Görlitz, Schlesien
Ich bin Johanna Runnacle, geborene Schmidt, geboren am 4. März 1927 in Görlitz, damals Schlesien. Mein Vater, Viktor Schmidt, starb, als ich noch ganz klein war. Ich hatte noch eine Schwester und zwei Brüder. Die Brüder waren im Krieg. Der eine ist verschollen, wir haben nie von ihm gehört. Uns war dann klar, dass er tot war.
Meine Schwester war in Görlitz verheiratet und hatte sieben Kinder. Sie sind später ausgewandert. Mein Schwager, Anton Larisch, war der erste Gemeindepräsident in Görlitz. Wir hatten eine ziemlich große Gemeinde. Sie wurde 1897 gegründet. Sie war also eine der ältesten Gemeinden im Osten Deutschlands, soviel ich weiß.
Als Kind lebte ich mit meiner Mutter zusammen. Sie war Witwe. Es ging uns an und für sich nicht schlecht. Wir hatten immer das Nötigste. Als der Krieg ausbrach, waren wir alleine. Wir wohnten in einem Zimmer. Meine Schwester wohnte mit den sieben Kindern noch in Görlitz. Wir haben den ganzen Krieg über nicht gelitten. Wir hatten genug zu Essen. Wir hatten auch genügend Kohle, so dass wir eine warme Stube machen konnten. Das hatten wir nach dem Krieg nicht.
So vergingen die Jahre. Als Anfang Februar 1945 die Nachricht kam, dass die Russen schon sehr dicht an Görlitz waren, mussten wir flüchten. Meine Schwester mit den Kindern musste auch flüchten. Die Kleinen waren noch nicht zwei Jahre alt. Mein Schwager war damals durch den Krieg in Halberstadt, wo die Junkers Flugzeuge gebaut wurden, und war, wie gesagt, gar nicht da. So war sie alleine. Die Autoritäten sagten meiner Schwester, wenn sie nicht ginge, würde sie keine Lebensmittelkarten mehr bekommen. Das konnten wir nicht verantworten.
Wir machten uns bereit, auch meine Mutter und ich. Wir packten in der Nacht unsere Sachen. Einen Handwagen voll mit Koffern und unseren Decken und was wir so brauchten. Sie sagten uns, wir sollten um 6 Uhr früh fertig sein. Es war ein Sonntagmorgen. Wir gingen alle in Richtung Westen. Es war Anfang Februar, also die kälteste Jahreszeit. Das Kleinste von meiner Schwester hatte fast seine Händchen abgefroren. Wie so kleine Kinder sind. Es wollte keine Handschuhe anlassen und auch die Händchen nicht unter dem Bett stecken lassen.
Wir kamen gegen Abend endlich in Reichenbach an. Eigentlich war das gar nicht so weit, aber es dauerte den ganzen Tag, bis wir dort ankamen. Dort wurden wir in ein Lazarett verfrachtet, wo wir übernachten konnten. Am nächsten Tag mussten wir weiter laufen. Jedenfalls meine Schwester und ich mit dem Kleinsten im Wagen. Wir hatten den Kinderwagen und zwei Handwagen und waren nur zwei Personen. Ich habe eine Schnur genommen und um meinen Bauch und an den Handwagen gewickelt. Den Kinderwagen habe ich geschoben und hinter mir den Leiterwagen gezogen. Meine Schwester kam hinter mir mit dem anderen Leiterwagen her und half mir manchmal schieben.
