Grinaiciai, Litauen
Mein Name ist Gustav Schmidt. Ich bin geboren am 12. Oktober 1927 in Grinaiciai, Litauen. Mein Vater ist Karl Schalnat, mein Stiefvater Hendrich Ginter, von Beruf Landarbeiter, geboren am 15 Dezember 1907, gestorben 3 Juli 1944 in Russland (nach Angaben von Kameraden) Meine Mutter ist Maria Martha Ginter geborene Schmidt, von Beruf Hausfrau, geboren am 24 April 1908, gestorben am 22 Dezember 1978. Meine auf der Flucht während der Zugfahrt am 8 April 1944 geborene Schwester verstarb leider wieder am 16 September 1944 an Nahrungsmangel. Meine Ehefrau ist Christel Schmidt, geborene Freimann, unsere Kinder sind: Ursel Marlis Scheffler, geborene Schmidt, am 25 Oktober 1953 geboren und Doris Carmen Reimann, geborene Schmidt, geboren am 26 Mai 1955.
Meine Eltern wohnten damals im Grenzgebiet Ostpreußen-Litauen, auf der deutschen Seite – meine Großeltern auf der litauischen Seite. Großmutter las täglich in der Bibel, die immer griffbereit auf dem Tisch lag. Irgendwie hat das mein ganzes Leben beeinflusst. Als ich sechs Jahre alt war kam ich zu meinen Eltern, die in Schillfelde, Ostpreußen wohnten – früher hieß es Schillehnen – dort begann meine Schulzeit. Beide arbeiteten auf einem Gut. Als ich etwa 11 oder12 Jahre alt war, holte mich der Gutsverwalter öfters von der Schule ab, um ihm bei bestimmten Arbeiten zu helfen. Insbesondere war das bei der Ernte der Fall. Getreide-, Heu- oder Kartoffelernte, oder sogar zum Mist fahren. Wir Jungens versäumten dann zwar die Schule, hatten aber immer etwas Geld bei uns.
Nach Beendigung der Schulzeit 1942 fand ich eine Lehrstelle in einer Tischlerei. Es gab zwei Tischlereien in unserem Dorf. Ich begann meine Lehre bei August Gudat. Zu jener Zeit war schon Krieg. Wir hörten von den Fliegerangriffen auf Hamburg und viele Tischler wurden von Ostpreußen nach Hamburg geholt, zum Vernageln von Fenster und Türen zur Beseitigung der Fliegerschäden. Einige Male war ich auf diese Weise in Hamburg und einmal davon wohnten wir am „Hansaplatz“ 6 oder 18. So hatten wir uns eines Abends nach einem Kinobesuch zum Schlafen gelegt, als ich plötzlich erwachte und die Glassplitter der Fensterscheibe auf meinem Bett liegen sah. Da hieß es Hemd und Hose ganz schnell in die Hand nehmen und ab in den Keller. Von den durch das Dach gefallenen Brandbomben brannte dann das Haus und wir jungen Leute mussten auf den Dachboden und löschen. Es war Juli 1943. Da habe ich auch den großen Hamburger Brand miterlebt, als ganz Hamburg drei Tage und drei Nächte bombardiert wurde und gänzlich abbrannte.
1944 wieder in Ostpreußen rückte die Ostfront immer näher nach Deutschland. Eines Tages hieß es wir müssen flüchten. Die Leute, die auf dem Gut arbeiteten, bekamen einen Wagen mit Pferden, luden das Notwendigste auf und fuhren Richtung Westen. Mein Vater war im Krieg und so fuhr ich unseren Wagen. Es war ein Leiterwagen für zwei Pferde. Ich war da 16 Jahre alt. Von Unterwegs sind wir sogar noch einmal zurück gefahren um die Ernte einzubringen. Einmal bin ich dabei von russischen Flugzeugen beschossen worden, aber alles ging gut.
Wir wurden dann nach Bartenstein, Ostpreußen umquartiert. Meine Mutter erwartete damals ein Baby das dann auch während der Zugfahrt geboren wurde. Meine Schwester habe ich leider nie gesehen. Später verstarb sie an Nahrungsmangel. Als Flüchtlinge sind wir dann in Weistropp-Klipphausen in Sachsen untergekommen.
