Leipzig, Sachsen

mormon deutsch anna dom marie schienagelIch bin Anna Dom Marie Schienagel, geborene Fritzsche. Ich wurde am 29. Oktober 1935 in Leipzig/Sachsen geboren. Meine Mutter war Anna Dom Wilhelmine Therese geborene Geneist. Sie war eine gute, fröhliche Mutter. Sie war ausgebildete Krankenschwester und hatte im Ersten Weltkrieg Dienst in den Lazaretten geleistet Mein Vater hieß Werner Richard Coelestin Fritzsche. Er arbeitete damals als technischer Direktor bei einem Elektrizitätswerk in Leipzig. Ich war die Jüngste von 4 Geschwistern: Kurt-Heinz, Joachim, Barbara und ich.

An die Zeit, die wir in Leipzig wohnten, erinnere ich mich kaum noch, denn ich war gerade eben dem Babyalter entwachsen, als wir nach Zwickau in Sachsen umsiedelten, wo mein Vater eine Direktorenstelle im dortigen Elektrizitätswerk antrat. Wir wohnten nun im Hochparterre einer 6-Zimmer-Wohnung in einem schönen großen Haus mit einem großen Garten und einer großen Terrasse, auf der ein Kaninchenstall mit vielen kleinen und großen Kaninchen stand. Das wurde mein Lieblingsplatz. Ich kraulte die Kaninchen und unterhielt mich mit ihnen. Danach rangierte der Garten mit den schönen Blumen und danach meine Puppen. Die waren wie meine Kinder: Wenn mir kalt war, zog ich sie ganz wann an und deckte sie zu; wenn mir warm war, wurden sie wieder entblättert. Aber da ich eher ein Kind war, das öfter mal fror, blieben sie meistens gut eingepackt.

Mein Vater hatte damals schon ein Auto, und wir machten manche nette Spazierfahrt. Meine Eltern verstanden sich sehr gut. Sie machten viel Gemeinsames. Mutti hatte meist zwei Mädchen zur Hilfe – eins, das sich um uns Kinder kümmerte (besonders, wenn meine Eltern manchmal beide unterwegs waren) und eins für den Haushalt. Mutti war aber deshalb keine faule Frau, im Gegenteil: sie war ein sehr aktiver Mensch. Ich weiß eigentlich nicht, weshalb sie diese Mädchen brauchte. Meine Mutter hatte eine besondere Gabe: Als mein Vater im Elektrizitätswerk einmal in Gefahr war (durch Strom) sah sie dieses in Form eines Blitzes.

Da meine Geschwister wesentlich älter waren als ich, beschäftigte ich mich viel – und ich muss auch sagen „gerne“ – allein.

Als ich etwa vier Jahre alt war, kam der Krieg. Mein Vater, der schon den ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, musste an die Front. Er hob mich beim Abschied auf sein riesiges Pferd, und ich war sehr stolz, aber auch ein bisschen ängstlich. Wir vermissten ihn sehr, und er bekam ganz selten mal einen kurzen Fronturlaub. Ich erinnere mich, dass wir, als er einmal zu Hause war, alle Hand in Hand mit ihm um einen großen Teich gingen, der ganz in unserer Nähe lag. Wir Kinder mit dem Vater: es war wunderbar.

Meine Mutter war sehr tapfer. Sie ließ sich nie ‚anmerken, dass sie nun allein die ganze Verantwortung tragen musste. Sie zeigte uns immer ihre liebe und fröhliche Seite. Der Krieg war da, und es wurde allmählich alles knapp – angefangen beim Gapapier – (wir benutzten jetzt statt dessen alte kleingeschnittene Zeitungen für diesen Zweck) bis hin zu allen möglichen Nahrungsmitteln, die es plötzlich nicht mehr gab, und Strümpfen und warmer Kleidung, Milch usw.

Als ich etwa 5 oder 6 Jahre alt war, bekam meine Schwester Scharlach und musste ins Krankenhaus. Wir konnten sie, wenn wir sie besuchten, nur durch ein Fenster sehen wegen der Ansteckungsgefahr. Sie hatte es aber bald gut überstanden und durfte wieder nach Hause. Kurze Zeit später bekam ich Scharlach und dazu auch noch die Masern. Und da Krieg war und es nur wenige Medikamente und Hilfsmittel gab, sah es wohl ziemlich schlimm aus mit mir. Meine Mutter behandelte uns sonst meist mit Homöopathie. Sitzbädern. Umschlägen usw. Aber hier brauchte man wohl etwas Stärkeres.

