Schneidemühl, Pommern
Mein Name ist Sigrid Elisabeth Rose, ich bin am 27. Januar 1928 in Schneidemühl, Grenzmark Posen-Westpreußen, später Pommern geboren. Meine Eltern waren Frieda und Johannes Kindt.
Schneidemühl war eine kleine Grenzstadt, am polnischen Korridor gelegen, mit vielen Kasernen. Wir hatten einen wunderbaren gepflegten Stadtpark. Wir wohnten auf dem Stadtberg in einem Häuserring. Jedes Haus hatte einen kleinen „Schrebergarten“, wo die Anwohner Gemüse anpflanzen konnten. Manche Leute hielten sich Kaninchen, die oft einen schmackhaften Sonntagsbraten abgaben. Aus Kaninchenfellen wurden oft Schalkragen oder Mützen gefertigt. Manche Bewohner hatten eine kleine Laube oder eine Bank in ihrem Garten. Wir Kinder spielten dort gern mit unseren Puppen. Wir lebten dann in einer Fantasiewelt und nannten uns nach Berühmtheiten der damaligen Zeit. Ich war die Annie Ondra, die Frau des Boxweltmeister Max Schmeling. Ein Ballspiel ist mir in besonderer Erinnerung. Wir warfen unseren Ball an die Wand des Hauses und taten es auf verschiedene Art und Weise. So warfen wir es unter dem rechten Knie hindurch, dann hinter dem Rücken herum und mit einem Klatschen zwischen dem Rückprall und mit dem Unterarm und viele andere Möglichkeiten. Wir waren viel an der frischen Luft, denn die Wohnungen waren sehr klein.
Wir waren vier Kinder. Meine Brüder sind Hans geboren1922, Walter 1923, ich selbst 1928 und Wilford 1929. Zwischen Walter und mir gab es den Erich Jared, der nur wenige Stunden gelebt hat. Wir lebten in 2 Zimmern und einer Küche. Das WC war im Treppenhaus eine halbe Treppe hoch. Es gab eine gemeinsame Waschküche im Keller, auch noch für jede Familie 1-2 Kellerräume, wo Kohlen und Kartoffeln gelagert wurden. Einer der Kellerräume wurde in der Kriegszeit zum Luftschutzraum, wohin wir jedes Mal gingen, wenn die Sirenen ertönten. Die Wäsche wurde in großen Holzwannen gewaschen und im Sommer in den Hof gehängt wurden und im Winter auf den Boden kamen zu Trocknen. Unser Baden für den Sonntag fand im Waschkeller statt, in der Holzwanne, später war es eine Zinkwanne. Unser Wasser für den Garten holten wir von der Pumpe, die hinter unserm Haus stand, die von vielen genutzt wurde. Durch den Keller ging es eine Treppe hoch auf den Hof, wo wir auch eine Teppichklopfstange hatten, die wir Kinder zu allen möglichen Spielen anwendeten. Ein Seil war unsere Möglichkeit wie Tarzan zu sein, auch stärkten wir unsere Muskelkraft an der Stange. Wir balancierten sogar auf dieser Stange. Ein Besuch auf dem Boden war immer interessant, dort spielten wir immer Verkleiden, denn dort lagerte viel Kleidung. In diesem Wohnbezirk gab es viele Kinder, so hatten wir schnell eine Mannschaft für Völkerball oder Brennball zusammen.
