Wobesde, Stolp, Pommern
Mein Name ist Jürgen Pawelke. Wir wohnten in Wobesde (heute Objazda in Polen), Landkreis Stolp in Pommern. Wobesde war ein Gutsdorf mit vielen bäuerlichen Wirtschaften. Sie bestand aus dem großen Wobesder Moor am Garder-See, der Ebene in der das Dorf liegt und dem Wobesder Wald. Unser Haus war etwa drei Kilometer von der Ostsee entfernt und wir hatten viel Wald um uns herum.
Mein Vater hieß Paul Pawelke II, denn es gab zwei Paul Pawelke in unserem Ort. Und weil mein Vater der Jüngere davon war hieß er Paul Pawelke II. Meine Mutter hieß Margarete Pawelke, geborene Gatz. Sie ist in einer Bäckerei groß geworden und hat dort auch gearbeitet, bis sie meinen Vater geheiratet hat. Dann haben beide auf seinem Hof gearbeitet. Ich hatte drei Schwestern. Die Älteste hieß Eleonore. Das zweite Kind war ich. Das dritte Kind war meine Schwester Ruth und die jüngste Schwester hieß Birgitte. Wir waren alle jeweils drei Jahre auseinander.
Ich war in der Landwirtschaft tätig, als einziger Junge in der Familie war dies notwendig. Als ich 10 Jahre alt war kam der Zweite Weltkrieg, mein Vater wurde eingezogen, mein Großvater war schon zu alt. So musste ich mit 10 Jahren schwere landwirtschaftliche Arbeiten durchführen, wobei unsere beiden Pferde ein wichtiges Hilfsmittel waren. In Wobesde habe ich auch die Grundschule besucht, acht Jahre lang, und schloss mit der Note „Gut“ ab. Jeden Tag bin ich nach der Schule nach Hause gelaufen, habe den Schultornister in die Ecke gestellt und dann bis abends gearbeitet. Je nachdem wie das Wetter war bis abends 7 oder 8 Uhr, manchmal auch noch länger. Die Schularbeiten wurden spät am Abend gemacht. Gedichte lernte ich unterwegs auf dem Schulweg, da sonst keine Zeit dazu war.
Weil ich der einzige Junge daheim war hatte ich eine große Verantwortung. Die Land-Wirtschaft weckte mein Interesse. Ich war ganz geschickt im Umgang mit Maschinen. Zum Getreide mähen hatten wir eine Mähmaschine (Ablegemaschine), womit ich die ganzen Mäharbeiten durchgeführt habe. Außerdem gab es noch eine Mähmaschine für Gras. Auch den angrenzenden Nachbarn habe ich oft beim Mähen geholfen.
Zwischen meinem 12. und 15. Lebensjahr musste ich mit dem Milchwagen in die nächste Stadt fahren, welche Stolpmuende hieß. Sie war 14 Kilometer von zu Hause entfernt und ich musste diese Fahrten alleine machen. Ich sammelte im ganzen Ort die vollen Milchkannen ein mit dem Milchwagen, das waren ungefähr 120 bis 140 Zwanzig-Liter-Kannen. Auf dem Rückweg brachte ich bestellte Butter oder Buttermilch mit und verteilte sie im Dorf. In dieser Hinsicht hatte mein Vater großes Vertrauen zu mir.
Die Schule war in Wobesde. Wir wohnten auf einem Hof, der mit etwa 25 anderen Gehöften ein Ausbau des Dorfes war und „Alte Mühle“ genannt wurde. Von dort bis zur Schule waren es etwa 2 Kilometer. Man könnte sagen, dass wir ganz idyllisch wohnten. Neben unserem Haus ging zwar ein öffentlicher Weg vorbei, aber vor dem Haus war eine große Wiese und hinter dem Haus gab es Ackerland. Unsere Hühner, Enten und Gänse hatten freien Auslauf, waren also nicht eingesperrt und konnten sich frei bewegen. Unser Acker grenzte ans Haus. Als das Korn größer wurde, hatten wir des Öfteren Besuch von Füchsen, die dann einige unserer Hühner geholt haben, sei es zur eigenen Stärkung oder um ihre Jungen zu füttern.
1929 kamen amerikanische Missionare nach Wobesde. Sie redeten mit den Leuten über das Evangelium. Sie belehrten drei ältere Damen, die sich dann auch taufen ließen. Eine von ihnen war Meta Gennrich, die zweite hieß Marie Kutschke. An den dritten Namen kann ich mich nicht mehr richtig erinnern, aber es könnte Martha Lawerenz gewesen sein. Da die anderen Dorfbewohner sehr gegen die Kirche waren, gab es auch einmal einen großen Artikel in der damaligen Zeitung mit der großen Überschrift „Mormonengefahr“. Diese drei älteren Damen wurden also als große Mormonengefahr dargestellt. Die Bevölkerung war hauptsächlich evangelisch, Katholiken gab es nur vereinzelt.