Ich sehe mich noch in meinem Bett im Kinderschlafzimmer liegen. Die Tür zum Kinderzimmer war aufgesperrt, und auf der anderen Seite der Tür saß mein ältester Bruder Kurt-Heinz und weinte bitterlich. Ich fragte ihn immerzu: „Warum weinst’n du?“ Aber er wollte es mir nicht sagen. Es ging anscheinend um mich. Ich hatte viel phantasiert und auch ein paar Bemerkungen von mir gegeben, wie: „Ich höre immer die Glocken läuten.“ oder: „Ich höre die Engel singen.“ Und nun dachten alle, dass ich sterben würde. Aber unser guter Hausarzt kam und hatte irgendwo eine Arznei aufgegabelt. Irgendwann war die Krise überwunden, und ich fing an, allmählich wieder gesund zu werden. Der gute Doktor kam jeden Tag vorbei, machte Späße mit mir und brachte mir sogar ab und zu Schokolade mit, die eigentlich nirgends mehr aufzutreiben war. Als ich wieder aufstehen durfte, musste ich erst wieder das Laufen lernen. Und ich bin dann auch erst mit sieben Jahren in die Schule gekommen. Der Krieg war noch lange nicht zu ende, als ich anfing das ABC zu lernen.

Im Frühjahr 1944 wurde mein ältester Bruder, Kurt Heinz, eingezogen und kam an die Front. Er war gerade 18 Jahre alt geworden. Auch mein jüngerer Bruder wurde eingezogen. Er kam zur Luftwaffe (Bomberabwehr).

Meine Mutter hat in dieser Zeit vielen Menschen geholfen mit allem, was wir noch hatten. Denn alles war durch den Krieg knapp geworden. Viele Menschen hatten auch durch Bomben oder durch Vertreibung ihr Zuhause verloren, und meine Mutter nahm mehrere von ihnen bei uns auf, so dass wir selbst nun auf sehr engem Raum leben mussten.

Etwa ein halbes Jahr vor Kriegsende erhielten wir die Nachricht, dass mein ältester Bruder, Kurt-Heinz schwer verwundet sei. Er befand sich sehr weit weg von uns, in einem Lazarett, und meine Mutter konnte nichts für ihn tun. Er bekam ein Bein amputiert und ist dann an den Folgen der Verwundung gestorben. In dem Moment, wo er starb, hörte meine Mutter ihn laut „Mutti“ rufen, und sie wusste sofort, was passiert war.

Als der Krieg zu Ende war, kam mein jüngerer Bruder von der Luftwaffe zurück. Mein Vater blieb noch in englischer Kriegsgefangenschaft und wurde dann nach Gütersloh in Westfalen entlassen. Er konnte nicht nach Hause zu uns kommen, weil unser Gebiet von den Russen besetzt war, und weil die Russen alle Offiziere sofort gefangen nahmen und abtransportierten.

Direkt nach dem Kriegsende kamen zuerst die Amerikaner zu uns nach Zwickau. Sie haben uns Kinder mit Kaugummi und Schokolade beschenkt, und wir sind alle hinter ihnen hergelaufen. Und dann kamen die Russen. Die brauchten unser Haus und noch einige danebenstehende Häuser, um dort ihre Kommandantur aufzuschlagen. So mussten wir ganz schnell unsere wichtigsten Sachen zusammenpacken und wurden zusammen mit noch anderen Nachbarn in eine große Villa mit riesigem Garten nicht weit von unserem Haus eingewiesen. Wir bewohnten von nun an zusammen mit einer anderen Familie die sehr große und schöne Parterre-Wohnung dieses Hauses.

In dieser Zeit waren Lebensmittel sehr knapp und kaum zu haben. Zum Glück hatte meine Mutter noch eine ganze Menge Schmuck und Silberbestecke. Sie ging damit zu den Bauern aufs Land und tauschte diese Sachen nach und nach gegen Lebensmittel ein. Außerdem gingen wir alle im Herbst Ähren lesen und Kartoffeln stoppeln. Und doch war es irgendwann einmal so weit, dass wir nur noch Kartoffelschalen hatten, die wir uns, feingemahlen mit etwas Wasser vermischt, auf der bloßen Herdplatte backten. Danach wussten wir nicht mehr weiter, aber es tat sich ein anderes Fenster auf: Auf dem großen Hinterhof der Villa war ein langes Wirtschaftsgebäude. Darin bereiteten Russen große Mahlzeiten fair ihre Kameraden. Nun war da ein Russe mit einem Bart dabei, der hatte uns Kinder wohl öfter gesehen und gemerkt, dass wir Hunger hatten. Er versteckte von da an öfter irgendwelche Reste, die vom Essen übriggeblieben waren, in einem Gebüsch an der Villa, wo wir sie dann immer suchten und fanden. Manchmal kamen auch große Lastwagen mit Lebensmitteln auf den Hof gefahren, und ab und zu wurde beim Abladen etwas verschüttet: Reis oder Zucker oder Mehl. Dann rannten wir Hausbewohner alle, mit Schaufeln und Schüsseln bewaffnet, raus und retteten das kostbare Gut.

