch ein schönes Land.
Dann fand ich zwanzig weitere Punkte der Übereinstimmung mit den Lehren des Propheten Joseph Smith. Ja, was bedeutet das denn? Da hat Joseph Smith, in der Tat, nicht irgendetwas wiederhergestellt, sondern exakt die Lehren der Urkirche! (Da war ich aber noch weit entfernt von der Erkenntnis, dass die Spuren der Urkirche sich erst mit dem Verschwinden der Goten aus der Geschichte verloren. Allerdings der Gotentempel zu Ravenna bezeugt immer noch die Echtheit des Tempelrituals unserer Kirche.) Vor allem hatte Origenes gelehrt, dass der Mensch in seinen Entscheidungen frei ist. Das war etwas völlig anderes als beispielsweise Luther und die Evangelische Kirche lehrten. So habe ich denn immer weiter geforscht bis ich dann herausgefunden habe, dass auf dem 1. ökumenischen Konzil zu Nicäa im Jahre 325 eigentlich die Lehren der Urkirche verurteilt worden sind.
Aber jetzt werde ich wieder zurückkommen auf die Jahre meiner Kindheit. Ich war in der letzten Phase des Krieges zu einem fanatischen – besser gesagt zu einem fanatisierten – Hitlerjungen herangewachsen. Was anderes konnte ich wünschen, als ‚unseren’ Sieg? Unsere Erzieher und ‚Führer’ hatten uns eingebläut: „Wenn du deinen Vater oder deine Mutter dabei erwischst, dass sie einen Feindsender hören musst du sie bei der Polizei anzeigen”! Sie machten uns das Zeichen von Radio London vor, dieses viermalige Klopfen auf der Pauke dreimal kurz und einmal lang.
Es war im März 45, die Russen standen im Begriff die Oder zu überqueren. Da erwische ich eines Abends meine Mutter dabei dieses Zeichen zu hören, eine Wolldecke über sich gelegt. Jäh packte mich der Zorn: Zeige sie an! Ich war gerade von einem Diensteinsatz gekommen. War hatten die Schwer- und Schwerstverwundeten aus einem Güterwagen ausgeladen. Sie kamen geradewegs aus der Kampfzone Stettin, alle nur wenig älter als ich selbst. Ein Mann war mir in den Arm gefallen dessen Kopf völlig von durchbluteten Binden umschlossen war: ‚Kamerad, Kamerad’ rief er aus und ich umschloss ihn mit meinen Armen. Ich rette die deutschen Soldaten und du verrätst sie“ schrie ich in meiner Wut. Für Sekunden war der dringende Gedanke in meinem Kopf: „Geh’ hin und tu es”! Zu meinem ewigen Glück drehte ich mich schweigend ab und schämte mich.
Vier Wochen später kamen die Russen. An diesem Tage bin ich richtig aufgewacht. Bis dahin habe ich wohl eher halbbewusst gelebt. Nur wenige Tage zuvor hatte ich den Einberufungsbefehl zum ‚Volkssturm’ erhalten. Ich sollte mich in Stettin beim Wehrkreiskommando melden. Mutter als sie den Brief sah, nahm ihn mir aus der Hand, weitete die grauen Augen und schlug die kleine Faust dröhnend auf den Küchentisch: „Du gehst nicht“! Ich bin heute noch froh, dass ich ihr endlich einmal gehorsam war. Natürlich hat ihr Wutanfall mein Leben gerettet.
Eine Stunde bevor ich den ersten Mann der russischen fechtende Truppe sehen sollte, gab es eine riesige Detonation in Wolgast. Sie zertrümmerte in weiten Umkreis fast alle Schaufensterscheiben. Die deutsche Armee – wahrscheinlich SS Einheiten – hatten die zweihundert Meter lange Brücke, die sich über den Peenestrom spannte, zerstört. In diesen Minuten scheinbarer Gesetzlosigkeit fingen wir das Plündern an. Ich ging ins Gaugergeschäft und sah wie die Leute sich um die Kleidungsstücke zankten. Vor mir lag eine grüne Hose, die nahm ich an mich. Aber kaum, dass ich sie nach Hause getragen hatte, war mir klar, dass ich Unrecht beging. Ich legte sie sofort beiseite, für jemanden der sie vielleicht wirklich benötigte. Denn es flossen immer mehr Flüchtlinge in die Stadt die fast alles verloren hatten.
