Deutsch-Rasselwitz, Oberschlesien
Mein Name ist Walburga Ollenik, geborene Steuer, ich bin am 22.Januar 1927 in Deutsch-Rasselwitz, Oberschlesien, geboren. Ich hatte fünf Geschwister. Zwei davon sind als kleine Kinder gestorben und wir sind zu dritt aufgewachsen. Bis 1930 haben wir zusammen in Deutsch-Rasselwitz gelebt. Mein Vater, Anton Steuer, war Eisenbahner. Er hat an der Reichsbahn in Gleiwitz gearbeitet. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, sind wir dann zu ihm nach Gleiwitz übergesiedelt und wohnten da. Zu der Zeit gab es dort Missionare. Sie haben meine Mutter und meinen Vater besucht, aber er war nicht immer zu Hause, denn er hatte ja Schichtdienst. Meine Mutter hat sich von den Missionaren belehren lassen. Sie wurde auch getauft, mein Vater aber nicht. Er hatte nichts dagegen gehabt, dass wir in die Kirche gingen, aber er wurde kein Mitglied. Ich wurde am 9. September 1938 in Gleiwitz getauft.
Meine Mutter heißt Elisabeth, geborene Rosenberger. Wir hatten eine schöne Jugend und Kindheit. Wir sind immer in die Kirche gegangen, haben uns mit den Kindern der Familie Ertel getroffen – sie wohnten ziemlich in der Nähe – und sind zusammen in die Kirche gelaufen. Wir mussten ein ganzes Stück laufen, es gab zwar eine Straßenbahn, aber mit der konnten wir nicht fahren, da das Geld nicht reichte.
Dann kam der Krieg, 1939, und wir wohnten noch in Gleiwitz. Mein Bruder Helmut, er war 10 Jahre älter, wurde zur Wehrmacht eingezogen. Gleich am Anfang, im September 1939, ist er gefallen. Ich habe auch noch eine ältere Schwester, Adela. Sie wohnt jetzt in Darmstadt. Sie hat zwei Kinder, die in den USA leben und verheiratet sind.
Meine Mutter hat immer ein bisschen mit den Juden sympathisiert. Sie ist immer in die jüdischen Geschäfte einkaufen gegangen. Es war im Jahr 1939, da kam an einem Tag mein Vater nach Hause, und hat gesagt: „Ab heute darf niemand mehr zu den Juden einkaufen gehen. Das wurde uns auf der Arbeit gesagt. Sonst verliere ich meine Arbeit.“ Da er durch die Eisenbahn Beamter war, d.h. im Staatsdienst beschäftigt, mussten wir uns danach richten und haben die jüdischen Geschäfte fortan gemieden.
Als im Jahre 1939 der Krieg ausgebrochen war, gingen wir noch zur Schule. So genau kann ich mich nicht mehr an alles erinnern, ich war zwölf Jahre alt. Meine Schwester ist drei Jahre älter, sie ist 1924 geboren. Wir konnten immer noch in die Kirche gehen, es hat uns niemand was in den Weg gelegt. Mit 10 Jahren musste man in die Hitlerjugend eintreten. Da hatten wir immer großes Glück, denn die Führerin meiner Altersgruppe in der Hitlerjugend hat uns nicht gezwungen dabei zu sein, wenn sonntags besondere Veranstaltungen stattfanden, bei denen die Jungmädel der Hitlerjugend antreten mussten. Sie sagte uns: „Wenn ihr nicht da seid, dann seid ihr halt nicht da“. Wir konnten deshalb immer in die Kirche gehen, es hat uns niemand was in den Weg gelegt. Ansonsten gingen wir gerne zu diesen Treffen, denn wir haben viele schöne Dinge erlebt.
Wir hatten immer großes Glück. Da mein Vater Eisenbahner war, wurde er von seiner Arbeit nach Polen versetzt, direkt hinein in polnisches Gebiet. Wir hatten doch Polen besiegt. Er wurde nach Zombkowitz geschickt. Dort war ein großer Rangierbahnhof. Da kamen viele Züge und die mussten umgeleitet werden, da die vielen Soldatentransporte über Polen nach Russland und zurückgingen. Er arbeitete dort und wir wohnten noch in Gleiwitz. Dann hat er keine Lust mehr gehabt, immer hin und her zu fahren. Als ihm eine Wohnung dort angeboten wurde, hat er gesagt, dass wir jetzt dahin kommen sollten, wo er arbeitet. Da könnten wir zusammen wohnen. 1941 sind wir nach Polen übergesiedelt. Das war an und für sich auch eine schöne Zeit. Wenn man die Polen gut behandelt hat, dann konnte man auch gut mit ihnen auskommen. Mein Vater konnte gut mit diesen Arbeitern umgehen.
