Hirsau, Baden-Württemberg
Lina Rügner, geborene Schönhardt* am 19 Mai 1892 in Hirsau, Schwarzwald. Wenn man zum Ursprung des Mormonentums in Württemberg gehen möchte, muss man in ein kleines Schwarzwaldstädtchen reisen, nach Hirsau. Dem Besucher bietet sich ein herrliches Bild. Es gibt Täler und Hügel, saftige Wiesen und gut bestellte Felder. Aber vor allem riesige Wälder. So wie sich die Landschaft dem Betrachter darbietet, so sind auch die Menschen, die dort geboren werden: Ordentlich, sauber, sparsam und fleißig. Handwerker, Bauern und Arbeiter. In diesem Städtchen lebten die Eheleute Schönhardt mit ihren Kindern: Karl, Marie, Christian, Rosiene, Lina, Miena und Wilhelm.
Als eines Tages zwei Amerikaner an ihrer Tür klopften, nahmen sie die Fremden gastlich auf und es stellte sich bald heraus, dass es sich um zwei Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage handelte – wahre Zeugen des Evangeliums – wie sie sich selbst vorstellten. Was am Anfang nur Neugierde war, nahm Formen an. Das Evangelium hatte wieder seinen starken Einfluss auf Menschenherzen geltend gemacht. Die Schönhardts standen eines Morgens ganz früh am Bahnhöfle von Hirsau, um mit dem ersten Zug in Richtung Frankfurt am Main abzureisen. Denn dort wollten sie mit ihrem Himmlischen Vater einen immerwährenden Bund durch die Taufe schließen. Das war im Jahre 1882, die Kirche war noch sehr jung. Es war gerade John Taylor zum dritten Präsidenten der Kirche berufen und eingesetzt worden.
Geboren vier Jahre nach der Taufe ihrer Eltern, mit der Muttermilch, sozusagen, sog die Lina die Lehren Jesu Christi ein. Sie verstand schon als kleines Mädchen, dass die Familie eine immerwährende Einrichtung ist, ein Hort des Friedens, der Liebe und der Erbauung. Im Alter von 18 Jahren nahm sie aus voller Überzeugung das Evangelium durch die Taufe an, um es bis zu ihrem Lebensende in Treue zu Leben.
Vier Jahre später heiratete sie Bruder Gottlob Rügner, den sie in Stuttgart, wo die ganze Familie inzwischen hingezogen war, kennen lernte. Da sie näher bei den Mitgliedern der Kirche sein wollten, weil sie in Hirsau keine Gelegenheit hatten dem Abendmahl beizuwohnen zu können. Gottlob stammte aus Dornsteffen im Schwarzwald und in Stuttgart seinen Militärdienst nachkam. Seine ganze Familie konnte es nicht verstehen, als er sich taufen ließ und Nächte lang mit seinem Schwiegervater über Evangeliumsfragen diskutierte. Da er aus einer sehr streng pietistischen Familie kam, trotz aller Widerstände, machte er einen Bund mit seinem Himmlischen Vater. Beide nahmen die Gebote Gottes als Richtschnur für ihr ganzes Leben an. Das Glück der Gemeinsamkeit dauerte jedoch nicht lange an. Der erste Weltkrieg brach aus und wie viele andere musste auch Bruder Rügner den Waffenrock anziehen und vier Jahre in den Krieg ziehen. Lina Rügner, allein gelassen, trug ihr erstes Kind unter dem Herzen.
