Schakeningken, Ostpreußen
Ich bin Erika Waltraut Schibblack, geborene. Naujoks. Am 27 April 19221 erblickte ich die Welt in Schakeningken, Memelland[block]2[/block] Ostpreußen. Ich hatte Eltern, die mich im Evangelium erzogen haben. Meine Großmutter war schon in der Kirche. Sie hieß Loeper. Meine Mutter war einen geborene Loeper. Durch Geschwister Mamart, die schon in der Kirche waren, kamen wir zur Kirche. Ich wurde von meiner Großmutter mitgenommen zur Sonntagsschule. Mir hat das so gut gefallen, und so bin ich mitgetippelt.
Wir wohnten sehr weit von Tilsit entfernt. Es waren über acht Kilometer bis Tilsit. So mussten wir die Kirche jeden Sonntag zu Fuß besuchen, aber es hat uns gar nichts ausgemacht. Meine Großmutter war so lustige und volle Freude, dass sie das Evangelium gefunden hatte. Dadurch, dass Oma uns nun in diese Kirche führte, kam dann auch mein Bruder Artur zur Kirche, dann meine Eltern, meine Mutti Ida und mein Vati Arthur. Sie wurden auch Mitglieder, und so waren wir eine richtige Mormonenfamilie geworden. So sind wir dann regelmäßig jeden Sonntag mit Großmutter zur Sonntagsschule marschiert. Abends sind meine Eltern, Mutti und Papa, mit dem Fahrrad, dass sie sich gekauft hatten, zur Abendmahlsversammlung gefahren. Das war für uns hochinteressant. Das Licht wurde mit Carbid angezündet, und wir durften gucken, wie die Eltern wegfuhren. Wir warteten dann brav Zuhause mit der Oma, bis sie aus Tilsit aus der Abendmahlsversammlung wieder kamen
Mein Vati arbeitete auf einem Rittergut als herrschaftlicher Kutscher. Er hat die Leute ausgefahren zur Jagd, und wenn Veranstaltungen waren, musste Papa die Herrschaften ausfahren. Wir waren dann immer voller Freude und durften, hinten in der Kutsche, den hintersten Platz einnehmen. Mein Bruder wollte mich immer necken, aber mir gefiel das nicht, aber ich habe mich daran gewöhnt.
Mutti war noch interessierter. Wir wollten vorwärts gehen, wir wollten mehr wissen und lernen. Wir hatten den Gemeindeleiter Bruder Schulzke, der uns sehr betreute und uns wirklich das Evangelium so nahe brachte, dass meine Mutter hell begeistert war und sagte: „Wir müssen näher an die Gemeinde kommen.“
Dann wurde dieses Rittergut, wo mein Vati gearbeitet hatte, geteilt, dass nannte man gesiedelt. Wer wollte von den Arbeitern, konnte sich ein Stück Land kaufen. Und so kamen wir näher nach Tilsit. Wir wohnten dann in Bargadelen in der Nähe von Tilsit. So hatten wir ganz engen Kontakt zu den Mitgliedern der Kirche und konnten auch in der Woche die Versammlungen besuchen. Das war schon ein großer Fortschritt, den wir gemacht hatten.
In meiner Kindheit hatte unsere Gemeinde 40–50 Mitglieder. Aber als ich dann geflüchtet bin, mein Vati war eingezogen, da war unsere Gemeinde schon recht groß. Es sind ein paar junge Männer aus der Gemeinde im Krieg gefallen. Kurt Barz ist gefallen, Milbrechts sind verschwunden, Schulzke. Es waren noch mehr Brüder, die eingezogen waren. Unser Gemeindeleiter Bruder Schulzke war sehr bemüht seine Schäfchen zu stärken und zu leiten. Wir waren auch schon herangewachsen und größer geworden. Mein Bruder hatte auch guten Kontakt in der Kirche. Ich hatte eine Freundin, sie hieß Freymann. Ihr Vater war Distriktsleiter in Königsberg. So war das Verhältnis mit der Jugend sehr eng. Das war schon sehr schön. So haben wir uns auch gemeinsam getroffen. Das war schon ein großer Fortschritt, den die Mutti da abstrebte für uns junge Leute.