Meine Mutter ist in dieser Zeit krank geworden. Es ging ihr immer schlechter, sie konnte nicht so gut laufen. Sie ist zu vielen Ärzten gegangen, aber keiner wusste, was sie eigentlich für eine Krankheit hatte. Wir wissen es bis heute noch nicht. Aber wir haben vermutet, dass es Multiple Sklerose war. Damals jedenfalls hatten sie wahrscheinlich noch nicht feststellen können, was sie hatte. Sie konnte nicht mehr so viel arbeiten und da bin ich zu Hause geblieben. Ich durfte keine Ausbildung machen, da mein Vater sagte, ich solle mich um die Mutter und den Haushalt kümmern. Man hatte es sich nicht so richtig überlegt, wie es einmal später mit mir werden würde. Ich hatte keinen Beruf gelernt und musste zu Hause arbeiten. Ich habe da die ganze Hauswirtschaft gemacht.
Mein Bruder hatte eine uneheliche Tochter, Ruth, die nicht bei ihrer Mutter bleiben konnte, da diese arbeiten musste. Ruth wurde 1939 in Ripdorf, bei Ülzen, geboren. Im Februar 1940 hat sie ihre Mutter dann zu uns gebracht. Da war sie ein halbes Jahr alt. Ich musste mich dann auch noch um sie kümmern und sie aufziehen, weil meine Mutter immer kränker wurde.
Eines Tages kam mein Vater nach Hause, das war im Januar 1945, und hat gesagt: „Wir müssen fort. Es ist aber nur für kurze Zeit.“ Wir hatten schon gemerkt, dass die Front immer näher kam. Da meine Schwester am Bahnhof gearbeitet hat, hieß es, sie bleibt da und ich bin mit meiner Mutter und mit unserer Ruth weggefahren. Keiner hat uns gesagt, wo wir hinfahren würden und wie lange das dauern würde. Wir haben in großer Eile gepackt, sind in den Zug reingesetzt worden und weggefahren. Ich muss immer weinen, wenn ich das höre. Das alles passierte am 20. Januar 1945. Mein Vater hatte am 18. Januar Geburtstag, ich am 22., aber da hat man nicht mehr dran gedacht, an die Geburtstage. Man hat uns in den Zug reingesetzt und wir sind in Jauer gelandet. Das war ein großes Glück, weil wir nun wieder in Deutschland waren. Der Krieg war ja noch nicht aus, es waren auch noch keine Russen da, und wir konnten uns frei bewegen. In Jauer [in Schlesien] wurden wir auf ein großes Gut gebracht. Dort warteten wir, wie es weitergehen sollte, denn es hieß immer: „Es ist nur für kurze Zeit, ihr kommt bald wieder nach Hause.“ Der Februar verging, der März kam, aber wir kamen nicht nach Hause. Ich kann mich noch erinnern, dass auf dem Gut auch Kriegsgefangene gearbeitet haben. Es gab da einen jungen Franzosen, der hat sich öfters mal mit mir unterhalten. Einmal hat er mich gefragt, ob ich daran glaube, dass wir wieder nach Hause kommen. Natürlich waren wir davon überzeugt, wieder heimzukommen! Und da habe ich gesagt: „Na freilich kommen wir wieder nach Hause. Der Russe wird besiegt werden und dann können wir heimgehen.“ Darauf hat er mir gesagt, ich sollte gar nicht daran denken, dass ich je wieder nach Hause käme. Wir waren vielleicht sechs Wochen dort, und dann hieß es, wir müssen wieder unsere Sachen packen und wir müssen wieder weiter rein ins Reich. Da habe ich mir überlegt, was mache ich denn jetzt? Ich bin mit meiner Mutter alleine. Meine Mutter kann nichts machen. Die Ruth ist fünf Jahre alt. Werde ich jemals wieder mit meinem Vater und meiner Schwester zusammenkommen?
Später, ganz später, habe ich immer gedacht, warum habe ich noch alle die Sachen da? Ich habe meine Bilder alle noch da, von Kindheit an, die wir gemacht haben. Auch Kirchensachen, wie meinen Taufschein, Genealogieurkunden, ein Buch der Erinnerung. Das musste ich wohl alles damals eingepackt haben. Jetzt muss ich mal überlegen, wie es weiter ging. Wir haben wieder unsere paar Sachen zusammengepackt und wurden zum Bahnhof gebracht, sind wieder in den Zug eingestiegen, und das Ziel war unbekannt. Wir wussten nicht, wo wir hinkommen. Gefahren ist der Zug bis nach Jena in Thüringen. Damals hat man sich doch gar keine Gedanken gemacht, wie weit das von unserer Heimat entfernt war. Dort wurden wir dann auf die Dörfer verteilt. Wir kamen nach Großschwabhausen bei Jena. Meine Mutter wurde immer kränker, sie konnte fast gar nicht mehr laufen. Ein bisschen Unterstützung in Form von Geld haben wir erhalten. Aber für mich gab es nichts. Mir haben sie immer gesagt, ich könnte doch arbeiten. Aber wie konnte ich arbeiten, wenn ich diese zwei Personen zu Hause hatte und mich um sie kümmern musste. Aber es ging doch immer alles gut weiter. Ich habe ein bisschen auf dem Feld arbeiten können.