Dann kamen wir in Löbau an. Dort, wo wir übernachtet haben, trafen wir eine Nachbarin und sie sagte, dass sie meinen Schwager gesehen hätte. Meine Schwester konnte das gar nicht glauben. Sie glaubte, dass er im Gefängnis sei. Man musste den Mund halten, was die Kirche betraf. Er hat das nie befolgt. So hatte man ihn eingesperrt. Man hat ihm nie gesagt, warum er eingesperrt wurde. Er aber sagte: „Ich bin ein Deutscher, ich habe das Recht zu wissen, warum ich verhaftet bin“. Da hat man ihm nur gesagt: „Sie haben zu folgen“. Das ist alles. Sein Meister hat danach die Polizei angerufen und gesagt: „Wenn ihr wollt, dass Deutschland den Krieg gewinnt, dann lassen sie diesen Mann raus. Er hat nichts verbrochen, ich habe viele Jahre mit ihm gearbeitet und er ist ein guter Mann, er hat nichts getan“. Gerade an dem Tag, einem Sonntag, als wir flüchten mussten, kam er zurück. Er wurde nach sechs Wochen Haft entlassen. Wir wussten das aber nicht. Wir haben nicht gewusst, dass er im Gefängnis war. Er kam nach Hause, nach Görlitz, und fand die Wohnung leer. Er wusste nicht, wo wir geblieben sind. Er hatte keine Ahnung.
Meine Freundin ging ins Haus, weil sie dachte, vielleicht sind wir noch zu Hause. Sie wollte uns nur sagen, dass sich alle in der Gemeinde besprochen haben, dass alle Mitglieder gemeinsam mit dem Lastwagen weiter nach Deutschland fahren. Sie war so erstaunt, meinen Schwager zu sehen, weil sie wusste, dass er im Gefängnis war. Sie konnte ihm nur sagen, dass wir flüchten wollten. Aber wohin, wusste sie nicht.
Mein Schwager hat auf der Stelle sein Fahrrad genommen und mit Sachen beladen, die er mitnehmen wollte und fuhr gegen Abend in Richtung Dresden. Er traf den ganzen Treck. Aber er hat sich nicht aufgehalten. Er traf aber eine Nachbarin von meiner Schwester und sie sagte ihm, dass wir mit im Treck sind. Er hat ihr gesagt: „Sagen sie bitte meiner Frau, wenn sie sie sehen, ich gehe nach Löbau und warte dort auf sie“. Das hatten wir an dem Abend erfahren, als wir in Reichenbach ankamen.
Meine Mutter war schon alt. Sie war mit den anderen drei Kindern auf einem Lastwagen und wurde nach Löbau transportiert. Sie brauchte nicht zu laufen und sie wartete auf uns. Löbau ist zwar eine kleinere Stadt, aber nicht so klein, dass man sich leicht finden würde. Wir sind von Lager zu Lager gelaufen und haben gefragt, ob sie nicht meine Mutter gesehen hätten. Wir haben sie dann auch tatsächlich gefunden.
Mein Schwager, der keine Ahnung hatte, wo wir sind, hat uns gefunden. Er sah furchtbar aus. Er hat kaum etwas zu Essen bekommen; er war ganz schmal. Er sagte gleich zu meiner Schwester: „Wir müssen sofort weiter, ich werde gebraucht. Ich habe nur zu meinem Meister gesagt, dass ich meine Familie holen muss, da die Russen vor Görlitz stehen“. Meine Schwester hat noch am Abend alles zusammengepackt und sie sind dann beide weitergefahren. Meine Mutter und ich blieben da.
Zwei, drei Tage zuvor wurde Dresden zerbombt. Was in Dresden geschehen ist, ist nicht mehr gut zu machen. Da waren so viele Flüchtlinge, die vom Osten, Ostpreußen, Pommern und Schlesien kamen. Sie waren in den Eisenbahnzügen und Güterzügen, die alle zerbombt wurden. Man sagte, damals seien 350.000 Menschen innerhalb 24 Stunden umgekommen. [Man weiß nicht genau, wie viele Leute umgekommen sind, aber Schätzungen in den 90ziger Jahren haben die Zahl zwischen 25.000 und 35.000 ergeben.]
So konnten wir nicht nach Dresden. Es gab überhaupt keine Möglichkeit. Wir wollten nach Halberstadt. Man hat uns gesagt, wir müssen auf Umwegen nach Halberstadt gehen. Wir wussten nichts von Dresden. Wir wussten nicht, dass der Zug nur bis zur nächsten Station fuhr, das war Bautzen. So sind wir in Bautzen hängen geblieben.
