Guben, Brandenburg

mormon deutsch gisela schildknechtMein Name ist Gisela Schildknecht, geborene Luskin. Ich bin am 12. April 1924 in Guben Landkreis Spree-Neiße im Land Brandenburg geboren. Mein Vater ist Moisse Luskin und meine Mutter Martha, geborene Fischer. Mein Vater, Moisse Luskin, wurde in Russland geboren als das jüngste von 10 Kindern. Sein Vater war David Luskin und seine Mutter Sofia Buss. Sie lebten in Krupka, im Bezirk Mogilef in der Nähe von Minsk. Ich weiß nicht viel von dieser Zeit, nur dass er Schneider gelernt hatte. Er wurde nach Kiev zum Militärdienst eingezogen und musste 1914 mit der Armee in den Krieg. In Gerdauen in Ostpreußen wurde er gefangen genommen und war bis 1921 im Kriegsgefangenen Lager. Meine Mutter, Martha Fischer, war die Tochter eines Bauern und späteren Eisenbahnschaffers Friedrich Wilhelm Fischer. Ich weiß nur, dass er seinen Bauernhof durch ein Feuer verloren hatte. Ein Blitzschlag während eines heftigen Gewitters war die Ursache des Brandes. Sie verkauften was übrig blieb und zogen nach Guben. Dort arbeitete meine Mutter für einen Rechtsanwalt als Sekretärin.

Mein Mann stammte auch aus derselben Stadt wie ich, aus Guben. Mein Mann hieß Manfred Schildknecht. Wir kannten uns schon als Kinder. Er war Soldat im Krieg und war lange in russischer Gefangenschaft. Als er zurückkam, hat er sich ein Motorrad zusammengebaut und hat uns in Cottbus, wo wir damals nach dem Krieg wohnten, besucht. In Guben gab es keine Gemeinde mehr. Die Stadt war kaputt, völlig zerstört. Er hat uns besucht und wir haben ihn zur Kirche mitgenommen. Ich habe ihm zu Verstehen gegeben, dass ich nur einen Mann heiraten würde, der meines Glaubens ist. Er hat gesagt, dass er sich das alles Mal ansehen kann. Als er wieder nach Hause fuhr, habe ich ihm das Buch Mormon und das Buch Evangeliumslehre mitgegeben. Und er hat alles gründlich studiert. Ich habe ihm dann gesagt, dass es in Kiel eine Gemeinde gebe. Er ist dann nach Kiel gefahren. Nach einer gewissen Zeit hat er gesagt, dass er getauft werden möchte. Er hat mit keinem Missionar gesprochen. Damals musste man erst eine viertel Jahr lang bestimmte Versammlung für Täuflinge besuchen. Das ist ja auch ganz gut. Er wurde dann getauft.

Und dann ging das hier los. Er war der erste Leiter der Gemeinde hier in Neumünster, eine Gemeinde mit acht Mitgliedern. Die Gemeinde ist aber ständig gewachsen. Sie ist ziemlich gut gewachsen und groß geworden. Er hat immer alles getan, was er nur konnte. Er hat in den ganzen Jahren, die wir verheiratet waren, das waren 53 Jahre, niemals gezweifelt. Er war niemals wankelmütig.

Man hatte mir damals gesagt, mich gewarnt: „Du kannst doch nicht einen Mann heiraten, der unheilbar krank ist“. Ich habe gesagt: „Ich kann auch einen gesunden Mann heiraten und der könnte krank werden“. Mein Mann wurde von einem jungen Missionar gesegnet. Dieser Missionar hat ihm verheißen, wenn er seine Kraft einsetzen würde, das Werk des Herrn vorwärts zu bringen, würde er gesund sein. Als er dann eine Arbeit in der Kirche bekam, die Gemeinde leiten durfte, ist er gesund gewesen und ist nie wieder asthmakrank geworden. Asthma ist eine ziemlich schwere und schlimme Krankheit.

Er hat in der Gefangenschaft schlimme Dinge erlebt. Er hat oft davor gestanden, erschossen zu werden. Aber es war der Wille des Herrn, dass er am Leben bleiben sollte. 1948 ist er nach Hause gekommen. Völlig ausgehungert. Einmal hat man ihm gesagt, er sei krank und brauche Luftveränderung, er würde entlassen werden. Dann kam eine russische Ärztin und sie hat gesagt: „Ja, Luftveränderung kannst du bekommen, da kannst du auch in Sibirien haben“. Und er ist nach Sibirien geschickt worden. Von denen, die in einer Gefangenengruppe waren, ist immer die Hälfte gestorben.