Meine größte Sorge war, wie wir jemals wieder mit der Familie zusammen kommen würden. Da mein Vater bei der Eisenbahn gearbeitet hat, bin ich zum Bahnhof raufgegangen. Ich dachte mir, vielleicht kann ich da irgendetwas erfahren. Ich habe einen Mann angesprochen und habe ihm gesagt, dass mein Vater Eisenbahner ist und dass wir getrennt wurden, ich wäre mit meiner Mutter hier in Großschwabhausen und ich wüsste nicht, wie wir jemals wieder zusammenfinden würden. Da hat er zu mir gesagt, ich hätte großes Glück, die Reichsbahndirektion Oppeln wäre mit all ihren Papieren und mit allen Sachen nach Erfurt verlegt worden. Dann habe ich meinen Namen, die jetzige Adresse und woher wir kamen dort am Bahnhof hinterlassen. Sie wollten sehen, was sie für mich tun könnten, und sie wollten das nach Erfurt weiterleiten. Man konnte sich ja durch das Rote Kreuz finden, aber das war damals so ein großes Durcheinander, dass man gar nicht wusste, wo man sich hinwenden sollte. Da waren die Amerikaner noch in Thüringen. Die Amerikaner haben im September Thüringen verlassen und dann kam der Russe rein.
Solange die amerikanische Besatzung in Thüringen war, ist keine Post gegangen, keine Züge sind gefahren, es war alles still, lahmgelegt. Als dann die Russen Thüringen besetzt hatten, ist auf einmal die Post gekommen. Aber da bei uns ja niemand wusste, wo ich war, bekam ich natürlich auch keine Post. Ich wusste immer noch nicht, was ich machen sollte. Das muss 1946 gewesen sein. Wir hatten zwei kleine Zimmer, es war ärmlich, aber es reichte aus. Ich hatte auch immer Freunde, die uns geholfen haben. Ich weiß heute nicht mehr, wer zuerst zu uns kam, mein Vater oder meine Schwester. Die sind einfach plötzlich in Großschwabhausen angekommen. Ich nehme an, dass sie uns durch diese Adresse, die ich von uns angegeben habe, gefunden haben. Wir hatten ja nur die zwei kleinen Zimmer und es gab auch keine Wohnung in Großschwabhausen, das war nur ein kleiner Ort. Am Ortsrand standen mehrere Baracken. Da hatten früher Soldaten oder die Leute vom Arbeitsdienst drin gewohnt und da wurden nun auch die Flüchtlinge untergebracht. Wir konnten dort drei große Zimmer haben, es waren aber keine Türen drin, die Zimmertüren waren alle mit Decken verhangen. Dort mussten wir leben, denn wir hatten ja sonst keine Unterkunft. Meine Schwester hat gesagt: nein, das macht sie nicht mit, sie wird nach Weimar fahren und sich dort mal umschauen, ob sie da irgendjemanden von der Kirche findet. Und sie hat wirklich jemanden gefunden. Sie konnte dort bleiben, hat Arbeit gefunden und bei einer Mitgliederfamilie wohnen können. Sie hat sich auch darum gekümmert, dass wir eine Wohnung in Weimar bekommen haben, wo wir wieder zusammen sein konnten. Mein Vater konnte wieder bei der Eisenbahn arbeiten. Da ging es uns dann besser. Meine Mutter konnte gar nicht mehr laufen. Unsere Ruth ist in Großschwabhausen in die Schule gekommen, sie war sechs Jahre alt. Als meine Schwester in Weimar Fuß gefasst hatte, konnten wir auch nach Weimar in die Kirche gehen, und zwar ich und Ruth, meine Nichte. Es ist damals kein Zug gefahren, da sind wir von Großschwabhausen nach Weimar gelaufen und nachmittags dann wieder zurück. Meine Mutter konnte alleine bleiben, weil mein Vater da war. Wir sind immer auf den Eisenbahnschienen gegangen. Es sind keine Züge gefahren und da brauchte man keine Angst haben, dass mal unverhofft ein Zug kommt.