Eine von den jungen Mädchen, Meischuß, nachher verheiratete Meier, ging als erstes auf Mission. Und sie sagte zu mir: „Waltraut, wie ist das?“ Ich sagte: „Ich komme noch nicht. Ich habe noch die Mutti und die Omi hier.“ Sie war die erste aus unserer Gemeinde, die auf Mission nach Berlin ging. Es muss so zwischen 1943 und 1944 gewesen sein. Es war eine schöne Zeit für sie.
Dann waren wir auch sehr befreundet mit der Insterburger Gemeinde. Da waren die Geschwister Braun, die uns dann auch unterstützt haben. Wir trafen uns. Es gab schon ein reges Jugendleben. Wir haben uns sehr unterstützt in der Kriegszeit. Die Geschwister Braun, die beiden Schwestern[1], wohnen in Hamburg. Das habe ich vor einiger Zeit erfahren. Wir hatten Konferenz in Berlin, und da kam sie auf mich zu und sagte: „Waltraut, kennst du mich nicht?“ Ich sagte: „Ich weiß nicht“. Und dann sagte sie: „Ich bin doch die Ruth Braun.“ Ich sagte: „Ach, das sagt mir schon viel“. Da haben wir natürlich viele Erlebnisse ausgetauscht. Es war eine schöne Zeit. Das war so meine Jugend. Ich habe die Bienenkorbarbeit mitgemacht, die mir sehr viel Freude gemacht hat. Eine Schwester aus Königsberg, Schwester Schibkowski, hat uns sehr unterstützt. Die Mutter war für uns junge Schwestern zuständig.
Ich habe nicht auf meine Mutti gehört und habe außerhalb der Kirche geheiratet. Ich hatte nun aber einen Mann, der sich sehr für das Evangelium interessierte. Er hieß Wichert. Ich glaubte bestimmt, dass er ein Mormone werden würde. Dann kam der Krieg und es war ein böses Ende. Wir haben 1943 in Tilsit geheiratet. Unser Gemeindeleiter Schulzke hatte uns noch einen Segen gegeben. Wir hatten die ganze Jugend zu unserer Hochzeitsfeier eingeladen.
Abends um 22.00 Uhr heulten die Sirenen. Da kamen dann die ersten Flieger über Tilsit und warfen Bomben ab. Da begann der Ernst des Lebens auch für mich. Es wurde einen Sonntag in der Sonntagsschule bekannt geben, wer nach Wolfsgrün auswandern möchte, sollte sich melden. Da hat Mutti gesagt, dass wir auswandern wollen, und sie hat uns angemeldet. Wolfsgrün wurde ja aufgebaut. Aber da ich einen Mann hatte, der nicht in der Kirche war, durfte er nicht mit. Ich habe so viel geweint. Mein Mann war Feldwebel bei der Armee. Er ist zurückgekommen. Er war verwundet und dadurch entlassen worden und kam nach Bertelsdorf bei Freiberg
Ich war mit meinen Schwiegereltern und meinem Mann im Winter auf der Flucht. Wir sind am 28. Januar aus Elbingen geflüchtet. Wir sind vom Abendbrotstisch aufgestanden. Es gab Pellkartoffeln und Hering. Da sagte mein Mann: „Hier müssen wir jetzt Schluss machen. Wir flüchten jetzt“. Durch die Verletzung wurde mein Mann bevorzugt behandelt.
Wir haben kaum etwas zu Essen und zu trinken gehabt auf der Flucht. Wir sind zu Fuß gegangen oder mit dem Zug gefahren, wie es gerade möglich war. Später nahm uns und ein polnischer Pferdeschlittenführer mit. Wir hatten in der Nacht, als wir aus Elbing flüchteten unseren Schwiegervater verloren. Er hat sich an einen anderen Wagen angehängt, und so hatten wir ihn verloren. Nun war der Kummer groß. Mein Mann mit der Stucka, ich mit der Schwiegermutti, die so weinte um ihren Mann, der verloren gegangen war. Es war ganz traurig.