Dort lernte ich eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern kennen. Das eine Kind war ungefähr acht Jahre alt. Sie kamen aus Breslau. Ihr Mann war gefallen und sie war alleine mit ihren beiden Kindern. Da haben wir uns zusammengeschlossen. Wir haben in einer Schule gewohnt und auf Stroh geschlafen. Es war schrecklich. Es gab keine Möglichkeit zum Wäschewaschen, oder sich selbst zu waschen. Männer, Frauen und Kinder waren zusammen in einem Raum. Es war nicht möglich, sich wenigstens umzuziehen. Aber wir bekamen zu Essen.
Wir haben dann versucht, weiter zu kommen. Eines Tages hieß es, ein Zug geht heute über die Elbe, vielleicht nach Leipzig. Alle, die im Lager waren, sind zum Bahnhof gegangen. Viele Stunden haben wir da in der Kälte gestanden. Endlich war ein Güterwagen da. Alle sind dort rein gegangen, haben sich rein gewurschtelt.
Drei Tage und drei Nächte habe ich nur auf meinen harten Koffern gesessen. Es war gar keine Möglichkeit zu stehen. Meine Mutter hatte auf der Erde gesessen. Wir haben alle zwei Stunden die Türen vom Güterwagen geöffnet. Es war keine Heizung drin, nichts. Keine Toilette, keine Waschgelegenheiten, nichts. Das war ein furchtbarer Zustand. Nur einmal, ein einziges Mal in diesen drei Tagen, gab es was zu Essen. Die Frau mit ihren Kindern hatte nichts mehr zu Essen. Die Kinder weinten. Sie sind schnell mal raus in ein Geschäft gegangen und haben gebettelt. Im Wagen haben sie was zu Essen bekommen. Wir sind immer weiter gefahren, immer weiter, wir konnten ja nichts sehen. Wir wussten nie, wo wir waren. Am Ende der drei Tage haben wir erfahren, dass wir in der Tschechoslowakei waren. Also nicht Leipzig, wohin wir kommen sollten, sondern in die Tschechoslowakei.
Wir wurden in einer tschechischen Schule untergebracht und haben in diesem Gymnasium auf Stroh geschlafen. In einem Restaurant haben wir zu Essen bekommen, zwei Mahlzeiten am Tag. Ich hörte von einer Schwester der Kirche, die mit ihrer Mutter auch in dieser Schule war. Ich habe sie gesucht und auch gefunden. Sie hat sich herzlich gefreut, dass ich sie kannte. Ich hatte Mutter und Schwester gekannt, sie waren keine Mitglieder. Wir haben uns unterhalten.
An meinem 18. Geburtstag (inzwischen bin ich 80) wollten wir zum Essen gehen und meine Tasche ist weg. Ich bin von Platz zu Platz gegangen und habe gefragt und gesucht. In der Tasche hatte ich alle meine Papiere drin. Auch das Geld hatte ich in Verwahrung. Auf einmal kommt die Schwester von dieser Frau und sagt: „Kennen Sie das?“ „Ja, das ist meine Tasche“. „Sie haben sie stehen lassen, als sie Anna besucht haben“. Ich bin ihr um den Hals gefallen und war froh. Und ich habe mich bedankt.
Mit der jungen Frau bin ich zum Amt gegangen und habe dort gesagt: „Ich möchte nicht hier bleiben, ich möchte zurück ins Reich (wie man damals zu Deutschland sagte). Er sagte: „Das ist unmöglich. Es ist alles mit Flüchtlingen überfüllt, sie können da nicht mehr hin“. Ich sagte: „Ich habe dort eine Schwester. Sie wird uns aufnehmen, da bin ich ganz sicher“. „Nein, sie können keine Papiere bekommen“. Zu der Frau sagte ich: „Wir gehen hier nicht weg, wir bleiben hier sitzen, bis wir die Papiere bekommen“. Es waren auch andere Leute da, die dasselbe wollten wie wir. Als sie sahen, was wir machten, sind sie auch nicht weggegangen.