Alle ihre Liebe gehörte dem kleinen Immanuel. Doch wie Gold auch nur in der Schmelze rein und vollkommen werden kann, so verlief auch das Leben dieser treuen Schwester. Das Baby wurde so schwer krank, dass der Arzt nur noch eine Rettung in der schnellen Einweisung in en Kinderkrankenhaus sah. Nicht so Schwester Rügner, obwohl selbst schwer krank, sagte sie mit klarer Stimme: „Mein Kind kommt erst aus dem Haus, wenn es zuvor von den Ältesten gesegnet wurde!“ Dann schickte sie ihren alten Vater zu Fuß nach Stuttgart, um die Brüder zu holen. Bei der Segnung wurde die Verheißung gegeben, dass das Kind leben werde. Voller Zuversicht gab sie jetzt die Erlaubnis, das Baby in die Klinik zu bringen. Der kleine Immanuel kam aber im Krankenhaus so herunter, dass die Ärzte keine Hoffnung mehr sahen und ihn seiner Mutter zurückgaben. In aufopfernder Weise pflegte sie den Jungen; denn sie glaubte an die Verheißung des Herrn. Und tatsächlich erholte sich der Kleine, nahm Nahrung auf und gesundete. Als ihr Gatte 1918 vom Krieg unversehrt zurückkam, war sie so glücklich, dass sie dem Herrn versprachen, ein besonderes Opfer für den Aufbau des Königreichs Gottes zu bringen. Im Jahre 1921, die Familie war in der Zwischenzeit auf fünf Köpfe angewachsen, trat sie energisch dafür ein, dass ihr Mann eine Mission für den Herrn erfüllen sollte. Tatsächlich kam die Berufung vom Präsidenten der Kirche, Heber J. Grant, und Bruder Rügner wurde in die Schweizer Mission geschickt. (heute berufen). Als Bruder Rügner aus dem Haus ging, ließ er seine Familie mit 1,00 Mark Bargeld zurück. Er ging im wahrhaftigsten Sinne des Wortes ohne Beutel und Tasche. Er besaß noch nicht einmal einen Wintermantel um die Kälte abzuwehren. Und obwohl es eine Zeit der Entbehrungen für sie und die ihren war, war es auch eine Zeit der Segnungen und der Erfüllung. Ihr Zeugnis wurde in dieser Zeit auf das Wunderbarste gestärkt. Einmal stand, als buchstäblich nichts mehr zu Essen da war, ein Korb vollgefüllt mit Nahrungsmitteln vor der Tür. Ein anderes mal kam der Evangelische Pfarrer, der gegenüber wohnte, zu ihr ins Haus und sagte ihr, dass er sich an dem wunderschönen Gesang ihres ältesten Sohnes erfreuen würde, wenn er draußen im Vorgarten beim Schuhputzen, die schönen Kirchenlieder singen würde. Beim Abschied gab er ihr eine Flasche Öl. Es war seit Tagen kein Speiseöl mehr im Haus gewesen.
Acht Kinder wuchsen im Laufe der Zeit im Hause Rügner auf Obwohl nie reich an irdischen Gütern gewesen, gehörten die Rügner Kinder zu den glücklichsten in der Nachbarschaft. Sie lernten von Jugend an miteinander zu teilen. So war das Rügnersche Haus eines der gastfreundlichsten. Viele Missionare wurden gespeist und fanden ein zweites Heim in der Fremde. Über 20 Jahre leitete Bruder Rügner die Gemeinde in Stuttgart-Feuerbach. Als seine Gehilfin hat sie in dieser Zeit vielen als Beispiel und Vorbild gegolten. Sie war eine Mutter für die ganze Gemeinde.
Als ihre Tochter Esther im Jahre 1944 in Stuttgart-Feuerbach ausgebombt wurde, wurde nicht lange überlegt und wir wurden im Schnatzgraben aufgenommen. Aber alles wurde noch schlimmer und Esther und ihre vier Kinder, und eines sieben Monate, zogen zu ihren Schwiegereltern nach Schlesien. Die Familie war jetzt zu siebt. Klein Helga wurde in Schlesien geboren. Esthers Ehemann fiel1945. Und durch den Zusammenbruch in Deutschland hörten die Rügners nichts mehr von ihrer Tochter und den fünf Kindern bis zum Juni 1946. Als dann die Todesnachricht ihrer Tochter eintraf, war ihr erster Gedanke: Was ist aus den fünf Kindern geworden? Das Jüngste, Helga, war ja erst 1½ Jahre alt. Es war für Oma und Opa Rügner klar, dass sie, die Großeltern, die Pflicht hatten, die Enkelkinder aufzunehmen, Das war jedoch gar nicht so einfach; denn die Kinder befanden sich in einem polnischen Waisenhaus in der polnischen Besatzungszone.