Endlich hatten wir eine Unterkunft in Weimar gefunden, und zwar zwei Zimmer zur Untermiete bei einem alten Herrn. Das muss 1947 gewesen sein. Ein Jahr später sind wir dann in eine 3-Zimmer-Wohnung mit eigener Küche im 5. Stock unters Dach umgezogen. Wir wurden gut in der Gemeinde aufgenommen. Seit 1947 haben wir in Weimar gewohnt. Es war alles gut, wir waren wieder zusammen, und wir konnten dort in die Kirche gehen. Es wurden dann auch Missionare ausgesandt, die auch in Weimar waren. Das war 1951.
Meine Mutter war die ganze Zeit Mitglied der Kirche, aber mein Vater hat sich erst in Karlsruhe taufen lassen am 6. April 1968. Trotzdem ist er immer mit in die Kirche gegangen, wenn er konnte. Er musste ja auch sonntags arbeiten. Es war eine schöne Zeit, es war eine schöne Gemeinde. Dort habe ich auch meinen Mann kennengelernt, der 1951 als Missionar nach Weimar kam.
Es waren immer Missionare bei uns. So viele junge Brüder gab es gar nicht. Wir waren acht oder neun junge Mädchen in Weimar. Unsere Ruth wurde in Weimar getauft. Bis 1954 lebte ich da mit meinen Eltern zusammen. Ich habe nicht gearbeitet, weil ich mich immer zu Hause um meine Mutter kümmern musste. 1953 schreib mein zukünftiger Mann, ich solle nach Bühl, in Baden, kommen, wir müssten heiraten, weil er eine Wohnung von der Kirche bekommen könnte. Das war auch eine schwere Entscheidung. Was sollte ich jetzt machen? Sollte ich heiraten, oder zu Hause bei der Mutter bleiben. Sie sagte mir, ich sollte an mich denken und gehen. Ich bin dann im Januar über die Zonengrenze in den Westen nach Bühl gegangen. Ich konnte nur wenig Gepäck mitnehmen, denn offiziell durfte man aus der Besatzungszone nicht ausreisen. Im Januar wurde er Gemeindepräsident in Bühl. Dann haben wir im Februar geheiratet. Er hat keine Arbeit gehabt, das war auch eine schlimme Zeit. Wir hatten aber in dem Haus, das die Kirche gekauft hatte, zwei Zimmer. Die anderen zwei Zimmer waren für die Kirchenversammlungen eingerichtet. Es war sehr schön.
Unsere Tochter ist im November 1954 geboren worden. Weil mein Mann lungenkrank war, war es sehr schwer für ihn, Arbeit zu finden. Ich habe abends im Uhu-Werk geputzt, damit wir ein bisschen Geld für Essen hatten. Es ging ihm mit der Zeit auch besser. Er konnte bei den Franzosen im Auslieferungslager arbeiten. Die zweite Tochter ist 1956 geboren worden. Wir sind öfters nach Karlsruhe gefahren, wenn die Distriktskonferenzen waren. Da habe ich mir gedacht, wie schön wäre das – wir hatten keine jungen Leute in Bühl – wenn die Kinder hier alle zusammen aufwachsen könnten. Da habe ich immer überlegt, wie kannst du das nur machen, dass wir nach Karlsruhe übersiedeln können.
In Karlsruhe gab es ein Altersheim der Kirche. Der damalige Distriktspräsident wusste, dass ich wirklich den Wunsch hatte, nach Karlsruhe zu kommen. Er ist zu uns nach Bühl gekommen und hat gesagt: „Der Verwalter von dem Altersheim geht jetzt weg und es wird ein neuer Verwalter gesucht. Wie wäre das, wenn ihr das übernehmt?“ Das war auch wieder so etwas, in so eine große Stadt zu ziehen. Wir haben hin und her überlegt. Dann haben wir zugesagt. Das war 1958. Unsere Kinder waren 4 und 2 Jahre alt als wir 1958 nach Karlsruhe übergesiedelt sind.
In dem Altersheim wohnten 30 Leute, 30 ältere Schwestern. Ein oder zwei Brüder waren auch immer mal da. Es war eine schwere Arbeit, aber sie war schön. Wir konnten uns mit den alten Schwestern befassen und sie betreuen. Wir hatten eine Köchin und Personal zum putzen. Der Missionspräsident hatte gesagt, ich solle nur aufpassen, dass unsere Kinder die alten Leute nicht belästigten. Wir mussten ja vorher nach Frankfurt fahren und da habe ich ihm das versprochen. Die alten Leute waren aber glücklich, dass jetzt 2 kleine Kinder in dem Haus lebten. Und es war wirklich eine schöne Zeit von 1958 bis 1975. Dann wurde das Altersheim aufgelöst.
So sieht man, dass wir trotz aller Schwierigkeiten immer vom Herrn gesegnet wurden.
habe acht Jahre lang, bis 1971, die Gemeinde Duisburg geleitet.