Sie haben uns die Papiere geben müssen und haben noch draufgeschrieben, dass wir von keiner Seite Hilfe erwarten können. Wir müssten alles alleine machen. Wir sind zum Bahnhof gegangen. Der Zug war gar nicht überfüllt. Auch haben wir einen Sitzplatz bekommen und haben unseren schweren Handwagen verfrachtet und drei schwere Koffer. Wir waren ganz alleine, kein Mensch hat uns geholfen – und wir haben es immer geschafft.
Wir reisten weiter über Prag. Da war gerade Alarm und wir mussten in den Keller. Der Keller war so, dass man wie Heringe zusammenstehen musste. Man konnte kaum Luft bekommen. Wenn wir lange da bleiben müssten, würden wir ersticken. Ach, das waren Zustände, es war furchtbar. Wir haben bestimmt zwei Stunden gestanden. Aber wir kamen wieder raus. Jeder hatte dann Angst, dass er sein Zeug nicht wieder finden würde. Die Leute hatten nichts und sie haben gestohlen. Aber wir haben alles gefunden und sind wieder zum Zug gegangen. Wir sind drei Tage und drei Nächte wieder zurück gefahren. Die Personenwagen waren so überfüllt, dass kaum noch ein Mensch reinpasste. Wir haben oftmals nicht gewusst, ob wir alle da waren. An der nächsten Haltestelle mussten alle wieder aussteigen. Da haben wir uns wiedergefunden. Das war zu dieser Zeit wirklich ein großer Segen. Das hätte wirklich alles schief gehen können.
Wir kamen dann schließlich abends in Halberstadt an, wo mein Schwager arbeitete. Ich wusste die Adresse, ich wusste, wo meine Schwester wohnte. Wir kamen gerade an, da war wieder Alarm. Niemand durfte weggehen. Also, aus dem Bahnhof in den Keller. Der ganze Keller war unter Wasser. Wir standen auf der Treppe. Wir konnten gar nicht in den Keller reingehen. Ich war nach drei Tagen so müde. Wir hatten ja nur sitzen und nie schlafen können, gar nichts. Ich war so müde und habe bald nicht mehr stehen können. Als Entwarnung war, konnten wir wieder rauf gehen und haben unseren Leiterwagen genommen.
In der Nacht, drei Uhr morgens, als wir im Auffanglager ankamen, wo unsere ganzen Papiere aufgenommen wurden, konnte ich mich wieder irgendwo hinlegen. Nein, da war Alarm. Die Flugzeuge flogen über Halberstadt nach Berlin und wenn sie zurückkamen, hatten wir wieder Alarm. Wie es dann endlich so weit war, dass wir uns hinlegen konnten, bin ich zeitig aufgestanden.
Am nächsten Tag sagte ich zu Mutti: „Ich gehe in die Stadt“. Ich habe mich durchgefragt und bin mit der Straßenbahn so weit gefahren, wie ich konnte, das Geld hatte ich ja. Ich musste die Straße finden, wo meine Schwester wohnt. Schließlich habe ich das Haus gefunden. Mein Neffe machte die Tür auf und er war sehr erschrocken. Er kannte mich damals noch nicht so lange.
Wir wussten ja nichts voneinander. Ich sagte zu meiner Schwester: „Da ist noch eine Frau, wir haben uns zusammengetan“. Mein Schwager und meine Schwester hatten selber nur zwei Zimmer. Da wurde gekocht, da wurde gegessen und da wurden die Schularbeiten gemacht. In dem anderen und Zimmer stand ein Bett neben dem anderen. Meine Schwester sagte: „Ihr könnt kommen und ich habe auch Platz für die anderen“. Das war für die Mutter fein.
Das war im April 1945 in Halberstadt. Das möchte ich nicht noch einmal durchmachen. Es war furchtbar. Durch den Angriff waren die Fensterrahmen kaputt, alles war kaputt. Wir haben dann Holz gesucht und die Fenster vernagelt. Wir konnten nicht zurück. In unserer Straße war nichts, alles zerbombt. Wir hatten kein Gas, kein Wasser, nichts. Vier Monate lang hatten wir kein Wasser. Wir mussten zwei oder drei Blocks laufen, um Wasser mit Eimern zu holen.