Mein Bruder Jochen hatte, nachdem er von der Luftwaffe kam, eine Ausbildung zum Gärtner angefangen. Als er nun Einiges gelernt hatte, fing er an, einen Teil des riesigen Grundstücks für uns als Garten umzugraben und zu bepflanzen. So konnte manches heranwachsen, was uns vor dem Hunger bewahrte. Natürlich mussten wir auch sehr aufpassen, dass es nicht geklaut wurde. Einmal, gerade einen Tag vor Weihnachten, hatte sich im Frühbeetkasten ein Kaninchen gefangen, und der Jochen hat es uns als Weihnachtsbraten beschert. Das war ein Fest! Mein Bruder hatte schon in seinen jungen Jahren ein großes Verantwortungsgefühl für seine Familie.

Damals versuchten schon viele Menschen, unbemerkt (d. h. schwarz) über die Grenze in den Westen zu gelangen. Ich war damals ungefähr neun Jahre alt und sehr unterernährt, und meine Mutter kannte eine Frau, die demnächst über die Grenze in den Westen zu ihrem Mann gehen wollte. Meine Mutter bat die Frau, mich mitzunehmen und bei meinem Vater in Gütersloh abzuliefern.

So geschah es. Wir fuhren erst mit dem Zug bis zur Grenze. Dort begann dann in der Dunkelheit die lange und beschwerliche Wanderung. Mir ist noch erinnerlich, dass mich einmal ein so starkes Gefühl der Schwäche überfiel, dass ich dachte, jetzt könnte ich keinen Schritt mehr weiterlaufen. Ich wäre am liebsten umgefallen und liegengeblieben, wo ich gerade war. Da kam mir plötzlich in den Sinn, dass ich in meiner Manteltasche noch ein bisschen trockenes Brot haben musste. Ich griff hinein und fand tatsächlich noch etwas Brot. Ich steckte es mir in kleinen Bröckchen in den Mund und merkte mit einemmal, dass eine Veränderung mit mir geschah. Ich wurde plötzlich kräftiger, wollte nicht mehr liegen und konnte mühelos laufen. Dieses war das erste und einzige Mal, dass ich in solch einem erstaunlichen Maße die Kraft von Nahrung in meinem Körper gespürt habe, obwohl es nur trockenes Brot war.

Wir fuhren dann endlich mit dem Zug weiter, und ich wurde in Gütersloh raus gesetzt. Ich wusste gar nicht mehr genau, wie mein Vater, der mich abholen wollte, eigentlich aussah, und fiel voller Freude einem ganz fremden Mann um den Hals. Zum Glück kam mein wirklicher Vater aber dann dazu und klärte alles auf. Ich war glücklich, bei meinem Vater zu sein, und er war. glaube ich, sehr glücklich, mich bei sich zu haben. Wir gingen zu ihm in sein möbliertes Zimmer, und dort backte er mir irgendwelche Küchlein und beschmierte sie ganz dick mit Rübenkrautsirup. Das schmeckte herrlich. Mein Vater flocht, um sich (und nun auch mich) am Leben zu erhalten, Schuhe aus Bindfaden und verkaufte sie, meist gegen Lebensmittel. Daher hatte er auch den riesigen Topf mit Sirup. Mein Vater brachte mir das Schwimmen bei, und ich konnte dort auch wieder zur Schule gehen.

Nach etwas mehr als einem Jahr hatte es meine Mutter geschafft, mit der übrigen Familie nachzukommen, so dass wir in Gütersloh dann alle wieder vereint waren. Wir bekamen eine einfache aber nette Wohnung zugeteilt. Wir beiden Mädchen gingen wieder zur Schule, und später bekam auch mein Vater eine gutbezahlte Stellung in Düren bei den Elektrizitätswerken der englischen Besatzungsmacht. Es wurde ihm auch ein hübsches Häuschen mitten in einem Wald zur Verfügung gestellt, wo die Maiglöckchen und andere Blumen blühten, Vögel sangen und die Rehe bis an den Gartenzaun herankamen. Ich bin später, als ich studierte, immer in den Ferien voller Freude zu meinen Eltern in dieses schöne Häuschen gekommen.

Inzwischen sind meine beiden Eltern und meine beiden Brüder nicht mehr am Leben, aber für alle sind schon die Heiligen Handlungen im Tempel gemacht, denn sie hatten in ihrem Leben nicht die Möglichkeit, das Evangelium kennenzulernen.