Vor meiner Mission hatte ich mit meinem Mann Kontakt gehabt und er hat sich während meiner Mission taufen lassen. Er wurde in Kiel getauft. Ich bin dann ein halbes Jahr auf die Pfarrämter gefahren und habe meine Genealogie, meine Ahnenforschung gemacht. Anschließend haben wir geheiratet. Wenn man heiratete, konnte man mit einer Zuzugsgenehmigung in den Westen gehen, weil mein Mann im Westen, in Neumünster war. In Neumünster haben wir geheiratet

In der Kirche aufgewachsen sind wir nicht. Als ich 18 Jahre alt war, hat uns eine Nachbarin mitgenommen. Wir sind früher schon einmal eingeladen worden und ich weiß noch, dass ich einmal Gedichte in der Kirche aufgesagt habe. Aber dann haben wir es wieder vergessen.

Es war dann doch die Zeit da. Als wir hingingen, haben die Geschwister der Gemeinde Guben für uns gefastet. Dann ist mein Vater gestorben. Das war ein Segen, dass es so gekommen ist. Das war eine kleine, aber ganz wundervolle, ganz hochgeistige Gemeinde. Es war so ein schönes Leben da. Obwohl ich auf meinen ‚Mädchenclub’ verzichten musste am Sonntag, habe ich nie etwas entbehrt. Es war so schön. Es wurden so gute geistige Themen gegeben.

Wir sind am 13. Juni 1942 in Guben in der Neiße getauft worden. Im Krieg.

Mein Bruder wurde kein Soldat, weil er staatenlos war. Wir waren staatenlos. Er hat das immer als einen großen Segen empfunden.

Als ich mit der Firma, Rheinmetall Borsig, bei der ich tätig war, nach Thüringen verlagert wurde und zurückkam, bin ich zuerst nach Cottbus zur Gemeinde gegangen. In Guben war ja alles zerstört. Durch den Krieg wusste ich nicht, wo meine Angehörigen sind. In Cottbus stand ich an einem Tor und an diesem Gittertor war ein Schild „Eigentum US-Amerika“. Eine Schwester, die ich kannte, hat in der Nacht geträumt, sie wird an das Tor gehen und ich werde vor dem Tor stehen. Und genauso ist es passiert. Ich habe erfahren, dass meine Mutter und mein Bruder dort in dem Gemeindehaus sind. Das Gemeindehaus, das früher einmal ein Restaurant war, hatte man von der Regierung zu einem Flüchtlingslager umgebaut. Das war dann gut. Als die ersten Flüchtlinge durchgegangen waren, ist die Gemeinde dort reingegangen. Auch Geschwister aus Schlesien, aus Ostpreußen und auch aus Guben sind dort alle aufgenommen worden. Das waren ungefähr 150 Personen. Der Distriktspräsident, der in dem Gemeindehaus wohnte, hat das auf seine Verantwortung genommen. Die Regierung kam und hat gesagt, dass alle Treppen raus müssten. Die sind aber alle geblieben.

Der Distriktspräsident war Fritz Lehnig. Das war ein ganz wundervoller Mensch. Ein ganz, ganz Großartiger. Er hat viel Gutes getan und hat einen ganz großen Glauben gehabt. Er hat sich um jedes kleine Mädchen gekümmert, er wusste, was jeder in der Woche gemacht hat, er hat sich um alle gekümmert. Er hatte eine Strickerei, er hat feine Wollstrickwaren eingetauscht. Einmal nach Fasten und Beten ist der Distriktspräsident sogar zu dem russischen Kommandanten der Stadt gegangen und hat für die Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Dieses Mal gebrauchte der Herr einen russischen Offizier, um die Mitglieder zu helfen. Er gab Bruder Lehnig Mehl und Zucker und einen ganzen Ochsen zum Schlachten.

Die jungen Männer hatten die Aufgabe mit dem Handwagen durch die Ortschaften zu gehen, die manchmal bis zu 20 Kilometer entfernt waren, um Lebensmittel herein zu bringen, die Bruder Lehnig eingetauscht hatte für eingestrickte wollene Unterkleidung. Er hatte etwas Wolle und eine Strickmaschinen und einige Schwestern, die daraus Unterkleidung fertigten, mit denen er dann Lebensmittel einhandelte. Für Geld gab nichts zu kaufen. Alles nur im Tauschhandel. Etwa 150 Personen mussten essen drei Mal am Tage. Öfters kamen die Schwestern zu ihm und wir haben nur noch Lebensmittel für einen Tag. Um etwas zu sparen, wurde zwei Mal in der Woche gefastet. Jeden Mittwoch und Sonntag gab es nichts zu essen, mit Ausnahme der kleinen Kinder. Es war gut um den Glauben zu stärken. Bruder Lehnig hatte es selbst übernommen mit der Hilfe des Herrn für so Viele Menschen zu sorgen

Meine Mutter und mein Bruder wurden von einer Schwester gebeten, sie doch nicht alleine zulassen, als man hörte, die Front kam näher. Kanonendonner konnte man schon hören. Sie sollten zu ihr in den Keller kommen – und das haben sie gemacht. Sie haben gedacht, eine Nacht und am nächsten Tag könnten sie wieder in ihr Heim zurück von der Arbeit aus. Aber das ging nicht mehr. Am nächsten Tag war alles schon von den Russen besetzt. Sie konnten nicht mehr nach Hause. Sie waren dann 12 Tage im Keller. Es war ganz schwierig. Wasser gab es nur ein paar Straßen weiter an einer kleinen Handpumpe. Meine Mutter ist meistens gegangen. Wenn die Russen jemand gesehen haben, haben sie gleich drauf geschossen. Da musste sie zu anderen Leuten in den Keller gehen.