In der Straße war eine Kaserne, dort haben wir Wasserkanister geholt, ungefähr 20 Liter. Dort haben sich alle Kanister geholt. Jeden Morgen sind wir hingefahren. Es stand dort eine Schlange von Menschen und die haben mit dem Leiterwagen vom Wasserhydranten das Wasser geholt. Wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen Wir haben bloß immer Wasser abgeholt, damit meine Schwester Wäsche waschen konnte. Wäsche waschen, Wäsche waschen – wenn ich daran denke!
Die Toilette lief nicht. Wir konnten auch nicht das saubere Wasser zum Toilettespülen nehmen. Da mussten wir das schmutzige Wasser, das wir zum Spülen oder zum Händewaschen hatten, nehmen. Wir haben das schmutzige Wasser in Eimer getan, es stand dann auf dem Klo und damit konnten wir runterspülen.
Die Leute haben ein bisschen Glas gefunden. Mein Schwager brachte einmal Plexiglas mit, also das war kein Glas. Plexi, das war nicht durchsichtig, aber es war hell. Das haben wir an alle Fenster gemacht, damit wir ein bisschen sehen konnten. Es war April und immerhin noch kalt. Aber wir mussten die Fenster weit offen lassen, damit wir etwas sehen konnten.
Mein Neffe war damals 11 Jahre alt. Er war, wie ein Junge in dem Alter war. In der Kaserne gab es so Vieles. Ach, das war eine Freude, für Kirk. Was der alles gefunden hat! Messer brachte er nach Hause und Gabeln. Einmal brachte er eine Feldflasche nach Hause.
Da gab es Seifenpulver, eine ganze Kiste voll. Der Fußboden war vollgeschüttet mit Seifenpulver. Ich bin durch ein kleines Fenster geklettert und habe mich runtergelassen und einen ganzen Eimer voll mit Seifenpulver genommen. Ich habe ihn zu meinem Neffen hochgehalten und er hat ihn rausgezogen. Ich sagte: „Nun musst du mir auch helfen, dass ich wieder rauskomme!“
Die Leute kamen und gaben mir ihre Eimer. Ich sagte: „Nein, nein, ihr könnt selber rein steigen und euch das holen“. Weil es gebrannt hatte, war Einsturzgefahr, und das war gefährlich. Ich dachte mir, das mache ich nicht für andere Leute. Die wollen nicht reinsteigen und ich würde mich in Gefahr begeben.
Einmal gab es Kohlen. In der Kaserne haben sie Kohlen entdeckt. Da bin ich hingegangen. Was ich dort geschleppt habe, das kann ich gar nicht sagen. Nachher sagten mir die Leute: „Du bist ein Mädel. Als junges Mädel sollst du nicht so schwer schleppen, das ist nicht gut, das schadet deiner Gesundheit, das wirst du vielleicht später einmal erfahren“. Ich habe eine Schubkarre, die leer schon so schwer war, mit Kohlen vollgeladen und bin damit nach Hause gefahren. Mein Schwager war froh. Er hatte gleich das untere Fenster zur Seite geschoben und die Kohlen in den Keller geschüttet. Mit den Kohlen konnten wir das Essen kochen. Das habe ich ein paar Mal gemacht.
Die Bäcker haben dann nach und nach angefangen zu backen. Die Leute standen früh um 5 Uhr schon an, damit sie mittags um 12 ein Brot bekamen. Das wurde warm aus dem Ofen geholt. Das bekamen die Leute warm in die Hände. Wir waren froh, dass wir überhaupt etwas bekamen, Milch und alles.
Erst waren Amerikaner für einige Zeit da, dann kam der Engländer. Das waren feine Leute. Sie sahen in der Uniform so adrett aus. Oh, das waren feine, korrekte Menschen. Sie waren für eine Weile da. Dann kamen die Russen. Ach, diese Russen. Mit Pferdewagen kamen sie an und sie hatten alles. Sie haben aber eine Taktik gehabt, das schlechteste Zeug haben sie noch vorne gezeigt, damit man denken sollte, ach, die Russen, die haben ja nichts, die sind ja so dumm. Das waren sie nicht. Als die Russen da waren, durften wir nur eine Stunde am Vormittag und eine Stunde am Nachmittag raus. Nur so konnten wir die Kirche besuchen. Ansonsten mussten wir zu Hause bleiben.