Zu der Zeit, als ich Kind war, gab es auch einen Pfarrer, der eine gute Einstellung zu unserer Kirche hatte. Er hat nie gehetzt oder so. Die Kinder unserer Kirche gingen auch zum Konfirmandenunterricht, wurden allerdings nicht konfirmiert, waren aber seine besten Schüler. Sie waren durch unsere Kirche sehr gut unterrichtet und wussten meist mehr als die anderen. Zwischen dem Pfarrer und den Kindern seiner Konfirmandenklasse gab es ein gutes Verhältnis.
Meine Mutter hat mir erzählt, dass die Missionare sogar zu ihr in den Stall kamen und sich beim Melken mit ihr über die Kirche unterhalten haben. Sie war der Meinung, dass das Evangelium einfach zu begreifen war. Durch die Missionare bekam sie ein eigenes Zeugnis vom Evangelium und ließ sich dann taufen, ich glaube, dass es 1930 war.
Ich wurde 1929 geboren, war noch in der evangelischen Kirche und an mir wurde die Kindstaufe vollzogen. 1930 wurde ich dann aber in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage als Kind gesegnet und am 6. August 1937 als Achtjähriger getauft. Meine Schwestern wurden auch alle mit acht Jahren getauft. Mein Vater ließ sich zu dieser Zeit nicht taufen. Er war aber damit einverstanden, dass unsere Mutter mit uns zur Kirche ging und auch er selber hat öfter die Versammlungen besucht.
Die Gemeinde bestand später aus 33 eingetragenen Mitgliedern. Die Anwesenheit in der Abendmahls-Versammlung belief sich auf ungefähr 45 Personen, es waren also immer einige Freunde anwesend, manchmal mehr, manchmal weniger. Es waren aber immer über 45 Anwesende. Wobesde hatte ungefähr 800 Einwohner. Marie Kutschke stellte uns ihr Heim im Dorf zur Verfügung, wo wir unsere Versammlungen durchführen konnten. Ihr Mann war zwar kein Mitglied der Kirche, aber er war damit einverstanden, dass wir uns dort versammelten. Die 45 Anwesenden passten gut ins Wohnzimmer, die anderen Zimmer wurden als Klassenzimmer benutzt, wo auch die Kinder eine Primarvereinigung durchführten, an der ich immer teilnahm.
Wenn ich alleine zur Kirche gegangen bin, dann gab es immer ca. 25 bis 30 Kinder, die etwa 150 Meter vorm Dorf anfingen mit den Fingern auf mich zu zeigen und „Mormomenkönig“ zu rufen. Das war mir als Kind natürlich nicht sehr angenehm. Unter der Woche auf dem Schulweg haben sie das nie getan, nur sonntags auf dem Weg zur Kirche.
Mein Vater kam am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Hause. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat er sich 1946 taufen lassen. Er war nie gegen die Kirche. Kurz vor Ende des Weltkrieges war er sehr schwer krank. Er hatte eine Rippenfellentzündung, außerdem noch eine Lungenentzündung. Es war schwer einen Arzt herbei zu holen und es sah so aus, als ob er sterben würde. Da hat meine Mutter ihn gefragt, ob sie Älteste der Kirche holen sollte, die ihm einen Krankensegen geben würden. Er konnte nicht mehr sprechen, nur noch nicken als Zustimmung. So wurden zwei Älteste geholt, die ihn gesegnet haben und innerhalb von 6-8 Wochen wurde er langsam wieder gesund. Nach diesem Erlebnis mit dem Krankensegen sagte er, dass er sich taufen lassen möchte. Aber trotzdem hat er noch ca. drei Jahre gebraucht um sich taufen zu lassen. Er ist treu geblieben bis zu seinem Tod.
Nun hatte ich das Glück, dass ich nicht eingezogen wurde. Mein Vater wurde noch für einige Zeit eingezogen als Soldat, kam dann aber nach Hause um die ganzen Höfe mit zu bearbeiten. Mit dem Essen hatten wir keine Probleme. Aus eigener Ernte hatten wir Kartoffeln und Getreide, wir schlachteten selber; also zu hungern brauchten wir nicht. Das war sehr positiv. Das Trauerspiel begann eigentlich erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Am 9. März 1945 kamen russische Soldaten nach Wobesde. Ich glaube es war ein Freitag. Sie kamen mit dem Pferdewagen vorgefahren und stürmten in unsere Häuser. Erst kamen sie zu meinem Onkel und dann zu uns. Wir mussten unsere Höfe verlassen und die russischen Soldaten haben sich erst mal einquartiert. Nebenan gab es eine Tischlerei, die uns als Quartier diente. Pferde, Kühe und alles andere Vieh wurden uns weggenommen. Das war eine schlimme Zeit.