Dann kam der Erste, er bog um die Ecke, seine Pistole geradeaus gerichtet schien er auf mich zuzukommen. Aber er beachtete mich nicht. Ich stand da auf der Straße und schaute ihn an wie ein Wunder. So also sah die vorderste Front aus. Er trug eine hohe Lammfellmütze. Ich hatte keine Angst. Nur ganz kurz streifte mich sein Blick und das war so als würde mich mein Vater anschauen. Da war mein Hass auf den Feind von einer Sekunde zur anderen gelöscht. Als dann natürlich in den nächsten Tagen, die randalisierenden und vandalisierenden Truppenteile eintrafen kippte mein neues Bild von den ‚Russen’ sogleich wieder um. Viele stürzten sich auf die schreiend flüchtenden Frauen…
Zwei Monat später erhielten wir den Befehl des sowjetischen Kriegskommandanten Kameras, Radiogeräte, Fahrräder usw. abzuliefern. Ich beschloss bei mir unsere Kamera nicht abzugeben. Beim Suchen nach einem Versteck fand ich eine Kiste. Es erging mir wie Tom Sawyer. Ich musste wissen was da drin ist. Als ich sie geöffnet hatte, fand ich Kirchenliteratur aber auch zwei anti-mormonische Bücher. Das erste las ich sofort durch. Es war von Pastor Zimmer geschrieben worden: „Aus der Welt des Mormonentums“. Zimmer lässt den Leser wissen, dass er von 1903 bis 1905 als evangelischer Pastor und Missionar in Salt Lake City gewirkt hatte. Dieses Buch verschlang ich geradezu, als würde ich einen Kriminalroman lesen. Ich fühlte mit jeder Faser meines Seins, hier sagt der Geistliche die Wahrheit und da lügt er. In diesen Tagen reifte ich, wie ich glaube, um Jahre. Mir schien, ich könnte es ahnen, welche Bedeutung die Kirche in meinem Leben haben wird. Auf der einen Seite lobte Zimmer die Mormonen für die Ordnung und für das, was sie aus der Einöde geschaffen hatten. Er schildert wie ihn die Pappelalleen und die Gärten in diesem Wüstental entzückten, wie gut die breiten Straßen aussahen. Er schildert wie er erzitterte, als die Posaune den Beginn einer Generalkonferenz ankündigt, die er im Tabernakel miterlebte, er beschreibt seine Eindrücke von einer Rede des Präsidenten Joseph Fielding Smith positiv, aber dann tobt Pastor Zimmer los und sagt wörtlich: „Sie sind eine mörderische Bande von Lügnern, Ehebrechern und Meineidigen”. Ich wusste, dass er wissentlich log. Das war sozusagen mein erstes Zeugnis, das ich empfing.
In dieser Umbruchzeit hielten wir bei uns daheim Hausversammlungen ab, die zunächst von meiner Mutter, dann von meinem Klavierlehrer Johannes Reese geleitet wurden. Reese war kein Mitglied der Kirche, aber ein ehrenhafter Mann und ein Freund des wiederhergestellten Evangeliums. Mein Vater hatte diesen Mann für mich arrangiert, obwohl er selbst kaum genug Geld zum Leben hatte, bevor er selbst in den ihm tief verhassten Krieg ziehen musste. Johannes Reese zeigte mir eines Tages den Dominantseptimenakkord, wobei er ihn kaum angeschlagen, sich auf dem Drehschemel zu mir wandte und aus heiterem Himmel erklärt: „Gerd, deine Kirche, das sage ich dir, ist die beste von allen die es gibt”. Mir schien er würde durch mich hindurch blicken. Ich wusste, dass er mit Vater befreundet war, dass er gern mit den Missionaren sprach, aber das hatte ich nicht erwartet. Als könnte er Gedanken lesen, ergänzte er: „Du wunderst dich vielleicht und ich sage es dir gleich: ich werde nie Mormone werden. Ich will dir auch erklären warum: Ich bin nämlich Orgelspieler in der Katholischen Kirche und in der evangelischen St. Petrikirche, ich spiele bei den Baptisten und den Gemeinschaftchristen. Und wenn die hören, dass ich Mormone bin, dann wollen die meine Dienste nicht mehr”. Er schaute wieder in die Ferne. Ich sah seine leuchtend blauen Augen vor mir: „Ich fühle, fuhr er fort„ dass die katholische Kirche Licht hat, aber die evangelische Kirche hat mehr Licht; und die Baptisten haben wiederum eine höhere Stufe Licht als die evangelischen, aber deine Kirche ist die beste von allen, weil sie mehr Licht als die anderen verbreitet”.