Etwa die Hälfte der Stadtbewohner waren evangelisch und der Rest meist katholisch. In meinem Schulzeugnis musste ich als Konfession immer angeben, dass ich zur Kirche Jesu Christi gehörte. Ich ging in die evangelische Martin-Luther-Schule. Nicht weit entfernt war die katholische Schule, die meine Freundinnen besuchten. Später wurden alle Kinder in eine Schule gegeben. Mein Bruder Wilford ist mit mir eingeschult worden. Meine Zeit war nachmittags sehr ausgefüllt. Am Dienstag PV, meine Lehrerin war Elfriede Ross, eine gute Erzählerin, von der wir viel gelernt haben ( sie hatte ein braunes und ein blaues Auge ). Mittwoch war Hitlerjugend, wo wir mit 10 Jahren eintreten mussten. Walter und ich waren sogar Scharführer. Wilford war in einer Musikgruppe, er war Trommler und Fanfarenbläser, die bei jeder Parade antreten mussten. Wir hatten gute Prinzipien, sollten höflich sein und anderen helfen. Ich hatte die Verantwortung für 150 Mädchen, die ich mit Trillerpfeife zu gymnastischen Übungen ermunterte. Unserem Vater war es nicht unangenehm, dass wir so einen guten Einfluss auf sie ausüben konnten. Der Nachteil des Hitlerjugendprogramms war, dass wir marschieren und dazu Lieder grölen (statt singen) mussten und dabei bei besonderen Paraden mit Fahnen antreten mussten. Wir hatten ein Programmheft, aus dem wir belehren sollten. In diesem war auch festgelegt, dass wir zur Kirche gehen durften. Unser Vater war nicht in der Partei, aber wir mussten bei besonderen Anlässen eine Fahne aus dem Fenster hängen, die wir so klein wie möglich hielten. Donnerstags hatten wir Flötenunterricht und Chorstunden für die begabten Schüler. Wir spielten alle ein Instrument: Hans spielte Geige, Walter Mandoline, ich Blockflöte und Wilford auch noch Blockflöte. Zuhause spielten Wilford und ich Harmonium. Unser Vater spielte Harmonium, Geige, Flöte, Mandoline, Waldhorn, Oboe und Gitarre, gab auch den Jugendlichen Unterricht. Er war Pfadfinderführer. Freitags standen wir der Mutter zur Seite, halfen bei der Wäsche und brachten diese zur Mangel, brachten die Bleche mit Hefeteig zum Bäcker. Samstags war wieder Hitlerjugend. Samstag hatten wir ja auch erst Schule und die Väter waren zur Arbeit.
Meine Mutter erkrankte an Krebs und war mehrere Male zu Kuren gefahren. Sie hatte viel bei den reichen Leuten ausgeholfen und brachte uns viel an Kleidung und Waren mit. Sie starb nach etwa 10 jähriger Krankheit am 7.August 1939, sie wurde am 10.August beerdigt, 150 Leute folgten dem Sarg, denn Mutter war sehr beliebt. Wilford war zu der Zeit gerade 6 Wochen zur Erholung in Litauen. Wir Kinder waren viel allein. Unser Vater arbeitete viel, nahm sich aber immer Zeit für uns.
Am 1.September 1939 begann der Krieg. Die deutschen Soldaten marschierten überraschend in Polen ein. Wir durften uns dann nach 22 Uhr nicht mehr auf der Straße aufhalten, was uns doch einschränkte. Es gab ja so viele Soldaten in der Stadt. Ich wohnte zwar an der Grenze nach Polen, war aber nie über die Grenze gegangen.
Unser Gemeindehaus lag in der Gartenstraße. Es war ein niedriges Haus mit 2 Sälen und 2 kleinen Zimmern, es hatte zwei Eingänge. Im großen Saal hatten wir ein Harmonium. Wilford durfte als Diakon jeden Sonntagmorgen den Bullerofen anheizen, der das ganze Haus wärmte. Die Winter waren sehr kalt und auch sehr schneereich.
Am 15.Januar 1940 heiratete unser Vater Maria Bernau. Es war ein sehr kalter Wintertag. Im Oktober 1940 wurde Wolfgang geboren.
1938 wurde die Synagoge der Juden in unserer Stadt zerstört. Viele Juden waren Besitzer der Warenhäuser, andere waren Ärzte. EPA war jüdisch und hieß später dann KEPA. Als dann später russische Gefangene am Haus vorbeizogen, wurden wir gewarnt, dass wir ihnen keine Nahrungsmittel zustecken durften. Auch wurden wir vor stehlenden Zigeunern gewarnt. Es wurden uns viele Propagandafilme gezeigt, die uns doch beeinflussten. Wir durften keine ausländischen Sender im Radio hören mit dem Hinweis „der Feind hört mit“, so waren wir wenig informiert, was in der Welt passierte.
Die jungen Leute wurden mit 18 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen, so auch unsere Jungen aus der Gemeinde. Söhne der Familien Beyer, Menzel, Birth, Voge, Ross, Gärtner, Kindt, Wolf, Hardel und Lilischky mussten dem Vaterland dienen. Gerhard Birth, mein Cousin, fiel im Kriege und Nephi Birth wurde vermisst, alle anderen kamen zurück. Unser himmlischer Vater hat unsere Familien wirklich sehr gesegnet, besonders meine eigenen Brüder und meinen Vater, der zum Ende des Krieges auch noch eingezogen wurde, und der in russische Gefangenschaft geriet. Hans geriet in amerikanische Gefangenschaft und Walter hat sich kurz vor Ende des Krieges aus Frankreich abgesetzt.