Ich persönlich ging dann zu einer Familie, die eine Windmühle hatten. Es war eine Bockwindmühle, die per Hand über eine Winde nach dem Wind gedreht werden musste. Während des Krieges arbeitete ein Pole auf dieser Mühle. Dieser verließ beim Eintreffen der russischen Soldaten den Ort. Da der Müller selber alt und krank war und sein Handwerk nicht mehr ausüben konnte, hat er mich dort kurzerhand angelernt. So war ich ca. 18 Monate als Müller dort tätig, habe Mehl sowohl für die Deutschen als auch für die russische Armee gemahlen. Geld gab es dort nicht. Alle waren froh, dass sie etwas zu essen hatten. Die Leute brachten uns ihr Korn zum Mahlen, von dem stets ein kleiner Teil abgenommen wurde für die vielen Flüchtlinge im Ort. Die jungen Mädchen und Frauen mussten wir verstecken, damit sie nicht vergewaltigt wurden.
Alle Familien vom Ausbau, das waren ca. 25 Familien, mussten ihre Höfe verlassen. Nur der Müller und seine Familie durften bleiben. Bei diesem Müller hatten wir ungefähr 30 bis 35 Mädchen und junge Frauen versteckt. Wir mussten ständig aufpassen, dass keine Soldaten in die Nähe der Mühle kamen. Es war eine schlimme Zeit. Ein Mädchen durfte sich alleine nicht frei bewegen, da sonst die Gefahr bestanden hätte, dass die Soldaten über sie herfallen. Wir wurden fast jede Nacht durch russische Soldaten belästigt, die Mädchen suchten. An die älteren Frauen haben sie sich nicht so herangewagt.
Zu den Kirchenversammlungen am Sonntag gingen wir nur in größeren Gruppen, alleine konnte und wollte es niemand wagen. Manchmal kamen russische Soldaten in die Kirche. Einmal sangen wir gerade ein Terzett „Seht den mächtigen Engel fliegen“. Das Wort Engel verstand der russische Soldat. Er nahm seinen Hut ab, denn er wusste, dass er in einer Kirche war. Ohne uns weiter zu stören verließ er uns wieder.
Die Mädchen und jungen Frauen hatten nur selten die Gelegenheit sich zu waschen. Einmal nutzten sie eine gute Gelegenheit, die Russen waren nicht da, gingen zur Tischlerei und wuschen sich. Plötzlich kamen von drei Seiten russische Soldaten. Vor lauter Schreck liefen die Mädchen und Frauen in das angrenzende Kornfeld, wo das Korn schon sehr hoch stand. Mein Onkel, der die Russen kommen sah, sagte zu mir „Komm“ und gab mir eine Mistgabel in die Hand. So stellten wir uns vor die Russen. Diese schauten uns schon sehr misstrauisch an. Eine der Frauen im Kornfeld war neugierig und steckte den Kopf zu weit aus dem Feld heraus. Die Russen sahen sie. Eine andere Frau mit einem sechsjährigen Jungen erkannte die Situation, sagte zu ihrem Sohn „Schrei so laut du kannst“ und der Junge begann zu schreien. So wollte man die Russen von den Frauen ablenken und zu erkennen geben, dass dort Kinder waren.
Mein Onkel hörte die Schreie und sagte dann eindrücklich zu mir „Jürgen komm“. Wir sind dann mit den Mistgabeln in der Hand losgelaufen. Die Russen begannen zu schießen und einige Kugeln sind uns um die Ohren geflogen. Die Russen liefen wutentbrannt hinter uns her. Wir wollten der Frau mit Kind helfen. Also riefen wir sie zu uns und stellten uns vor sie. Die Russen kamen näher, standen dann vor uns und rissen uns die Mistgabeln aus den Händen. Die Aufmerksamkeit war so auf unsere kleine Gruppe konzentriert und die Mädchen und Frauen konnten sich heimlich davonschleichen. Dann haben die Russen meinen Onkel und mich mitgenommen. Kurz vor dem letzten Haus kamen große Kornfelder, die dem Nachbardorf gehörten. Ich sagte zu meinem Onkel, dass wir es da reinschaffen müssen, wenn wir weiterleben wollten, denn die Soldaten hatten vor uns zu erschießen. Plötzlich sagte jemand „Stoi“ (das bedeutet „Halt“) und wir wurden weggeschickt. Das war sicherlich damit zu erklären, dass ein Pferdewagen mit russischen Offizieren auf uns zukam. So sind wir dieses Mal wieder mit dem Leben davon gekommen. Es war nicht die einzige Situation, wo unser Leben auf dem Spiel stand.
