Ragnit, Tilsit, Ostpreußen

mormon deutsch manfred schienagelIch heiße Manfred Schienagel und bin am 8. November 1938 in Ragnit, Kreis Tilsit/Ragnit in Ostpreußen geboren. Mein Vater war Hans Schienagel, und meine Mutter hieß Gertrud Schienagel, geborene Reinecker. Es fällt mir doch schwer, so plötzlich mich an meine Kindheit zu erinnern. Was mir als erstes einfällt ist unser Schlafzimmer, in dem wir drei Kinder lagen (ich habe zwei ältere Schwestern); wir hatten irgendeine Kinderkrankheit. Meine Mutter hatte wohl ziemlich viel mit uns zu tun, denn sie war auf sich allein gestellt, weil mein Vater im Krieg war.

Der Krieg näherte sich immer mehr meiner Heimat, so dass wir im August 1944 – ich war noch nicht sechs Jahre alt – fliehen mussten. Unsere Flucht vollzog sich in mehreren Etappen. Wir hatten einen langen Weg hinter uns zu bringen mit vielen schwierigen Situationen, bis wir im März 1945 in Norden, Ostfriesland – unserm Ziel – landeten. Meine Erinnerung an unsere Flucht bringt einzelne Bilder hervor, die sich einem Kind von knapp sechs Jahren eingeprägt hatten. In einem Dorf in Pommern, in dem wir uns länger aufhielten, wo wir in einem Zimmer ein bescheidenes Zuhause fanden, ließ es wohl recht gut leben, denn die Menschen hatten noch einige Essensvorräte, von denen wir etwas abbekamen, weswegen wir auch nicht Hunger litten.

Aber an anderen Stellen auf unserem Weg in Richtung Westen haben wir auch den Hunger kennengelernt, den wir mit getrockneten Rübenschnitzeln stillten. Ich sehe uns auch an einen Tisch, an dem wir eine Scheibe Brot mit etwas Zucker bestreut aßen. Der kleine Frieden war zu Ende als die Front sich dem Dorf näherte. Es wurden Leiterwagen beladen mit allen wichtigen Habseligkeiten und Essensvorräten, die Pferde vorgespannt und alles suchte sich einen Platz auf den Wagen. Wir waren alle warm angezogen, hatten mehrere Kleidungsstücke übereinander gezogen, denn es war bitterkalt; glücklicherweise waren die Wagen mit einer Plane überdeckt. Ich höre noch das Stöhnen von einem alten Mann, der wohl im Sterben lag. Weil die Wege tief verschneit waren, blieben die Wagen auch mal stecken und die Pferde schafften es nicht, uns da herauszuziehen. Meine Mutter erzählte uns, dass bei solchen Gelegenheiten alles, was irgendwie bei Kräften war, absteigen und mit Hand anzulegen musste, um die Pferde zu entlasten, und die Wagen wieder in Bewegung zu bringen. Dabei ist uns unsere Mutter beinahe verlorengegangen; glücklicherweise tauchte sie nach einer Weile wieder auf.

An eine Station auf der Flucht erinnere ich mich etwas: das war; als unser Treck auf Fähren die vereiste Oder überqueren musste. Das muss ziemlich dramatisch gewesen sein! Die Pferde scheuten bei der Überfahrt und mussten von allen verfügbaren Männern gebändigt werden. Hinter uns war der Kanonendonner und die detonierenden Bomben zu hören; eine drohende Gefahr! Nach langer beschwerlicher Fahrt auf den Leiterwagen kamen wir in ein Dorf, in dem wir versorgt wurden und in einem großen Schafstall Unterschlupf fanden. Wir lagen dicht an dicht, um uns zu wärmen. Wir hörten das Geblöke der Schafe und hatten ihren Geruch in der Nase, aber ich glaube, es schlief sich gut. Es gab auch eine Zeit, wo wir uns in einem Dorf länger aufhielten und dort Station machen konnten; wir haben uns fast ein bisschen Zuhause gefühlt! Hier waren wir weitab vom Kriegsgeschehen.

Und es geschah sogar, dass mein Vater Heimaturlaub bekam, nachdem er uns ausfindig gemacht hatte. Was muss das für ein Glück gewesen sein in dieser unglücklichen Zeit! Aber dann war auch diese schöne Zeit vorbei, und wir mussten weiter fliehen. Irgendwann, so erinnere ich mich, ging die Fahrt in Richtung Westen mit der Eisenbahn weiter. Von diesem Abschnitt unserer Flucht kommt mir ein Erlebnis in Erinnerung, das für alle eine sehr unangenehme, schlimme Situation war. Wir kamen an einem Bahnhof an, auf dem es hieß: hier geht es nicht mehr weiter, alles aussteigen! Wie schaffte eine Mutter mit drei Kindern (6, 8,10 Jahre) das alles? Die paar Habseligkeiten, die wir in einem Wäschekorb und ein paar Koffern hatten, und die Kinder auf den Bahnsteig bringen. Und dann, als endlich alle aus dem Zug gestiegen waren und draußen auf dem Bahnsteig standen, kam plötzlich das Kommando: „Alles wieder zurück in den Zug! Fliegeralarm!“ Der Zug musste ganz schnell aus dem Bahnhof raus. Was muss das für die Erwachsenen und besonders für die Mütter mit kleinen Kindern ein schlimmer Moment gewesen sein. Aber dankenswerterweise fanden sich Menschen, die die größere Not der Anderen sahen und halfen! An viel mehr kann ich mich nicht erinnern, was unsere Flucht aus Ostpreußen betrifft. Nur noch, dass wir nach viel Umsteigen in Bad Zwischenahn ankamen, das ungefähr 100 Kilometer vor unserem Ziel lag. Von dort wurden wir abgeholt und nach Norden in Ostfriesland gebracht, das für eine längere Zeit unsere neue Heimat sein sollte. Unsere ganze Flucht hatte insgesamt ein gutes halbes Jahr gedauert!