Man hat auch manchmal Hilfeschreie von Frauen gehört. Aber man konnte nicht hingehen, um zu helfen. Die Frauen wurden vergewaltigt. Die Russen haben das oft gemacht. Das haben die Amerikaner und Engländer nicht getan.
Wir haben gehört, dass es Bohnen zu kaufen gab, frische, grüne Bohnen. Wir mussten sehr weit laufen, um welche zu bekommen. Aber wir haben einen ganzen Rucksack voll grünen Bohnen nach Hause geschafft. Wir haben sie dann geschnippelt und überbrüht und haben sie zum Bäcker geschafft, auf Bleche auf den Ofen, und haben sie getrocknet. Wir konnten ja das Ganze, nicht mit einem Mal essen, es wäre bloß schlecht geworden. So haben wir das getrocknet und mit nach Hause genommen. Geschmeckt haben diese getrockneten Bohnen nicht gerade. Aber wir waren froh, denn nach dem Krieg kamen die schweren Zeiten für uns. Als wir zurück nach Görlitz gegangen sind, haben wir nichts gehabt, absolut nichts zu Essen. Wir haben ein ganzes Jahr lang weder Fett, noch Fleisch oder Butter gesehen. Unsere Mägen waren so ausgetrocknet, dass gar nichts mehr funktionierte. Ich kann mich erinnern, dass ich eines Tages wach wurde und nicht sehen konnte, alles war nebelig. Ich ging zum Augenarzt und er sagte mir: „Sie brauchen noch keine Brille, das sind nur die Nerven“.
Ich bin ein paar Mal in der Woche über Land gelaufen und habe versucht, etwas bei den Bauern zu bekommen. Sie haben mir eine Handvoll Kartoffeln gegeben, oder ein paar Mohrrüben oder Kohlrabi, oder irgendein Gemüse. Dafür waren wir sehr dankbar. Ich bin immer mit dem Fahrrad gefahren. Bei der Kartoffelernte haben uns die Bauern vielleicht 10 Pfund Kartoffeln verkauft. Ich bin da ganz alleine gewesen und bin so weit gefahren und habe die Kartoffeln in einen Sack geschüttet und im Straßengraben liegen lassen. Dann bin ich zum nächsten Bauern gegangen und habe wieder einen Sack Kartoffeln geholt. Am Ende hatte ich zwei Säcke Kartoffeln. Was nun machen? So weit von zu Hause weg. Wie sollte ich das machen, wie sollte ich das transportieren? Da habe ich einen Sack, vorne zwischen die Räder und einen Sack auf den Gepäckträger getan und ich bin gelaufen. Anders ging es ja nicht.
Mir kam auf einmal ein Mann entgegengefahren. Als er mich sah, stieg er ab, guckte mich an und sagte: „Was die Frauen in diesen Tagen leisten, das können die Männer nicht“. So hart war das. Manchmal fühlte ich nichts.
Oft hatte ich ein Netz oder eine Tasche an der Hand hängen und ich konnte gar nicht aufsteigen damit, weil es immer hin und her schleuderte. Ich kam immer nachts nach Hause. Spät am Abend und alles im Finstern. Ich hatte auch Angst vor den Russen, weil die so viele vergewaltigt haben.
Die erste Gruppe, die kam, hat viel vergewaltigt. Ich bin nicht vergewaltigt worden. Aber bei unseren Nachbarn war eine alte Frau, die haben sie zuerst genommen. Ich hatte eine Freundin, die kam zu uns und sagte, dass sie von Schlesien mit einem Mädel geflüchtet war. Sieben Kerle seien auf das Mädel losgegangen und haben es vergewaltigt. Sie war total kaputt an Leib und Seele. Auch schwangere Frauen haben sie vergewaltigt. Ich habe gehört, dass eine Frau in einem Hospital gerade entbunden hatte. Die Russen kamen herein und haben diese Frau vergewaltigt.