Die russischen Soldaten hatten selber viel Leid erfahren. Manche konnten ein bisschen Deutsch und erzählten, wie die Deutschen ihre Eltern erschossen hatten und über ihre Frauen hergefallen waren – also genau so, wie sie es jetzt bei uns hielten. So war es verständlich, dass die Russen uns so sehr hassten. Das alles passierte ca. zwei Monate vor Kriegsende. Wir selbst lebten abgeschieden, durften kein Radio hören, es gab auch keine Zeitung. Wir wussten also nicht, wann der Krieg vorbei war. Das erfuhren wir erst durch die wenigen Polen, die noch im Ort lebten.
Nachdem der Krieg vorbei war kamen die Polen und ergriffen von unseren Grundstücken Besitz, da ihnen das Land von der damaligen „4-Mächte-Regierung“ zugesprochen wurde. Meine ältere Schwester und ich mussten für die Polen auf unserem Hof weiter arbeiten. Meine Eltern und die beiden jüngeren Schwestern durften den Hof nicht betreten.
Von den Polen, die während des Krieges von den Deutschen zum Arbeiten nach Wobesde geholt wurden, bekam einer den Posten des Bürgermeisters. Dieser Mann kannte die Mitglieder unserer Kirche sehr gut und er hatte nichts dagegen, dass wir weiterhin unsere Versammlungen in Privathaushalten abhielten. Da die Mitglieder der Kirche die Polen immer sehr gut behandelt hatten, diesen auch Zuwendungen zuteil werden ließen, brauchten wir keine Angst vor ihnen haben und konnten unseren Glauben frei ausüben. Ich weiß nicht mehr genau wie hoch die Mitgliederzahl war, aber unsere Anwesenheit lag so zwischen 80 und 90 Personen. Und ich glaube, davon wurden mindestens 30 Personen getauft. Später bekamen wir Räume im Schloss, wo wir unsere Versammlungen abhalten konnten. Die ersten Monate nach Kriegsende gab es keinen Pastor im Ort, so haben wir von unserer Kirche aus alle Beerdigungen durchgeführt. Ich selber musste als junger Mann schon Grabsegnungen durchführen. Der Pastor vom Nachbarort sah sich das eine Weile an, dann übernahm er diese Pflicht, um die eigenen Reihen zu stärken und aufzubauen.
Nach zwei Jahren ging es los, dass einige Familien durch die polnischen Behörden ausgewiesen wurden. Manchmal kam sogar die Polizei. In 10 Minuten mussten die Leute dann ihr Haus verlassen. Wer nichts gepackt hatte, musste so gehen, wie er war. Meine Familie und ich hatten schon ein paar Habseligkeiten in einen Rucksack gepackt und wir hatten das Glück, dass der polnische Bürgermeister am Abend zu uns kam und sagte, dass wir am nächsten Morgen um 6 Uhr den Ort verlassen müssten. Der neue Besitzer unseres Hofes sollte uns dann nach Stolp bringen, das etwa 24 Kilometer entfernt war. In Stolp mussten sich alle Vertriebenen sammeln. Dann wurden wir in Viehwaggons eingeladen und auf die Reise ins Ungewisse geschickt. Das war der 27. Juli 1947, mein 18. Geburtstag. Wir mussten also unsere Heimat an meinem 18. Geburtstag verlassen. Mein Onkel mit Familie kam mit uns. Aus unserem Dorf waren wir die einzigen Vertriebenen. Als wir den Ort verlassen mussten, war das ganze Dorf zusammengelaufen, um uns unter Tränen zu verabschieden. Da alle im Dorf wussten, dass sie vertrieben werden sollten, wären sie am liebsten gleich mit uns mitgefahren, um dem Ungewissen ein Ende zu bereiten und einen Neuanfang zu starten.
Wir mussten 14 Tage in Stolp auf unseren Abtransport warten. Der Güterzug war sehr lang, in jedem Viehwagen hatten ca. 30 Leute Platz. Auf dem Boden lag Stroh. Wir waren etwa drei Tage und Nächte unterwegs. Jeder Halt wurde genutzt um die Notdurft zu verrichten.