Im Januar 1945 wurde ich zum Arbeitsdienst einberufen. Da die Front sich weiter näherte, wurden wir beim Arbeitsdienst mit der ganzen Abteilung mit der Bahn weiter nach Westen verlegt. Während des Transports wurde unser Zug von Flugzeugen angegriffen und beschossen. Unser Zugleiter mit seiner Frau starb dabei, ihre zwei Kinder – etwa sieben und acht Jahre alt – die hinter den Rädern der Waggons Schutz gesucht hatten, blieben am Leben.
Im März 1945 wurde unser Arbeitstrupp von der Wehrmacht übernommen. Als junge Männer von 17 Jahren standen wir dann mit einem Gewehr in der Hand im Schützengraben. Vor uns kreuzten die russischen Panzer und wehe sie sahen einen von uns, dann fuhren sie über den Graben machten eine halbe Umdrehung und man wurde lebendig begraben. Zu jener Zeit habe ich mein Leben in die Hand Gottes gegeben und um Seinen Schutz gefleht.
Anfang Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Wir warfen unsere Gewehre weg und zogen Richtung Westen, wo die Amerikaner mit ihrer Front in unsere Richtung kamen. Junge Männer – die unsere weggeworfenen Gewehre aufgesammelt hatten – boten uns an, uns zu den Amerikanern zu bringen und so befanden wir uns schnell in einem russischen Gefangenenlager. Wir waren gerade 17 Jahre alt und noch Kinder und immer noch viel zu vertrauensvoll. Wir lebten dort im Lager im Freien, wie auf einem Fußballplatz und überlebten nur, indem wir Küchenabfälle aßen. Neben der Küche gab es ein Erdloch für Abfälle, wo auch die Kartoffelschalen entsorgt wurden. Wir sammelten diese heraus, wuschen sie und gaben sie in eine Konservendose zum Kochen. Wir nahmen dazu zwei Ziegelsteine, stellten die Dose dazwischen, machten Feuer und kochten die Kartoffelschalen, die wir dann aßen und dadurch am Leben blieben.
Nach einigen Monaten, etwa gegen Ende 1945, übergaben uns die Russen an die Polen. In langer Kolonne zogen wir durch die Straßen in ein anderes Lager. Durch das Leben ohne Nahrung in russischer Gefangenschaft, waren viele aber zu sehr geschwächt. Wer nicht mehr konnte, setze sich an den Straßenrand und wenn der nächste Posten vorbei kam, erhielt er von diesem einen Kopfschuss, einen Tritt mit dem Fuß und blieb so im Graben liegen. Zuletzt wurden wir in ein Lager nach Warschau gebracht und von dort täglich in Gruppen in die Stadt geschickt, um diese Gebietsweise aufzuräumen.
Weinachten 1945. Es war schon spät und wir lagen schon in unsern Betten, da erschien unser Lagerkommandant. Ein Polnischer Leutnant mit einer Pistole in der Hand und ließ alle raus treten. Wir versammelten uns auf dem Lagerhof. Manche von uns waren barfuss, weil sie eben keine Schuhe mehr hatten und er begann ein Exerziermanöver mit uns durchzuführen. Es dauerte etwa eine halbe Stunde, dann durften wir wieder auf unsere Zimmer. Als Geschenk bekamen wir dann zu Weinachten ein Brot für acht Personen.
In der Nähe von Warschau gab es ein Militärgut. Es nannte sich Warschau-Okeci und ist heute ein Flughafen. Eines Tages suchte man Arbeiter für dieses Gut. Ich gehörte zu den Ausgewählten. Einer wurde zuständig für die Offiziershäuser, einer für die Kühe und ich kam zu den Pferden. Etliche andere wurden für verschiedene andere Aufgaben eingeteilt. Der Gutsverwalter war ein polnischer Unteroffizier und unser Vorgesetzter. Einmal kam ich mit einer Fuhre Heu vom Feld, unser Verwalter und ich saßen oben auf dem Heuwagen. Zu unseren Stallungen und Gebäuden ging es etwas abwärts und um die Kurve. Die Pferde schafften es nicht den Wagen zu halten und der Verwalter und ich stürzten mit dem Heu in den Graben. Er brach sich ein Bein, während ich heil davon kam.
