Elberfeld, West-Falen
Mein Name ist Annemarie Schmidt und mit meinem Mädchennamen Dörsch. Ich wurde am 4. Februar 1924 in Elberfeld geboren. Meine Eltern waren sehr liebevolle und christlich denkende Leute, besonders meine Mutter, die unserer Familie sehr oft aus der Bibel vorlas. Auch las sie nur Bücher, welche fromme und christliche Handlungen beinhalteten. Mein Vater, Ernst August Dörsch war ein gelernter Kaufmann und meine Mutter Emmy, Auguste Dörsch, geborene Speck, hatte früher, als gelernte Schneiderin sogar ein eigenes Atelier.
Auch als Mutter von insgesamt fünf Kindern schneiderte meine Mutter sehr viel, da es ihr große Freude machte. Meine älteste Schwester hieß Gerda, dann kam mein Bruder Ernst, August, Max. Danach kam wieder eine Schwester Magdalene. Nun als vierte kam ich Anna-Maria. Und als Letzte meine Schwester Doris, Marlies, Liane.
Erst 1928 wurden Elberfeld, Barmen und einige andere kleine Städtchen in die größere Stadt, mit dem Namen Wuppertal vereinigt. Ich erwähnte schon, dass ich gläubige Eltern hatte, die regelmäßig zur Kirche gingen, auch in kleinere Gemeinden. So besuchten sie jährlich auch die Missionsabende, die für eine Woche, in einem großen Zelt (darum hieß es auch Zeltmission) auf dem Exerzierplatz in Elberfeld abgehalten wurden. Ich erinnere mich noch heute sehr gut daran, dass ich jeden Abend, als einzige von uns Kindern (ich war sieben Jahre alt) mit meinen Eltern zu diesen Versammlungen ging. Es sprach immer ein Pastor Volkmann. Was er sagte, ging mir immer tief ins Herz und am letzten Abend, als Pastor Volkmann sich nach seiner Predigt verabschiedete, musste ich furchtbar weinen. Denn nun konnte ich nicht mehr die Geschichten von Jesus und seinen Jüngern hören. Meine Mutter nahm mich an die Hand und weil mein Weinen nicht aufhörte, ging sie mit mir nach vorne zu Herrn Volkmann. Als er hörte, weshalb ich weinte, nahm er mich auf den Arm und schenkte mir einen Apfel. Das war für mich ein einschneidendes, großes Erlebnis. Auch später, als junges Mädchen, besuchte ich mit einer Freundin diese Zeltmissionen.
Es kam der Krieg und im Jahr 1943 wurde auch in Wuppertal unendlich viel zerstört. Zuerst Barmen mit vielen Brandbomben, sodass hunderte von Menschen aus Angst vor dem Feuer, oder aber weil sie auch schon selbst brannten, 8 bis 10 Meter tief in den Fluss „ Wupper „ sprangen und dabei sich auch oft schwer verletzten. Im Juni 1943 kam Elberfeld an die Reihe. Diesmal waren es aber Sprengbomben. Auch in dieser Nacht, wie in vielen vorigen Nächten verbrachten wir die „ Alarmzeiten „ bei einem Arzt, in dessen Felsenbunker. Wir lagen alle auf den Knien und beteten. Mein Vater und einige andere Männer mussten aber draußen bleiben und aufpassen, falls Brandbomben auf die Häuser fielen, diese sofort aufgenommen und auf die Straße geworfen wurden. Wie glücklich waren wir, nach der Entwarnung, wenn wir uns noch gesund wiedersahen. Aber ich habe auch viele verbrannte Leichen gesehen.
Die große Firma meines Vaters, wo er als Versandleiter beschäftigt war, wurde auch zerstört und man kannte unsere Stadt nicht mehr wieder. Allein in der Poststraße gab es über 1000 Tote zu beklagen. So zogen meine Eltern, mit dem, was übrig geblieben war nach Branitz bei Cottbus, Das liegt im Spreewald, südlich von Berlin, in der Mark Brandenburg.
In den ersten neun Wochen hatte freundlicherweise die Gräfin Pückler (eine Nachfahrin des berühmten Fürsten Pückler) eine Wohnung in ihrem großen Schloss überlassen, bis wir danach bei dem Bürgermeister von Branitz die obere Etage in seinem Haus bekamen. Dort wohnten wir bis Februar 1945.
Bei einer großen Firma ( Uniformnäherei ) war ich als junges Mädchen dann Lohnbuchhalterin und war glücklich, dass ich nicht zum Arbeitsdienst oder als Flakhelferin eingezogen worden war. Auch kamen viele Mädchen zwangsweise in die Munitionsfabriken, da doch die meisten Männer Soldat werden mussten.
Ende des Jahres 1944 kamen die Russen schon näher und auch die Bombenflugzeuge wurden uns immer bekannter. Wir gingen nur noch in Kleidungsstücken ins Bett, damit wir im Notfall direkt auf die Straße laufen konnten. Im Januar 1945 wurde meine Firma ausgebombt und ich musste mit Soldaten und anderen Frauen – um Branitz herum – Gräben ausgraben. Es war bitterkalt und dabei mussten wir auch noch mit einer Axt die Wurzeln von den Bäumen durchschlagen.