Ähnlich, wenn auch nicht so oft, sprach er in den Hausversammlungen. Als dann die ersten Missionare des Nachkrieges zu uns kamen, darunter der spätere Patriarch Walter Krause aus Cottbus, fanden sie gut vorbereitete Leute vor. Eines Tages fragten die Anwesenden meinen Klavierlehrer Reese: „Was denken Sie, ist das in Ordnung wenn wir uns der Mormonenkirche anschließen”? Johannes Reese lächelte und erwiderte: „Ihr könnt Euch der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage anschließen, das ist die beste Kirche, die ich kenne”. So wurden die Familien Weber (Schwester Weber mit ihren drei Waisenkindern), Duncker (eine Tochter blieb bis zu ihrem Tode treu), Chust mit vier Kindern und andere im Peenestrom, alle von Walter Krause getauft.
Eine andere Geschichte betrifft Wolfgang Zander, der noch in Stuttgart lebt, wo er stets aktiv und segensreich als Hoher Rat z.B. in der Kirche wirkte. Sein Vater, Max Zander, war ein Gartenbautechniker, der damals gerade aus der Kriegsgefangenschaft entlassen wurde und mit seiner Familie zu seinen sehr christlich eingestellten Eltern nach Wolgast gezogen war. Eines Tages trifft Max meinen Klavierlehrer auf der Straße und fragt ihn nach einem guten Buch. „Ich bring’ dir morgen eins mit”! erwiderte Johannes Reese und übergab ihm anderntags das Buch Mormon, versehen mit einer Widmung. Der Gartenbautechniker besuchte sogleich die nächste Versammlung. Walter Krause war der einzige Sprecher. Es muss für Max sehr inspirierend gewesen sein, denn sofort nach dem Amen, kam er nach vorne und sagte: „Ich lass’ mich taufen”! „Moment einmal, du musst ja noch unterrichtet werden, du weißt ja noch gar nicht, worum es geht. Ich gebe Ihnen erst einmal ein wenig Einführung“. „Ja, in Ordnung, aber wir können doch schon einen Tauftermin machen”. Und so setzten sie, wie ich meine, den 13. November 1946 als das Datum der Taufe fest. Natürlich hatten wir kein Taufbecken, sondern nur die offene Peene zur Verfügung. Der Zeitpunkt kam heran, aber kurz zuvor wies das Thermometer mit minus 15 Grad Celsius den Einbruch des Winters an. Ich selbst habe das 15 cm dicke Eis mit einer Axt aufgehackt und Walter Krause ist da hineingesprungen, Max Zander folgte ihm. Er war der erste von vielleicht vierzig oder fünfzig Menschen die binnen eines Jahres getauft werden konnten. Darunter befanden sich zwei meiner besten Freunde Hans Schult, der spätere Distriktpräsident von (Ost-)Berlin dann Ratgeber in der Tempelpräsidentschaft Freiberg, sowie Ulrich Chust.