Ich habe immer gesagt: „Vater im Himmel, Du kannst uns doch helfen, bitte hilf uns doch!“ Und es war auch so. Jeden Tag konnten wir dann ein paar Kartoffeln finden, die wir aufgesammelt haben. Die Schwiegermutti hat sie uns abgekocht. Die waren gefroren. Sie schmeckten nicht, aber wir haben sie gegessen. Alles wurde geteilt, jedes Stückchen Brot, das wir hatten, wurde geteilt.
Dann kamen wir an eine große Käserei vorbei. Da sagte mein Mann: „Hier ist eine Käserei, Waltraut, wollen wir da rein?“ Ich sagte: „Ja komm, lass uns gehen.“ Dann sind wir vom Schlitten abgestiegen und in diese Käserei hinein gegangen. Ich hatte zwei Brote, Brote nannte man das, Käserollen. Die hatte ich unter meinen Arm gesteckt. Die haben uns nachher gerettet. Wir konnten jeden Tag eine Scheibe Käse essen, denn wir hatten nichts weiter. Das andere war gefroren. So haben wir uns über Wasser gehalten, und uns ernährt. So sind wir dann immer vorwärts nach Bertelsdorf
Ich musste dann auch mein Elternhaus verlassen. Mein Mann stammte aus Elbingen, aus Westpreußen. In Elbingen hatte ich die Aufgabe bekommen als Sekretärin in der Sonntagsschule zu arbeiten. Da habe ich schon mitgearbeitet. Meine Eltern waren noch in Tilsit, während ich schon zu meinen Schwiegereltern nach Elbingen gezogen bin.
Mein Schwiegervater hat in Elbingen auf der Werft gearbeitet als Meister. Wir bekamen einen Platz auf der Gustloff, um aus Elbungen raus zu kommen. Meine Schwiegermutter ging neben mir, mein Schwiegervater ein paar Schritten voraus. Sie waren schon oben und sagten: „Waltraut, nun komm doch!“ Und da sagte mein Mann noch: „Waltraut, nun mach kein Theater. Du weißt, die Mama kann das nicht vertragen.“ Ich sagte: „Ich gehe dort nicht hoch!“ Ich hatte kein weiteres Gepäck als meine Tasche, das Buch Mormon und Lehre und Bündnisse, das ich zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte und meine Papiere. Mehr hatte ich nicht, und die Tasche war nicht groß. Die hielt ich immer fest, weil ich sie nicht verlieren wollte, wegen meiner Schulzeugnisse usw. Ich bin nicht auf das Schiff gegangen. Nach vielen Jahren hörte ich, dass das Schiff torpediert und gesunken ist. 9000 Menschen kamen um. Ich hatte einfach das Gefühl gehabt nicht auf dieses Schiff zu gehen. Ich konnte keinen Schritt mehr gehen. Mich hielt etwas zurück. Meine Schwiegereltern sind mit mir vom Schiff runter gegangen, und wir sind zusammen nach Freiberg in Sachsen geflüchtet. Dort haben wir gelebt. Da sind meine Schwiegereltern auch begraben.
Meine Schwester, die im Missionsbüro gearbeitet hat, sie hatte einen Arbeitsvertrag in Bertelsdorf auf einem Rittergut. Sie hat dort gearbeitet. Da wussten wir, dass wir die richtige Bahn hatten. Meine Schwester heißt Elli Naujoks.
Dann sind wir endlich in Bertelsdorf bei Freiberg gelandet. Mutti hatte uns noch nach Elbing geschrieben: „Waltraut, wir haben hier ganz in der Nähe eine Kirche.“ Und so hatte ich die Kirchenadresse von Freiberg. Da hatte ich einen Punkt, den ich ansteuern konnte.