Mein Vater war ein halbes Jahr vorher Bürgermeister von Branitz geworden, da der bisherige – durch seine vielen Frauengeschichten – sich unmöglich gemacht hatte und nach Russland geschickt wurde. Jetzt aber, es war schon Februar 1945, kamen zu allem noch die „ Stalinorgeln“ zu allem Kummer dazu. Das sind Kanonen, die ihre Raketen über lange Strecken hin und her verstreuen können. Sie sind sehr laut und wir konnten sie Tag und Nacht hören. Wir hatten schon seit Wochen alle unseren notwendigsten Habseligkeiten in Rucksäcke und große Taschen gepackt, um fliehen zu können. In der letzten Nacht, es war schon der 16. Februar, bekam eine liebe Mutter einen Schlaganfall und konnte nicht mehr sprechen. Vor lauter Aufregung, aber auch deshalb, weil wir die Nachricht bekommen hatten, dass mein Bruder, den wir alle so schätzten und liebten, in Russland erschossen worden war. In die Brust und in den Hals, von Partisanen. Meine Mutter war erst vor 11 Tagen 55 Jahre alt geworden.
Durch ihre Krankheit durfte aber mein Vater mit uns fliehen, musste allerdings versprechen, sofort, nach unserer Ankunft im Westen, wieder zurück zu kommen. Welch ein Wahnsinn !! Es wusste doch jeder, dass die Russen schon in Ostpreußen und kurz vor Berlin waren und auch die Amerikaner waren schon fast im Rheinland. Wir sind dann am nächsten Morgen mit einem Pferde –Milchwagen bis nach Leipzig gefahren, denn der Bahnhof in Cottbus lag auch in Trümmern.
Von Leipzig aus fuhren wir mit einem alten, kaputten Eisenbahnzug, ohne Fensterscheiben. Drei Wochen gen Westen. Nachts schliefen wir oft auf kaltem Boden, draußen, wenn über uns die Bomber und Jagdflugzeuge flogen. Ab und zu bekamen wir vom Roten Kreuz einen Teller warme Suppe. Als wir dann endlich Wuppertal erreichten, sahen wir, wie die Amerikaner mit ihren großen Panzern in die Stadt kamen und einer hat mir sogar ein Kaugummipäckchen zugeworfen.
Bei Bekannten erhielten wir für eine Woche ein kleines Zimmer und dann durften wir ein Klassenzimmer einer Schule benutzen und uns allmählich darin einrichten. Dort ist meine liebe Mutter dann auch gestorben. Während meine Schwester Doris und ich das schwere Atmen meiner Mutter nicht mehr ertragen konnten und, trotz Straßensperre der Amerikanerversuchten zur Ärztin zu gelangen. Wir wurden mehrfach angehalten, aber da wir so sehr weinten, hat man uns gehen lassen. Wir klingelten an der Haustüre die Ärztin raus, aber sie konnte uns auch nur sagen, dass unsere Mutti sterben würde. Noch mehr weinend kamen wir wieder zurück und unser Vater konnte uns schon den Tod der Mutter bestätigen, während wir eben erst das Haus verlassen hatten.
Das waren unsere „ großen „Erlebnisse während des Krieges, der nun zu Ende gegangen war. Inzwischen hatte ich eine Stelle als Kassenbuchhalterin bei dem evangelischen Kirchensteueramt bekommen. Wie oft bin ich wochenlang mit nur einer Schnitte trockenem Brot in das Amt gegangen! Ich habe auch schon mal von Bekannten, die etwas zum Tauschen hatten, Kartoffelschalen erhalten, die gewaschen und gerieben hatte, um davon Reibekuchen zu backen. In Rizinusöl! Oh, ja, Hunger tut sehr weh.
Als junges Mädchen, vor dem Angriff kannte ich etliche Jugendliche. Gymnasiasten zwischen 14 und 16 Jahren, aber von denen war keiner mehr da. Sie waren noch in den letzten beiden Kriegsjahren eingezogen und zum großen Teil „ fürs Vaterland „ gefallen oder aber mit ihren Eltern evakuiert worden. Nun in diesem Kirchensteueramt arbeitete ca. ein Jahr später ein junger Mann, der nur eine Verletzung am Hals „ mitbekommen hatte. Der schrieb mir kleine Gedichte, konnte sehr gut Klavierspielen und brachte mir auch ab und zu etwas zum Essen mit. Seine Mutter besaß ein großes Lebensmittelgeschäft und ihre beiden Häuser waren nicht ausgebombt worden.
Das Kirchensteueramt plante eine Weihnachtsfeier. Ich selbst hatte drei Jahre klassischen Gesang studiert und dieser junge Mann sollte mich bei zwei Gesangsstücken begleiten. So haben wir denn mehrfach im Hause seine Mutter geübt und kamen uns näher. Wir haben geheiratet und nach 13 Monaten gebar ich Zwillinge, die über zwei Monate zu früh auf die Welt kamen. Durch ein Fehlverhalten der Ärzte wurde der Erstgeborene am Gehirn geschädigt und lebt in einem Pflegeheim. Der andere wohnt in Mannheim und hat auch im Tempel geheiratet. Mein damaliger Mann (er war inzwischen Großbetriebsprüfer beim Finanzamt) hatte überall Liebschaften, meist mehrere auf einmal und ich ließ mich scheiden.