Walter Krause, Distriktpräsident in Mecklenburg/Vorpommern übertrug auf mich immer wieder neue Aufgaben. Eine davon war die, das von der Kirche unter Präsident Ezra Taft Benson initiierte Wohlfahrtsprogramm zu unterstützen, indem ich nach seiner Weisung Lebensmittelpakete in die Gemeinden zu bringen hatte. In ungefähr anderthalb Jahren sind viele hundert, vielleicht tausende Pakete von Pfirsichen, Tomaten, Reis, Mais und Weizensäcke durch meine Hände gegangen. Ich selbst trug Kleidung aus diesen freiwilligen Spenden amerikanischer Heiliger. Ich bin in den unmöglichsten Situationen gewesen. Manchmal reiste ich mit sechs, sieben schweren Paketen, bei permanent überfüllten Zügen. Aber immer war jemand da der mir half. Es war eine erstaunliche Zeit. Nie kam mir auch nur eins der Pakete abhanden. Ich bin bis heute im Besitz eines Scheines mit diversen Stempeln. Ich reiste in Güterzügen, manchmal nur mit der Lok (dann schon wieder ohne Pakete) zweimal erhielt ich Genehmigung mit Kommandantenzügen sowjetischer Offiziere zu reisen. Es gab niemals Ärger… Wiederholt befand ich mich in Berlin im Auftrag der Kirche. Jedes Mal wenn ich am Alexanderplatz in Berlin stand und die ragenden, schwarzen Ruinen sah fühlte ich den ganzen Jammer des Nachkriegs und mir kamen die Worte aus dem zweiten Buch Nephi in den Sinn: der Herr hatte uns ermahnt, dass wir der Wanderungen und der Mühsal der Juden gedenken sollen. Aber diejenigen die es nicht getan, sondern danach getrachtet haben, die Juden zu zerstören und zu zerstreuen, wie es das Hitlersystem mit dem Holocaust praktiziert hatte, erlebten die buchstäbliche Erfüllung der Prophezeiung Nephis: „Das was sie auf die Häupter meines Volkes bringen wollten, das würde auf ihr eigenes Haupt zurückfallen”. Das dies so war, fühlte ich mit großer Beklemmung, wenn ich diese furchtbare Ruinenstadt vom Alexanderplatz aus anschaute. Der aufgestachelte Hass jener zahllosen Deutschen die Hitler zugejubelt hatten, war buchstäblich auf das deutsche Haupt zurückgefallen. Nicht anders sah es in den meisten deutschen Städten wie Demmin, Neubrandenburg und Prenzlau aus. Dort wo auch überall Mitglieder wohnten, gab es nun Kleidung und Nahrung für viele, auch für diejenigen die keine Mitglieder waren. Alle empfanden Dankbarkeit für die Hilfe die ihnen das Wohlfahrt-Programm der Kirche so umfangreich, vor allem in den ersten drei schweren Nachkriegsjahren gewährte.
Ich wollte ja nie eine Frau heiraten die älter und größer als ich ist. Aber das Leben ergab es. In 1948, übermannte mich das Gefühl, dass Erika, die große bildschöne Frau die richtige Frau für mich sei. Während eines Distriktausfluges auf einem Schiff auf der Ostsee hatten wir uns miteinander bekannt gemacht. Sie war gerade getauft worden, hatte aus eigenem Antrieb diesen Weg gesucht. Aber dann sträubte ich mich: „Nee, sie ist ein Kopf größer als du und fünf Jahre älter, nee, nee das machen wir nicht“.
Die Jahre vergingen und dann geriet ich unversehens in eine Situation, in der ich mich nicht ganz kirchenkonform verhalten habe. Es kam nicht zu einem Ausschluss, aber es war auch nicht so, dass ich hätte amtieren dürfen. Ich befand mich in einem Schwebezustand, denn ich hatte mich in eine sehr unglücklich verheiratete Frau verliebt, mit der ich bald Zärtlichkeiten austauschte, ohne allerdings eine bestimmte Grenze zu überschreiten. Jahre zuvor hatte ich einen Bund mit Gott gemacht: „Herr, falls ich jemals die Absicht haben sollte eine schwerwiegende Sünde zu begehen, dann bitte schlage mir rechtzeitig hinter die Ohren“! Daran dachte ich damals nicht mehr. Das sollte sich jedoch bald ändern. Eines Tages kommt in diesem Ort ein Bauer auf mich zu und fragt: „Kannst du mir einen Gefallen tun”? „Worum handelt es sich”? „Ich habe meinen Acker gepflügt und der muss geeggt werden. Würdest du den Braunen aus dem Stall holen und würdest du mir helfen”?