Großmutter hatten wir ja auch noch. Sie konnte nicht mehr laufen. Sie war schon fast 90 Jahre alt. Da haben wir sie einfach in einen kleinen Leiterwagen gehoben und mit Kissen ausgestopft, und haben sie abwechseln gezogen, einmal Mutti und dann wieder ich.
Mein Bruder war inzwischen schon als Missionar mit Bruder [Walter] Krause berufen auf Mission. Das waren die ersten Missionare. Und so waren wir Frauen nur übrig geblieben und haben unsere Pflicht getan. Haben den Leiterwagen, mit Oma im Bett, dann neun Kilometer nach Freiberg gezogen und wieder zurück. Der Gemeindeleiter war Karl Henkel und der Distriktspräsident hieß Hegewald.
Mein Mann hatte bei der Deutschen Bank eine Arbeitsstelle bekommen. Er war Banker von Beruf. Er hat dann in Freiberg gearbeitet. Wir kamen auch immer noch näher zur Kirche, und das war für meine Mutti sehr wichtig, die aber inzwischen mit meiner Schwester nach Wolfsgrün ausgewandert war. Da gibt es ein ganz trauriges Erlebnis. Da kam sie einmal von Wolfsgrün zu mir. Ich sagte: „Muttichen, Du siehst ja so verhungert aus!“ Sie sagte: „Ja, Waltraut, wir müssen da sehr unser Brot einteilen“. Da hat mein Mann gesagt, der schon eine leitende Stellung in der Landgemeinde hatte: „Wir holen Dich wieder zurück nach Bertelsdorf“. Und da haben wir, dadurch, dass mein Mann bei der Landgemeinde bekannt und tätig war, die Genehmigung bekommen, dass meine Mutti und meine Großmutter wieder zurückkommen konnten. Es war ja sehr schwer damals Genehmigungen zu erhalten. Das alles hat mein Mann gemanagt. Wir lebten auf einem Bauernhof mit Großmutter, Eltern und Kindern. Ich hatte zu der Zeit noch keine Kinder.
Mein Mann wurde dann versetzt nach Berlin, weil er ein Bankmann war. Er wurde von der Präsidentin Kuckow, die damals bei der Staatsbank war, geholt. Und dann war ich ein Jahr allein mit den zwei Kindern in Bertelsdorf, und ging dann schön fleißig immer in die Kirche.
Meine Tochter Irmgard ist 1945 geboren und mein Sohn Wilfried 1947.
Der Wilfried ist dann, als er das Abitur hatte, zu mir gekommen und hat gesagt: „Mütterchen, jetzt muss ich dir etwas sagen.“ Ich: „Sag bloß nichts Trauriges“. Er sagte; „Ich bin mit dir jetzt 18 Jahre mitgelaufen zur Kirche und habe alles getan, aber ab heute gehe ich mit Vati.“ Vati ging ja nicht zur Kirche. Das war doch ein sehr trauriges Erlebnis. Irmgard musste 17 Jahre lang an die Dialyse angeschlossen werden. Das war sehr sehr schlimm, aber wir haben alles überstanden. Wenn wir ganz traurig waren, und uns weh zumute war, haben wir Kirchenlieder gesungen.
Wenn mein Vater Hause kam, und er merkte, dass in der Familie etwas nicht stimmte, dann fing er an zu singen, sein Lieblingslied war:
Denke dir den Lauf der Welten,
wie die Flut dahin sich zieht,
wo die Urgesetze walten,
nicht ein Fehlerchen geschieht.
Wenn am Fels die Wogen brechen,
denke dir die Macht des Herrn,
traue ihm und folge gern,
traue ihm und folge gern.
Dann fing mein Vati an zu singen, und dann haben wir alle mitgesungen, und dann war die Disharmonie, die er fühlte, vergangen. Das war immer ein sehr schönes Erlebnis. Dann war Mutti verstorben und nun war ich allein. Nicht allein, denn ich war ja in der Kirche und hatte Freunde.
[1] Ruth Fricke und Anna Sanne, deren Geschichte auch in dieser Sammlung zu finden sind.