Dann legten die Soldaten eine Feuerpause von 10 Minuten ein und da mussten alle aus dem Keller raus. Es wurde echtes Frontgebiet. Sie mussten durch die brennende Stadt rauslaufen. Das hat mein Bruder alles ziemlich gut beschrieben, wie er sie dann gefunden hat. Die Gemeinde Cottbus war auch geflüchtet. Später kam sie wieder zurück. Als das Gemeindehaus in ein Flüchtlingslager umgebaut wurde, waren wir ungefähr zwei Jahre da. Das Schild hatte alle Frauen vor Vergewaltigungen geschützt. Da ist kein Russe reingekommen. Man kann sagen, er hat geblufft. Es gehörte nicht Amerika, aber dadurch ist kein Russe reingekommen. Die Frauen waren alle geschützt. Es war ja furchtbar, mit den Vergewaltigungen.

Dann haben wir langsam wieder eine Wohnung gesucht. Wir hatten ja nichts mehr. Meine Mutter hat gesagt: „Was machen wir nun, wenn wir hier aus dem Lager gehen sollen“? Sie ging auf der Straße und eine Frau sprach sie an, ob sie eine Wohnung brauchen würde. Diese Frau hat uns von einer großen Wohnung zwei Zimmer abgegeben und ein Bad. In dem Bad lag über der Badewanne ein Brett mit einem Kocher. In der Wohnung war alles drin, was man brauchte, womit man leben konnte. Ich habe dann Arbeit bekommen und habe für meine Mutter gesorgt.

Mein Bruder hat geheiratet, die Käthe Braun, und acht Tage später ist er auf Mission gegangen. Das macht man heute wahrscheinlich nicht mehr so, wenn jemand gerade geheiratet hat. Aber damals war das möglich. Geld hatte ja sowieso keiner, und es hatte auch keinen Wert, man konnte nichts kaufen. Mein Bruder war zwei Jahre auf Mission. Als er zurückkam, wurde ich auf Mission berufen. Ich war in Leipzig, in Nordhausen und in Erfurt auf Mission. Man konnte nur in der ehemaligen DDR sein. Ich war von November 1950 bis März oder April 1953 auf Mission.

Meine Mutter musste dann umziehen, weil sie keine Arbeit hatte. Wir hatten ein bisschen Geld gespart. Als ich sechs Wochen auf Mission war, bekam meine Mutter eine Arbeit in ihrem Beruf, im Büro. Sie konnte mir jeden Monat 50 Mark schicken. Davon habe ich gelebt. Wie ein Wunder ist alles gegangen.

Ich hatte verschiedene Mitarbeiterinnen. Wir haben das Evangelium verkündet. Wir konnten aber nicht sagen, dass wir von der Kirche kommen, wir konnten nur sagen, dass wir das persönlich weitergeben möchten. Wir durften auch keinen Missionarsbericht ausfüllen. Das ging alles nicht, das war ein bisschen schwierig.

Wir hatten Erfolg. Wir hatten sogar ein ganz wundervolles Erlebnis gehabt: Wir bekamen einen Brief in Leipzig – wir waren für einen Ort, 30 Kilometer von Leipzig entfernt, zuständig. Dazwischen war ein Dorf. Aus diesem Dorf kriegten wir einen Brief, jemand möchte Besuch haben von den Missionaren. Wir sind dahin gefahren. Da saß eine ganze Familie um einen Tisch – und die ganze Familie hat sich taufen lassen. Das war ein ganz wunderschönes Missionarserlebnis. Der Ehemann hatte im Krieg einen Mormonen kennen gelernt. Und er hat die Kirche dann gesucht. So etwas ist natürlich ein Geschenk für Missionare. Er war ein Musiklehrer, er hat Tanzmusik gemacht. Das hat er dann nicht mehr gemacht, am Sonntag Tanzmusik. Es war ein sehr schönes Erlebnis. Den Namen des Dorfes weiß ich nicht mehr, ich hätte mir alles aufschreiben sollen. Die Familie ist in die Gemeinde in Delitzsch gegangen. Aber diese Gemeinde wurde später aufgelöst, weil fast alle Mitglieder in den Westen geflüchtet sind.