In dieser für gedemütigte Zeit kamen zwei Missionare zu mir. Obwohl, durch meine Erziehung ich sehr lutheranisch war, besonders, weil ich auch in der damals, von Hitler verfolgten Bekenntniskirche konfirmiert worden war, so ließ ich die beiden netten jungen Männer doch rein. Ich hatte aber immer und dauernd viele Einwände. Besonders gegen einen „ neuen, modernen Propheten . Komischerweise kamen auch zur gleichen Zeit die Zeugen Jehovas. Auch diese habe ich eingelassen und mit ihnen diskutiert. So ging es ein halbes Jahr! Mein Vater- er hatte inzwischen wieder geheiratet – riet mir dringend. doch mit niemanden mehr zu sprechen, denn es würde mich nur verwirren.
So sagte ich sowohl den Missionaren, als auch den Zeugen Jehovas ab. Die Zeugen Jehovas sonst so hartnäckig kamen auch nicht mehr, aber die Missionare. So ging ich denn auch eines Sonntags zur Kirche, fand die Leute alle so nett. Die Jugend kümmerte sich und mich und lud mich auch privat ein, so vergaß ich allmählich auch meinen Kummer und ich ließ mich am 4. Oktober 1959 endlich taufen. Bruder Hans Wolferts taufte mich in der Badeanstalt in Barmen und der Heilige Geist wurde von Bruder Paul Janzen gespendet. Nun war ich ein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.
Zu der Zeit kam auch ein junger Mann (Dieter Schmidt) aus Hamburg zum Studium nach Wuppertal. Er hatte die Kirche in Rendsburg, Schleswig-Holstein kennen gelernt. Ich bemerkte schon, wenn ich, vorne im Chor, stand oder Solo sang, dass er mich immer anschaute, aber, da er jünger als war, machte ich mir keine Gedanken darüber. Bis drei Wochen vor unserer Weihnachtsfeier in der Gemeinde, da mussten wir für ein Weihnachtsstück, welches über 1½ Stunde dauerte, den Text einstudieren. Dieter sollte den Josef spielen und ich die Maria. Wir hatten nur drei Wochen zum Üben. So waren wir alle jeden Abend zusammen und lernten und übten. Es war eine wunderbare Weihnachtsfeier und später brachten mich mehrere der Jugendlichen nach Hause. Dieter war auch dabei. Beim Verabschieden drückte er mir einen Brief und ein Päckchen in die Hand. Er wollte am nächsten Tag nach Hamburg zu seiner Familie fahren, denn es waren ja auch Semesterferien. In dem Päckchen war ein hübscher gut gearbeiteter Holzvogel, aus Dänemark und der Brief war wirklich lieb geschrieben. Beides lag in der Nacht unter meinem Kopfkissen und ist auch noch heute in meinem Besitz.
Sylvester kam und wir Jugendlichen hatten verschiedene Speisen gemacht, Spiele ausgedacht usw. Wir feierten natürlich wieder im Gemeindehaus, einer alten Villa. Um 9 Uhr Abends, wir übten gerade den Cha Cha Cha, da klingelte es an der Haustüre. Schwester Liebermann sagte: „Das ist bestimmt der Dieter!“ Ich antwortete darauf: „Nein, er kommt erst im Januar zurück!“ Aber es war wirklich der Dieter. Nach einer unterhaltsamen Feier, mit viel Freude, brachten sie mich nach Hause, wie schon oft. Am 17. Januar brachte Dieter mich von einer anderen Feier alleine nach Hause und da der nächste Tag ein Sonntag war, konnten wir unsere Verlobung bekanntgeben.
Ein Jahr später haben wir geheiratet. Damals war vom Tempel in unserer kleinen Gemeinde noch nicht viel die Rede. Wir hatten davon nicht viel Ahnung und so haben wir erst später im Tempel geheiratet, neun Monate bevor Dieter der erste Bischof in Wuppertal wurde. Elder Josef B. Wirthlin hat ihn zum Bischof ordiniert. Dieter bekam damals von der ersten Präsidentschaft die Einladung zur Generalkonferenz nach Salt Lake City, zu allen Versammlungen im Tabernakel.
Ich durfte auch mit und ich saß tief ergriffen und mit tränennassen Augen neben meinem Dieter. Wieder hatte ich ein tief bewegendes Erlebnis. Nach den Versammlungen trafen wir uns jedes Mal Mit Elder und Elisa Wirthlin, welche – bis zu ihrem Tod, im August 2007 – mir eine liebevolle Freundin war. In dieser Woche wohnten wir in SLC bei der Familie Hans Wolferts, die im Dezember 1959 in die USA ausgewandert waren. Kurz nachdem Hans Wolferts mich getauft hatte. In ihrem Haus und von ihnen hörten wir die beiden Wundergeschichten.