Da russische Soldaten Teile des Schienennetzes herausgenommen hatten, sind wir über Breslau zurück nach Polen gefahren, um von dort nach Forst zu gelangen. Das war sozusagen unser erster Kontakt mit deutschem Boden – die sowjetische Besatzungszone. Von dort aus ging es weiter nach Annaburg bei Torgau, wo wir für 14 Tage ins Quarantänelager kamen. Morgens gab es eine Scheibe Brot, mittags einen Teller Suppe und abends wieder eine Scheibe Brot, mehr nicht. Ich, als junger Mann, war für die 36 Personen in unserem Zimmer verantwortlich. Vor Entkräftung konnte ich kaum noch stehen, trotzdem musste ich unser Brot in Empfang nehmen und unter den Leuten verteilen. Meine Mutter hatte eines Tages die Idee, dass ich doch anderen Leuten die Haare schneiden könnte, da ich das vorher schon des Öfteren getan hatte. So würde ich vielleicht auch auf andere Gedanken kommen. Das habe ich dann auch getan, solange ich noch stehen konnte. Manch einer hat mir dafür auch eine halbe Scheibe Brot gegeben.
Nach zwei Wochen wurden wir dann verschiedenen Orten zugewiesen. Meine Familie und ich kamen nach Dommitzsch und wurden von da aus noch einmal auf die umliegenden Dörfer verteilt. Mein Onkel mit Familie blieb die ganze Zeit bei uns, ein glücklicher Umstand bei der Verteilung der Vertriebenen. So kamen unsere beiden Familien gegen 22 Uhr in Falkenberg (Kreis Torgau) an. Dort wütete gerade ein verheerender Waldbrand, was für eine Begrüßung! Meine älteste Schwester kam auf einen anderen Hof wie meine Eltern und meine beiden jüngeren Schwestern. Ich wurde alleine auf einen dritten Hof geschickt. Der alte Bauer, bei dem ich war, klopfte am nächsten Tag eine Sense (die Sense wurde geschärft) und ich schaute interessiert zu. Ich fragte, ob er Gras mähen wolle. Er bejahte dieses und sagte, dass es am nächsten Morgen losgehen solle. Ich bot ihm Hilfe an beim Klopfen und Mähen. So sind wir am nächsten Morgen früh raus. Der Bauer mähte vor, ich war immer direkt hinter ihm, da ich das Mähen beherrschte. Ich war also mit der Sense immer kurz hinter dem Absatz des Bauern, so dass er später sagte, dass ich mein Handwerk verstehen würde. Da bot mir die Bauersfrau an, dass ich bei ihnen mitarbeiten sollte und mit Essen bezahlt werden würde. Das Angebot nahm ich an, mir blieb ja eigentlich auch keine andere Wahl. Also arbeitete ich fürs Essen. Das ging zwei Monate so. Der Sohn des Bauern hatte nebenbei ein Fahrradgeschäft und nach zwei Monaten Arbeiten fürs Essen gab er mir 40 Mark im Monat für meine gute Arbeit.
Nach etwa zwei Jahren kam ein Bruder aus der Gemeinde Leipzig zu mir, Bruder Winter. Er hat sich mit mir unterhalten und ich wusste nicht so recht weshalb. Einige Tage später kam dann ein Schreiben aus Berlin, dass ich auf Mission gehen sollte. Das war im März 1949. Ein paar Tage später fuhr ich nach Berlin, wurde von Walter Stover als Missionar eingesetzt und fuhr wieder zurück. Am ersten April trat ich dann meine Mission an. Mit einem alten Koffer und einem Pappkarton mit einigen alten Kleidungsstücken und meinen Heiligen Schriften kam ich in mein erstes Arbeitsfeld Berlin, wo ich 14 Tage auf meinen Mitarbeiter Erich Gützlaf warten musste, mit dem ich dann nach Potsdam ging. Wir hatten mehrere Gemeinden zu betreuen. Dazu gehörte Leest. Mein Mitarbeiter Erich Gützlaf war ein guter Redner, manchmal recht streng und etwas eigenwillig, aber für mich immer ein Vorbild. Er hat mich stets gestärkt und mir viel mitgegeben für den Rest meiner Mission. Als guter Redner musste er in unserer ersten gemeinsamen Abendmahlsversammlung als Erster sprechen. Und dann kam ich. Ich sagte, dass ich nicht gut reden könne, stotterte ein wenig vor Aufregung und die Leute machten große Augen.