Jeden Tag brachte ich für eine Militärküche die Milch mit einer Kutsche nach Warschau. Es gab dort immer noch ein Gefangenenlager von Deutschen Soldaten. Nachdem ich gehört hatte, das Gefangene nach Hause entlassen wurden, fuhr ich im Anschluss meiner Milchfuhre mit meiner Kutsche zu diesem Lager, um herauszufinden wann wir entlassen würden. Man sagte mir, dass wir auf diesem Gut schwarz geführt werden und niemand wüsste etwas von unserer dortigen Existenz, und wenn wir nach Hause wollten, müssten wir zum Lager kommen und wenn wir erst im Lager wären, würde man uns auch nicht wieder nach dem Gut herausgeben können.
Am nächsten Morgen zogen der für die Kühe Zuständige, Willi Dähmlow (der aus Elmshorn kam) und ich, mit unserem Handgepäck frühmorgens durch Warschau zu diesem deutschen Gefangenenlager. Man versuchte uns eine kurze Zeit später wieder zurück zu holen, aber es gelang ihnen nicht. Darauf wurde ich im Juni 1949 aus polnischer Gefangenschaft entlassen. Über Friedland fuhr ich nach Flensburg, wo ich einen Onkel wohnen hatte. Es folgte eine Zeit in der ich Arbeitslosengeld erhielt, aber auch viele Beschäftigungen verschiedener Art wie Straßenbau, Deichbau, in einem Möbelladen als Tischler, in einer Brillenschleiferei und schließlich bei der Bundesbahn wo ich dann als Zugführer ausgebildet wurde und als solcher dreißig Jahre tätig war.
Während meiner russischen und polnischen Gefangenschaft hatte man uns vorgehalten, was wir als „Deutsche“ an Verbrechen begangen hätten, was bei mir als junger Mann dazu führte, dass ich befürchtete, nie mehr frei gelassen zu werden. Durch meinen Glauben an Gott, den ich eigentlich schon immer hatte, versprach ich Ihm, wenn ich je aus dem Lager heraus käme, würde ich Ihm mit meinem ganzen Leben dienen und dazu haben sich seither täglich viele Möglichkeiten ergeben.
1950/51 lernte ich dann auch meine spätere Frau und die Kirche kennen. Sie hatte merkwürdiger Weise nie Zeit für mich. Am Sonntag nicht, am Mittwoch nicht und auch kaum Zeit für gemeinsame Unternehmungen. Es dauerte eine ganze Weile bis ich den Grund herausfand, warum das so war, weil sie nämlich zu den Versammlungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ging. Nach meinem ersten Besuch der Gemeinde in Flensburg, folgten dann aber die Belehrungen durch Missionare und ich fand Antworten, die mir schon immer von großer Bedeutung waren. Zum Beispiel: Woher kommen wir und was ist der Sinn unseres Lebens, und wohin gehen wir nach diesem Erdenleben. Nach einem Jahr – am 6 Juli 1952 – war ich dann bereit und ließ mich ebenfalls taufen.
Nachdem ich mich dann hab taufen lassen, war ich mindestens dreimal Zweigspräsident in Flensburg. Ich denke es gibt keine Berufung in der ich nicht tätig war. Ich hoffe, dass ich den Herrn nicht enttäuscht habe mit meinem Versprechen Ihm mit meinem weiteren Leben zu dienen. Heute (2008) bin ich 81 Jahre alt, 1994 hatte ich Magenkrebs, 2002 hatte ich einen Schlaganfall und heute freue ich mich, noch immer in der Lage zu sein alle Versammlungen zu besuchen und so dem Herrn dienen zu können.
Durch mein ganzes Leben zieht sich der rote Faden von Gottes Führung – dem Schutz und Segen des Himmels, der mich mein Leben lang begleitet hat.