Ja, das waren die Russen! Aber sie waren gut zu Kindern. Manchmal haben die Eltern die Kinder zu den Russen geschickt. Die haben den Kindern zu Essen gegeben und waren gut zu ihnen. Die Polen kamen und sagten, dass sie auch eine Heimat gehabt haben, ganz Schlesien, und die Deutschen mussten raus. Die Polen waren auch vertrieben worden und mussten Schlesien besiedeln. Sie haben gesagt: „Warum erschießt ihr uns nicht alle?“
Die Polen waren froh, wenn sie einmal über die Neiße kamen. In Görlitz war die Neiße und dort war die Grenze. Sie wussten nicht, dass wir auch nichts hatten. Wir konnten ihnen nichts geben. Sie sind dann weiter transportiert worden. Wie gesagt, in den ersten zwei drei Jahren haben wir nichts weiter zu Essen gehabt. Es war furchtbar, was man da gegessen hat. Für Zwiebelsuppe wurde ein großer Topf Wasser aufgesetzt. Wer Salz hatte, der war schon glücklich. Oder Kartoffelsuppe, wenn wir Kartoffeln hatten. Da wurden drei Kartoffeln gerieben und in das kochende Wasser getan. Das wurde dann eine dickliche, schlierige Suppe.
Die musste flugs gegessen werden, sonst wurde sie wieder dünn. Alles, was wir gegessen hatten, war Wasser, ein dickliches Wasser. Aber man hatte erst mal den Magen gefüllt.
Was die Kleidung betrifft: Dort, wo wir wohnten, um die Ecke, war ein großes Konzentrationslager [Langenstein-Zwieberge]. Diese Leute, wenn sie raus konnten, sind in die Häuser gegangen und haben geplündert. Sie haben die Türen aufgebrochen. Man kann es ihnen gar nicht übel nehmen, die hatten ja nichts und sind so schlecht behandelt worden: Deswegen haben sie bei uns alles rausgeholt.
Wir hatten absolut nichts mehr. Kein Bett, keine Matratze, alles haben sie rausgeholt. Die Schränke eingehauen, Möbel zerhauen. Ach, sah das aus! Als ich nach Hause kam, war ich froh, dass es meine Mutti nicht gesehen hatte. Ich habe eine ganze Woche zugebracht, um aufzuräumen und zu wischen, überall war was hingemacht. Die gingen nicht aufs Klo, die gingen in die Stuben. Schrecklich hat das ausgesehen.
Aber so nach und nach, etwa nach zwei, drei Jahren, konnten wir wieder etwas kaufen.
Mehrere Jahre habe ich nur auf dem Strohsack geschlafen. Mutti hat das Stroh vom Bauern geholt und wir haben einen großen Sack damit gefüllt. Und auf dem Strohsack habe ich geschlafen, bis man etwas kaufen konnte. Das dauerte mehrere Jahre. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich keinen Unterrock mehr hatte. Und es gab absolut nichts. Da hörte ich plötzlich, dort und dort haben sie Ware bekommen und da standen die Menschen an. Jeder hat zugegriffen und hat nicht geschaut, welche Größe, welche Farbe. Jeder hat bloß ein Stück gegriffen und war froh, wenn er etwas bekam. Ich habe einen Unterrock gefunden, der mir viel zu groß war. Aber ich war froh, dass ich einen hatte.
Die Gemeinde wurde wieder aktiv. Ja, die Geschwister kamen wieder. Wir haben in der Gemeinde dann gut zusammengehalten und -gestanden. Später war es nicht mehr so. Aber zu dieser Zeit waren wir alle einig und haben zusammengehalten. Wenn wir konnten, sind wir über Land gegangen und haben von irgendwo etwas zu essen bekommen. Am Fastsonntag haben wir in der Kirche etwas zu Essen gekocht. Eine Suppe für alle. Wir haben alle an einem Tisch gesessen und das war schön. Trotz allem hatten wir auch schöne Zeiten in der Gemeinde. Wir hatten bunte Abende gestaltet. Alles während der schweren Zeit. Und das hat uns aufgemuntert.