Während unserer Missionszeit in Potsdam mit Wohnung in Babelsberg wurde das erste Gemeindeheim in Berlin Dahlem gebaut. Ich wurde vom Missionspräsidenten dorthin berufen, um für vier Wochen beim Bau zu helfen. Der vorherige Missionspräsident, der im Missionsheim tätig war zu dieser Zeit, gab mir Kleidung inklusive Schuhe zum Arbeiten (amerikanische hohe Militärstiefel). Die Stiefel habe ich dann später den ganzen Winter übergetragen.
In Babelsberg wohnten mein Mitarbeiter und ich bei einer alten Schwester, die mir eine kleine Ledertasche schenkte, wo ich meine Kirchenbücher reinlegen konnte. Das war dann meine Aktentasche mit der ich täglich unterwegs war. Dann kam die Zeit der zweiten Ansprache. Ich arbeitete sorgfältig eine Ansprache aus mit dem Thema „Gott der Vater, der Sohn Jesus Christus und der Heilige Geist“. Wie bereits erwähnt waren wir ja in verschiedenen Gemeinden als Missionare tätig. So kam es, dass ich diese Ansprache wieder in Leest geben musste. Diesmal klappte aber alles sehr gut, die Ansprache „ging mir von der Zunge“. Die Mitglieder in Leest gingen nach der Versammlung zu meinem Mitarbeiter und fragten ihn, was er denn mit mir gemacht hätte, dass ich jetzt so gut reden könnte. Das war ein Ansporn für mich und ich hielt dieselbe Ansprache noch in vier anderen Gemeinden. Seither hatte ich keine Probleme mehr, Ansprachen zu geben.
Dann kam meine Versetzung nach Auerbach im Vogtland. Ich fuhr zuerst nach Zwickau, wo unser damaliger Distriktspräsident Bruder Fassmann wohnte. Ich ging zu ihm und wir unterhielten uns. Auerbach lag in einem Sperrbezirk und man brauchte einen Ausweis mit zwei roten Genehmigungsstempeln, den ich natürlich nicht hatte. Bruder Fassmann gab mir den Rat, mich am nächsten Morgen am Fahrkartenschalter erst einmal gründlich umzusehen, ob dort Leute in Ledermantel oder Lederjacken zu sehen waren, die Zeitung lasen. So sahen nämlich Spitzel vom Staatssicherheitsdienst (Stasi) aus. Wenn auf dem Bahnhof solche Leute stehen würden, dann sollte ich auf dem Absatz kehrt machen und den Bahnhof verlassen. Als ich dann am nächsten Morgen eine Fahrkarte kaufen wollte, war ich so aufgeregt, dass ich entweder keinen dieser Spitzel sah oder tatsächlich keiner dort war. So kaufte ich eine Fahrkarte nach Auerbach im Vogtland. Zum Glück hatte ich auch während der ganzen Fahrt über keine Kontrollen und kam wohlbehalten in unserer Wohnung in Rodewich bei Auerbach an.
Mein zukünftiger Mitarbeiter wusste nicht, dass ich kommen würde, da er schon einige Zeit allein dort tätig war. Ich habe mich zu unserer Wohnung durchgefragt und meinen Mitarbeiter gefunden. Wir gingen noch am selben Tag zum Arbeitsamt und zur Polizei zum Anmelden. Dort bekam ich meine zwei roten Stempel zum freien Bewegen im Sperrgebiet. Nach etwa zehn Monaten kamen die Behörden auf mich zu und gaben mir zu verstehen, dass ich bei längerem Verbleib in Auerbach ins Bergwerk gehen müsste zum Arbeiten. Das erwähnte ich bei unserer Missionarsversammlung in Berlin und Präsident Stover kam meinem Gesuch nach Versetzung nach. Ein paar Tage später bekam ich einen Brief, ich sollte nach Halle versetzt werden. Einen Tag später erhielt ich erneut einen Brief, diesmal mit der Versetzung nach Gotha in Thüringen und nicht nach Halle. Am nächsten Tag erhielt ich dann ein Telegramm „Nicht nach Halle, nicht nach Gotha, sondern nach Halberstadt“. Ich hatte keine Ahnung wo Halberstadt lag und wie es dort war. Alle anderen Missionare haben mich bedauert, dass ich nach Halberstadt gehen musste. Ich war sehr erschüttert, als ich erfuhr, dass Halberstadt zu 82% durch einen Bombenangriff zerstört worden war. Es war dann auch sehr unheimlich dort, überall Trümmerfelder, alles war zerstört oder stark beschädigt. Hier stand ich nun alleine, ohne Mitarbeiter, ohne alles für 14 Tage. Dann kam mein Mitarbeiter.