Über Geld sprachen wir nicht. „Ja, ich habe Zeit und mach’s”. Und während ich hinter dem Gaul auf dem Acker herrenne, kommt in meinem Kopf ein Beschluss zustande der diese Frau und mich betraf und der wirklich nicht gut war. Diesmal wirst du die Dummheit begehen! Du bist ja auch nur einmal jung”! Kaum hatte ich das Ausrufungszeichen gesetzt, fällt mir die Lenkleine aus der Hand zu Boden, ich bücke mich, wahrscheinlich auch sehr hastig – da scheut das Pferd und schlägt zu, es schlägt mir das halbe Gesicht zusammen, indem sein zum Glück noch nicht mit Eisen beschlagener Huf mein Jochbein traf. Salto mortale rückwärts. Ich fand mich auf dem Ackerboden kniend, wie ich den Blutstropfen hinterher schaue die mir aus dem Mund und der Nase fielen. Ich konstatierte sachlich: So, jetzt hast du einen Schädelbasisbruch! Dafür hattest du gebetet, Herr, schlage mir hinter die Ohren. Na, schön es traf mich unmittelbar vor dem rechten Ohr, ein Schlag dieser Heftigkeit hinter meine Ohren hätte mich augenblicklich getötet.
Ich musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, das stand fest. Aber wie sollte ich dort hinkommen? Zu Fuß bin ich noch einen Kilometer gelaufen, dann war es aus. Meine Leute riefen im Krankenhaus an und wer kam mit dem Sanitätsauto? Erika, die große. Sie arbeitete dort als leitende Schwester; jeden Abend schenkte sie mir eine Stunde. Allmählich kam ich zu dem Entschluss mich über meine Bedenken hinweg zu setzen. 48 lange Jahre waren wir dann glücklich verheiratet. Meine beiden Söhne Hartmut (nun, 2008, Bischof im Pakenham Stake in Australien/Melbourne und Matthias Distriktpräsident in Mecklenburg) haben übereinstimmend gesagt: Ihr habt eine wunderbare Ehe geführt und es war eine schöne Kindheit für uns gewesen.
So kam ich in die Gemeinde Neubrandenburg. In den zurückliegenden 50 Jahren gab es in dieser Gemeinde nie Zank oder Streit. Wir waren wirklich ein Herz und eine Seele. Zu den schlimmsten Tagen in meinem Leben gehört der 13. August 1961 als in Berlin die Mauer gezogen wurde, um uns einzusperren. Ich erinnere mich sehr deutlich meiner Gefühle, es war, als klappten hinter mir die Gefängnistore zu. (Als zum ersten Mal 1990 hinter mir die Gefängnistüren buchstäblich ins Schloss fielen erschrak ich ebenso, obwohl mein Kopf wusste, dass ich ja jederzeit wieder davon gehen konnte. Ich war einige Jahre Anstaltsbeirat und damit Ansprechpartner für die Häftlinge.)
1965 wurde ich als Distriktpräsident berufen. Wir hatten damals etwa 300 eingetragene Mitglieder hier in Mecklenburg und die hatte ich zu betreuen. Von Beginn an richtete sich mein Augenmerk auf eine bestimmte Schriftstelle in Lehre und Bündnisse: Baue deine Geschwister auf, stärke ihren Glauben, trage dazu bei, dass sie sich wohlfühlen in der Kirche. Und es war dieses Moronizitat: Ohne Nächstenliebe bist du nichts! Beide bestimmten mich. Es war mein Anliegen und Bedürfnis Gespräche mit denen zu führen von denen ich meinte sie würden es gern sehen. Ich wollte von dem Guten abgeben dass ich empfangen hatte und von dem empfangen was andere erhalten haben.
Im Winter 1982 erhielt ich eine Einladung von der 1. Präsidentschaft zum Besuch der Frühjahrs-generalkonferenz in SLC. Ich kann kaum beschreiben welche Gefühle sich meiner bemächtigten, als ich endlich im Flugzeug saß. Erika ließen die Kommunisten nicht mitfahren, man wünschte sie als Faustpfand daheim zu halten um sicher zu sein, dass ich wieder heimkehre in die ungeliebte DDR. Ich – oder wir – wären in jedem Fall zurückgekommen selbst wenn es die reine Hölle gewesen wäre. Denn hier war unser Platz und hier lebten unsere Söhne mit ihren Familien. Als das Flugzeug abhob dachte ich: „Das kann keine Wirklichkeit sein! Du, ein kleiner DDR-Bürger reist zum großen Amerika“!