Bad Zwischenahn ist für mich bis heute ein markanter Punkt, den ich bis zu diesem Tag liebe und oft besucht habe. Vielleicht, weil hier das vorläufige Ende unserer Reise war. Von dort sind wir von einer verwandten Familie abgeholt worden, die in Norden lebte. Die Eltern meines Vaters lebten in dem Haus dieser Verwandten, denn sie waren schon vor Kriegsbeginn mit vielen Kisten und Koffern von Ostpreußen nach Ostfriesland gezogen. Meine Großeltern lebten bei einer Pastorenfamilie. Der Pastor gehörte der evangelisch – reformierten Kirche an: er war der Vetter meiner Großmutter. In diesem Haus bekamen wir zwei Zimmer, in denen wir lebten. Das Haus war ein wunderschönes mit Efeu bewachsenes Haus, in dem es viele gemütliche Zimmer gab. Besonders angetan hatte es mir ein kleines Turmzimmer unter dem Dach, das der einen Tochter des Pastors gehörte. Ich bin dort öfter gewesen; es hatte eine große Anziehungskraft auf mich. Die Unruhe und die Wirren des Krieges, die ich als Kind miterlebt und die sich mir eingeprägt hatten, machten in mir eine Sehnsucht wach nach Frieden und Geborgenheit, die dieses Haus ausstrahlte; besonders das Zimmer unter dem Dach! Wenn später in meiner Kindheitslektüre von einem Turmzimmer geschrieben wurde, kam mir immer das Turmzimmer in dem Pastorenhaus in Erinnerung. In diesem Haus lebten wir bis mein Vater aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurde.

Meine erste Begegnung mit meinem Vater nach dem Krieg berührt mich immer wieder tief, wenn ich daran denke. Ich spielte mit einer Freundin vor deren Haus, als mein Vater plötzlich hinter uns stand, den ich nicht erkannte. Aber der Vater erkannte seinen Sohn und sagte zu mir: „Bringst du mich zu euch nach Hause?“ Als ich mit dem fremden Mann nach Hause kam und ihn zu meiner Mutter brachte, nannte meine Mutter ihn bei seinem Namen: „Hans“ und darauf lagen sich beide in den Armen. Ich spürte wohl, wer das sein musste, den meine Mutter da umarmte. Nach der Begrüßung hat mein Vater mit uns allen gebetet. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mir für mein Leben durch ihr Beispiel eine religiöse Einstellung mitgegeben haben. Der Krieg hatte sehr an den Nerven meines Vaters gezehrt, weswegen er bei jeder kleinen Gelegenheit weinte. Aber die Zeit verging und brachte Normalität in seins und in unser aller Leben. Eines Tages war es dann soweit, dass mein Vater, der ein Lehrer war, in einem kleinen Dorf in Ostfriesland eine Anstellung fand.

Die Nachkriegszeit war eine schmale Zeit. Wir hatten wenig zu essen und anzuziehen gab es auch nicht viel. Meine Mutter nähte aus abgetragenen Kleidungsstücken. die sie von einheimischen Nachbarn bekam, etwas Passendes für uns Kinder. Aus Stoffresten flocht sie Zöpfe, die sie als Sohlen für unsere Hausschuhe zusammennähte. – An einen schönen Augenblick in meiner Kindheit erinnere ich mich, als wir alle, zusammen mit unserer Oma in den nächsten Ort durch den Schnee stapften, um dort zur Kirche zu gehen. Auf der Kirchenbank saß ich neben meinem Vater und lehnte mich an ihn und fühlte mich so wunderbar geborgen; ich fühlte den Stoff seines Lodenmantels. An dieses Glücksgefühl kann ich mich heute noch erinnern. Nach ein paar Jahren konnte mein Vater ein Klavier mieten, denn das Klavierspiel war seine große Freude. Von da an ertönte viel Musik in unserm Haus und meine Vater scharte oft seine Familie um das Klavier; wir haben viel gesungen! Manchmal erlaubte mein Vater es mir, ihm bei seinem Klavierspiel zuzuhören, wenn er Bach oder Beethoven spielte. Das at sicher auch mit den Grund gelegt für meine Liebe zur Musik. Auch bei einer anderen Gelegenheit tat mein Vater noch etwas dafür, nämlich, wenn er mich mitnahm zu seinem Orgelspiel. Er brauchte mich auch, um den Balgen zu treten, damit die Orgel die nötige Luft bekam. Mein Vater spielte mit Vorliebe J.S.Bach. Wenn der Blasebalg ganz voll war, konnte ich es mir erlauben, nach vorne zur Orgel zu gehen, um meinem Vater beim Spiel zuzusehen. Aber es durfte nicht zu lange sein, weil sonst der Orgel die Luft ausging!