Am ersten Abend in Halberstadt besuchte ich den damaligen Gemeindepräsidenten Bruder Rudolf Pöcker. Dieser bekam am selben Abend noch Besuch vom Missionspräsidenten Walter Stover. Am nächsten Tag wurde Bruder Pöcker von der Polizei abgeholt und für ca. drei Monate in Untersuchungshaft genommen, weil er westlichen Besuch empfangen hatte. Da stand ich nun, ohne Mitarbeiter, mit der Angst, auch eingesperrt zu werden. Bruder Pöcker hatte in den drei Monaten Haft nicht eine Verhandlung. Einen Tag nach der Verhaftung kam ein Missionar zu Besuch, der gleichzeitig der Distriktspräsident war (Walter Kindt) und wir hatten einen Plan. Ich konnte ein wenig Ziehharmonika spielen, borgte mir eine von einer Schwester und Bruder Kindt und ich kundschafteten aus, wo Bruder Pöcker eingesperrt war. Er war in einer Villa dicht am Bahnhof im Keller untergebracht. Abends, als kaum noch Betrieb auf der Straße herrschte, gingen wir zweimal zügig an dieser Villa vorbei und ich spielte dabei einige Kirchenlieder. Nach einigen Tagen wurde Bruder Pöcker ins Untersuchungsgefängnis gesteckt, dort gingen wir dann „Tu was ist recht“ -pfeifend mehrmals hin und her. Als Antwort, dass er uns hören konnte, schwenkte er sein weißes Taschentuch vor den Gitterstäben hin und her. Da wussten wir genau, wo er war. Als er nach einem Vierteljahr plötzlich entlassen wurde, ging er sofort zum Bahnhof und fuhr nach Westberlin, wohin ihm seine Frau mit den Kindern 14 Tage später folgte. Weg waren sie.
Kurze Zeit später zogen wir nach Aschersleben. Dort war ich als Gemeindepräsident tätig. Es gab ungefähr 60 Anwesende in der Versammlung. Im Tätigkeitsfeld Halberstadt waren es 25 bis 30 Anwesende und mein Mitarbeiter leitete die Gemeinde Halberstadt. Nach 30 Monaten Missionszeit wollte ich nicht wieder in das Dorf zurück, in dem meine Eltern wohnten, sondern ich wollte gern in Halberstadt bleiben. Ich bekam zur Antwort, dass ich, wenn ich in Halberstadt bleiben würde, die Gemeinde leiten sollte. Als Missionar hatte ich dort eine junge Frau getroffen, die ich nach meiner Missionszeit besser kennen lernen wollte. So blieb ich also, wurde Gemeindepräsident am Tag meiner Entlassung als Missionar und heiratet am 26. Juli 1952 die eben erwähnte junge Frau.
Nie hätte ich gedacht, dass ich 42 Jahre lang für die Gemeinde verantwortlich sein würde, etwas mehr als 36 Jahre lang davon war ich Gemeindepräsident in Halberstadt, etwa 6 Jahre Gruppenleiter. Zur Zeit der großen Auswanderungswelle standen meine Frau und ich im Jahre 1958 mit gepackten Koffern in West-Berlin am Bahnsteig, wohin wir uns heimlich durchgeschlagen hatten. Wir waren auf dem Weg nach Amerika wie viele unserer Freunde. Eine Arbeit und zugesicherte Unterstützung dort hatten wir schon. Auf dem Bahnsteig schaute ich meiner Frau in die Augen und fragte sie, was denn nun mit der Gemeinde in Halberstadt passieren würde, wenn wir wirklich auswandern würden. Daraufhin kehrten wir schweren Herzens zurück nach Halberstadt, weil wir nicht wollten, dass die Gemeinde dort geschlossen werden musste.
Dann kam die Zeit, in der es West-Deutschland und die DDR gab. Halberstadt gehörte zur DDR. In diesen 40 Jahren war es nicht leicht eine Gemeinde zu leiten. Kirchenliteratur durften wir nicht besitzen. Wir hatten nur die Bibel, das Buch Mormon, Lehre und Bündnisse und die Köstliche Perle. Mehr gab es nicht. Zeitweise haben wir uns heimlich Unterlagen besorgt, Leitfäden mit der Schreibmaschine abgeschrieben und vervielfältigt, alles auf eigene Gefahr. Wer dabei erwischt wurde, musste mit Konsequenzen rechnen. Ein Thema durfte also nicht mithilfe des Leitfadens in der Versammlung gegeben werden, das war streng untersagt. Man musste sich zu Hause gut vorbereiten. Meine Aufgabe als Gemeindepräsident war es auch, alle Versammlungen polizeilich zu melden; also alle Sprecher, die Themen der Ansprachen usw. Es war auch strengstens untersagt, politische Äußerungen zu machen in den Versammlungen. Das alles gelang uns recht gut.