Während des Rückfluges war ich unfähig zu schlafen. Zu vieles bewegte mich. Als ich dann doch eingenickt war weckt Präsident Henry Burkhardt mich: „Die Sonne geht auf”! Ich war ein bisschen ärgerlich. Hätte er mich doch dahinschlummern lassen. Tausende Sonnenaufgänge habe ich als Berufsfischer erlebt. Na und? Er schmunzelte auf seine unvergleichliche Weise: „Nein, die Sonne geht auf. Wir werden in der DDR einen Tempel haben”! Da war’s mit dem Schlaf endgültig aus.
Ich weiß noch wie heute was Staatssekretär Kalb in seiner Grußadresse am Vortag der beiden Wochen der ‚Offenen Tür’ uns wissen ließ: „Wir haben Euch vierzig Jahre genau beobachtet und wir können nur das Eine sagen, wir sahen nur das Beste und so ist es verdient, dass ihr heute diesen schönen Tempel habt”. Es mag ja sein, dass der offizielle Text ein wenig anders lautet, dies aber ist in meinem Gedächtnis haften geblieben.
Zahllose Gespräche ergaben sich in diesen beiden ersten Wochen für uns, wir hatten allesamt Urlaub genommen um der Kirche zur Verfügung zu stehen. Zwei Jahre sollten vergehen bis mit den Geschwistern Birsfelder, Schweiz zwei Vollzeit-Missionare unseren Part am Tempelplatz übernahmen. Manchmal hatte ich, vor allem im ersten Jahr zweihundert Besucher in meiner Gruppe, die ich über das Gelände und dann in die Gemeinderäume führte. Ich weiß allerdings nur von einer einzigen, älteren Frau, die durch mich angeregt wurde Mitglied der Kirche zu werden. Sie sagte: „Ich bin immer hinter dir hergegangen und bin immer deinen Erklärungen gefolgt. Das hat mich überzeugt. So habe ich mich taufen lassen”.
Beruflich bin ich fast 40 Jahre als Fänger in der Binnenfischerei tätig gewesen, schrieb drei Bücher, die veröffentlicht wurden und lebe nun glücklich seit vier Jahren mit meiner zweiten Frau Ingrid, die sich einen Namen als Genealogin, Seminarlehrerin und FHV- Leiterin gemacht hat, in Melbourne Australien. (Erika starb vor sieben Jahren im Alter von 76.)
Ich hatte viele glaubensstärkende Erlebnisse in all diesen Jahren. Darunter ist das mit meinem Freund Pastor Fritz Rabe von St. Michael in Neubrandenburg noch erwähnenswert. Als sich 1988 ankündigte, dass wir auch amerikanische Missionare in der DDR haben werden, sprach ich ihn auf der Straße an und teilte ihm das mit. Meine Offenheit führte zu weiteren Gesprächen. Als dann die Mauer fiel, gab er mir zweimal die Möglichkeit in der Johannes-Kirche zu Neubrandenburg während der damals noch gepflegten und meist gut besuchten Montagabendgebete eine Ansprache zu geben. Das tat ich mit der einzigen Absicht die Lehre Christi herauszustellen, dass wir in jeder Situation unseres Lebens daran denken müssen, dass es nötig ist auf den Felsen zu bauen, den er gelegt hat, wenn wir aber tun was gegen seine Lehre ist, dann wird unser Haus fallen, so wie der Kommunismus fallen musste, weil er auf den Sand menschlicher Meinungen und des Atheismus stand. Das hat dem Mann Rabe viel Ärger eingebracht. Seine Amtskollegen haben ihn heftig getadelt, dass er einen Mormonen in einer evangelischen Kirche in dieser Weise zu Wort kommen ließ. Aber Fritz Rabe hat es mir wiederholt versichert: „Gerd, wenn ich dich nicht kennen gelernt hätte, wäre ich ebenso unwissend wie einige meiner Mitpastoren sind und würde von Euch Mormonen dummes Zeug reden”. Bis heute steht er zu seinem Wort und zu mir.
Nun reise ich mit Ingrid durch die Welt. Wo immer wir hinkommen halte ich mit ihrer für mich so wichtigen Unterstützung Vorträge über die Geschichte und Folgen des 1. ökumenischen Konzils 325 in Nicäa. Damit wird unzweifelhaft klar, dass Joseph Smith ein Prophet Gottes war und ist. Wir bezeugen zusammen, dass es sich lohnt, in diesem großen Werk zu dienen.