Während des Krieges wurden wir mit 13-14 Jahren klassenweise bei Bauern zur Kartoffelernte verpflichtet. Der Bauer hatte das Feld aufgepflügt und wir sammelten die Kartoffeln in große Körbe. Welche Arbeit für die Bauern, die uns dann auch verpflegen mussten. 1943 kam ich aus der Schule. Wir Mädchen mussten ein Pflichtjahr ableisten. Ich war für 2 Monate bei einer Regierungsrätin im Haushalt. Danach durfte ich 4 Monate zuhause dienen, da Mutti ja kleine Kinder hatte. 6 Monate war ich dann wieder auswärts bei einer anderen Familie mit 2 Kindern. Danach begann ich eine Schneiderlehre. Nach 2 Monaten bekam ich einen Stellungsbefehl, musste Gräben ausheben. Hier arbeitete ich von Mai bis November 1944, bis die Erde gefror und ich kam krank, mit Läusen behaftet, nach Hause.
Anfang Januar kam ich ins Krankenhaus, da ich unerklärliche Zuckungen im linken Arm hatte und schreckliche Träume mich plagten. Aus Reden hörte ich, dass uns irgendwelche Hormone ins Essen gegeben worden waren, damit wir ständig arbeitsfähig waren, ob diese Mittel meine Beschwerden verursacht haben? Im Krankenhaus führte die Ärztin eine Rückenmarkspunktion durch. Die Funktion meiner Schilddrüse war gestört. Da das Krankenhaus nach Grimmen evakuiert werden sollte, verließ ich dann das Krankenhaus auf eigene Verantwortung, fühlte mich schwach. Mein Bruder Wilford holte mich auf einem Schlitten nach Hause. Da meine Schwester Christa am 4.Januar geboren worden war, kam ich zu Tante Emma Birth, meiner Mutter Schwester. Onkel Friedrich Birth gab mir einen Krankensegen. Tante Emma flüchtete und ich kam zu Mutti zurück. Am 26. Januar wurde am frühen Morgen die Stadt beschossen.
Mutti hatte uns Kinder, mich, Wilford, Wolfgang, Eva-Maria und Christa diesen Morgen mit zum Bahnhof genommen. Wir durften nur Handgepäck mitnehmen. Man sagte uns, wir würden ja bald wieder zurückkehren. Wilford wurde aus dem Zug geholt, sollte die Stadt verteidigen. Er ist nach Hause gegangen und hat Papas Fahrrad geholt und seine Schriften, ist dann mit Familie Birth nach Dresden, ist dann wegen der Fliegerangriffe allein nach Annaberg geflüchtet. Es wurde gesagt, dass die Russen gleich weiter nach Berlin ziehen würden. Auf dem Bahnhof gab es viele Verwundete, die von der Front kamen, die gerade gespeist wurden. Schneidemühl war ja Knotenpunkt. Viele dieser verwundeten Soldaten versuchten auf den Zug aufzuspringen, wurden aber daran gehindert. Unser Transport wurde bis Bargteheide geführt. Im Februar endete erstmal unsere Odyssee in Tremsbüttel. Wir wurden in 2 Zimmer bei einem Gastwirt einquartiert.
Die Nachkriegsjahre waren entbehrungsreicher (schlimmer) als die Zeit des Krieges. Wir waren Flüchtlinge, Fremde im eigenen Land. Wir wohnten nun auf dem Lande, wo wir schon mal etwas Gemüse bekamen. Wir hatten kein Geld, hatten wenig zu essen. Wer Dinge zum Tauschen hatte, der bekam auf dem Schwarzmarkt zu essen. In Hamburg war alles zerbombt. Es fuhren keine Busse, so bin ich 18 Kilometer nach Rahlstedt zur Familie Prüss zu den Versammlungen gegangen. Walter wohnte einige Zeit bei Familie Prüss auf der Veranda. Wir versammelten uns mit den Familien Sommerfeldt, Schnippe, Schmidt und Prüss. Mutti ist mit den kleinen Kindern zu Hause geblieben. Ich ging zum Bunker nach Wandsbek, auch etwa 18 km, wo wir Kleidung und Lebensmittel bekamen. Zu dieser Zeit hatten wir als Kirche viel Zulauf. Einige Leute bezeichneten sich später als „Büchsenmormonen“. Viel Hilfe bekamen wir durch den Marshallplan, durch die Hilfspakete der Kirche aus Amerika. 1950 bin ich nach Schweden gegangen und habe diesen Entschluss nicht bereut.