Zu meiner persönlichen Entwicklung sei noch erwähnt, dass ich nach meiner Mission den Beruf eines Heizungsbauers und Heizungsmonteurs erlernt und ausgeübt habe. Gearbeitet habe ich im Halberstädter Fleisch –und Wurstwarenwerk, später in einer PGH (Produktionsgenossenschaft des Handwerks). Dort hatte ich zeitweise auch leitende Stellungen inne.
Ich habe nie verheimlicht, dass ich ein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bin, die Gemeinde in Halberstadt leitete und das war nie ein Nachteil für mich. Normalerweise mussten Leute in leitenden Positionen in die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) eintreten. Auch bei mir unternahm man mehrmals den Versuch der Überzeugung, in diese Partei einzutreten, da ich aber immer offen und ehrlich meine religiöse Einstellung dargelegt habe, gab man nach einer bestimmten Zeit diese Versuche auf. So überlebte die Gemeinde Halberstadt 40 Jahre DDR und existiert auch heute noch. Mittlerweile ist mein Sohn Lothar Pawelke dort Zweigpräsiddent.
Ich war immer neugierig, ob’s Wobesde noch gibt und wie es vielleicht auf polnisch heisst. Das habe ich nun durch Jürgen Pawelkes Schreiben erfahren.
Meine Grosseltern waren Wilhelm & Adelheid Kutscher. Sie hatten 6 Kinder. Meine Mutter war die Aelteste, heiratete meinen Vater und danach zogen nach Italien, kamen aber 1943 zurück nach Deutschland. Im Sommer 1943 besuchten wir Wobesde bis mein Vater für uns eine Wohnung in Marburg/Lahn fand. Wir waren damals 4 Kinder. Ich ging in die Wobesde Dorfschule und lernte dort Ruth Pawelke kennen und zum ersten eine Begegnung mit einer Mormonin. Ich bin Jahrgang 1933 und Ruth m.E. auch. Jetzt sind bald 80 Jahre alt und keine „Spring chickens“ mehr wie man hier sagt. (Keine jungen Hühner.) Ich habe immer mal wieder an Wobesde gedacht, es war ein schoener Sommer.
1954 heiratete ich einen Amerikaner und lebe jetzt mit ihm in einem Seniorenheim in Muskegon, Michigan, 5 Auto Minuten zum Michigan See, der dieselben Dünen hat wie die Ostsee. Als meine Mutter uns zum ersten Mal besuchte, kamen ihr die Tränen, als ich ihr unseren herrlichen Strand zeigte. Sie sagte „wie zuhause.“ Wir haben 3 erwachsene Kinder, 6 Enkel. Ich habe in USA Wurzeln geschlagen, aber meine Muttersprache habe ich nicht verloren.
Na, und dieses Jahr haben wir Praesidentswahlen und der Republikaner ist ein Mormone. Es geht dieses Mal um die Wurst. Mitt Romneys Vater war ein Oberpraesident von Michigan.
Grüsse auf Michigan,
Inge Boelkins
[email protected]
Sehr geehrter Herr Pawelke,
mit grossem Interesse habe ich Ihre Erinnerungen gelesen; ich wohne in dem benachbarten Dorf Gambin und freue mich sehr daruber, dass ich erfahren hatte, wie der Alltag in Wobesde aussah… Danke Ihnen herzlich dafur!!!
Sehr geehrter Herr Pawelke,
ich versuche gerade etwas über meine Familiengeschichte herauszufinden. Ich heiße Anja Pawelke, mein Opa (Erwin Pawelke) kommt aus dem heutigen Polen. Ich lese gerade Feldpost von seinem Cousin Fritz Pawelke (Elter: Ewald und Pauline Pawelke), welcher im 2.Weltkrieg gestorben ist. Meine Familie stammt auch von Landkreis Stolp. Sagen Ihnen die Namen etwas? Kannten Sie eventuelle sogar Ewald oder Pauline Pawelke?
Für Ihre Antwort vielen Dank im Voraus.
Mit freundlichen Grüßen
A.Pawelke
Hallo, meine Mutter ist die Irene Kutschke.Sie hatte eine Cousine Anna Pawelke.Habe ihre Geschichte mit Spannung gelesen.Kutschkenhof mit dem Kutschkenbock, sagt ihnen das etwas? Ich würde gerne mehr erfahren.MfG G.Kothen geb.Labs. Mein Vater Theodor hat am 27.1.1942 meine Mutter Irene Kutschke geheiratet.