Zwei Jahre vergingen, bis die Polen die Ausreise im Jahre 1948 zuließen. Tagelang stand Oma Rügner in den Gängen der Behörden herum, bis es ihr gelang die Kinder aus einem Waisenhaus herauszuholen. Ihr Glaube an den Herrn und seine Verheißungen haben ihr geholfen und gezeigt, der Herr steht zu dem was er gesagt hat. (L&B 58:31 Wer bin ich, spricht der Herr, dass ich verheiße und nicht erfüllt hätte?) Vier Kinder und fünf Enkelkinder wohnen jetzt in dem kleinen Haus am Schnatzgraben in Weilimdorf. Alle wurden mit der gleichen Liebe und Fürsorge erzogen.
Opa Rügner, der jetzt bei der Stadt Stuttgart angestellt war, konnte nach der Währungsreform zum ersten Mal auch finanziell seiner Familie soviel bieten, dass die Sorge um das tägliche Brot nicht mehr im Vordergrund stand. Es war im Jahre 1955, dass meine Frau und ich mit den Eheleuten Rügner im Tempel des Herrn waren. Der Tempel wurde kurz vorher von Präsident David O. McKay geweiht. Wir durften Zeuge sein, wie die beiden lieben Menschen, die sich ein Leben lang treu ergeben waren, jetzt für alle Zeit und Ewigkeit verbunden sein werden. Ihr ganzes Leben stand unter dem Motto: Der Herr ist mein Hirte. Unzählige male hat Schwester Rügner den 23. Psalm zitiert, um ihren Kindern und Enkelkindern zu sagen, dass wer sich dem Herrn anvertraut nicht verlassen wird.
Am 31. Dezember 1958 starb ihr Lebensgefährte. Die Verantwortung, die noch im Hause lebenden zwei Kinder und fünf Enkelkinder zu rechten Menschen zu erziehen, war jetzt voll auf sie übergegangen. Sie tat das, wie alles andere zuvor, mit Bravour. Das Leben ging weiter, ihre Kinder und Enkelkinder heirateten, wurden teilweise in die ganze Welt zerstreut. Die ersten Urenkel wurden geboren und man hätte denken können, dass es jetzt stiller geworden ist im Haus am Schnatzgraben. Doch ihre Gedanken waren täglich bei allen ihren Kindern, wo sie sich auch befanden. Und überall wurde sie gebraucht. Ob es in Beirut (Libanon) war, wo ihr Schwiegersohn einen Lehrauftrag an der deutschen Schule hatte und plötzlich die Frau sehr schwer krank wurde, oder bei ihrer Tochter Elisabeth, deren Ehemann in den USA tödlich verunglückte, die Oma kam und half
Im Pfahl wurde sie die reisende Oma genannt. Ihr Pflichtgefühl und ihre Liebe waren unverbraucht und unerschöpflich. Auch ihre letzte Reise, die sie in ihrem Leben unternahm, galt einem Menschen, den sie liebte und dem sie Trost zusprechen wollte. Ihre ältere Schwester lag in Karlsruhe in einem Krankenhaus. Die Ärzte gaben der fast 87-jährigen nur noch wenige Tage auf dieser Erde. Schwester Lina packte ihren Koffer, um nach Karlsruhe zu fahren. Auf dieser Fahrt verunglückte sie tödlich bei einem Verkehrsunfall. Ein Leben wie jedes andere? Nein, ein Leben der Erfüllung und des Dienstes am Nächsten. Aber auch ein Leben des Glaubens und des unbedingten Vertrauens auf unseren himmlischen Vaters. Ihre Geschichte wird im Buch des Lebens verzeichnet sein. Sie ging vorbereitet aus diesem Leben; denn ihr sehnlichster Wusch war, würdig ihren Gemahl auf der anderen Seite wiederzusehen. Ich hoffe, dass ich nur in etwa das in Worte ausdrücken konnte, was diese ausgesprochen humorvolle Frau mit ihrem heißen Herzen, mit ihrem starken Zeugnis von Jesus Christus und seiner wiederhergestellten Kirche in der Tat zu einer wahren Königin und Mutter in Israel werden ließ.
* Von Rolf H.Knödler, 2. Ratgeber in der Präsidentschaft des Pfahles Stuttgart geschrieben. „Wenn ich die Geschichte von Schwester Rügner unter dem Titel Eine wahre Mutter in Israel in abgekürzter Form zu Papier bringe, dann mit der Absicht, unserem Geschlecht ein lebendiges Zeugnis für Glaubenstreue in diesem Land zu geben.“