Klöstitz, Bessarabien

mormon deutsch woldemar schumaierMein Name ist Woldemar Schumaier. Ich wurde am 17. April 1938, Ostersonntagmorgen, in Klöstitz in Bessarabien am Schwarzen Meer geboren. Bessarabien war eine deutsche Kolonie, die von deutschen Auswanderern aus dem Raume Stuttgart/Waiblingen gegründet wurde. Zur Zeit meiner Geburt stand die Kolonie unter russischer Verwaltung. Davor gehörte es zu Rumänien. In der rumänischen Wehrmacht verrichtete mein Vater, Friedrich Schumaier, noch seinen Wehrdienst und beherrschte daher auch die rumänische und die russische Sprache.

Unseren Vorfahren war es gelungen ein blühendes Gemeinwesen aufzurichten, mit deutscher Selbstverwaltung, deutschen Schulen und eigenen Kirchen. Die meisten von uns gehörten dem evangelisch-lutherischen Glauben an. Mein Vater betrieb als Schuhmachermeister eine Schuhmacherwerkstatt.

Dann kam das Jahr 1940. Hitler hatte mit Stalin einen Vertrag geschlossen, dass alle deutschstämmigen Siedler in Bessarabien „Heim ins Reich“ geführt werden sollten. Es wurde vereinbart, dass jede deutsche Aussiedlerfamilie alles, was sie an eigenem Besitztum auf einem Pferdewagen unterbringen konnte, mit sich nehmen durfte. Jeder Deutsche, der nicht ins Deutsche Reich heimkehren wollte und dort bleiben wollte, verlor damit seine deutsche Staatsbürgerschaft.

So beluden meine Eltern ihren Pferdewagen mit ihrem Hab und Gut, das sie mitnehmen durften und fuhren in diesem Jahr mit ca. 80 anderen Treckwagen in die Hafenstadt Odessa. Dort wurden die Habseligkeiten auf ein Schiff geladen und dann ging es per Schiff die Donau aufwärts nach Deutschland. Für ca. ein Jahr verblieben wir in einem Aussiedlerlager in Thüringen und wurden dann im Jahr darauf im Wartegau in Polen angesiedelt, das Hitler mit seinen Truppen zuvor erobert und nun in Besitz genommen hatte.

Von hier aus wurde dann mein Vater, nachdem er sich auch hier wieder eine Schuhmacherwerkstatt eingerichtet hatte, zur Wehrmacht eingezogen und als Aussiedler mit russischen und rumänischen Sprachkenntnissen als Dolmetscher an die deutsche Ostfront geschickt. Von den schweren Kämpfen an der Ostfront, in die die Deutschen Truppen dort verwickelt waren und die viele, viele tausend Menschenleben forderten erzählte mir mein Vater nachfolgendes Erlebnis, das auch mein Leben nachhaltig beeinflussen sollte.

Während dieser schweren Kämpfe geriet der Truppenteil meines Vaters, dem er als Dolmetscher angehörte, unter starken Artilleriebeschuss, der viele Stunden anhielt. Die deutsche Truppe hatte sich in einen nahe gelegenen Wald zurückgezogen und dort ihre Zelte aufgestellt. Während der Nacht geriet auch dieses Nachtlager unter starken Beschuss. In dieser Nacht, so berichtete mein Vater, sprach er, wie er es von zu Hause gewohnt war und in seiner Familie und auch hier an der Front weiter pflegte, ein Gebet, in dem er seinem Himmlischen Vater ein Versprechen gab. Er betete: „Vater im Himmel, wenn ich hier lebend wieder herauskomme und eines Tages meine Familie wieder finde, dann werde ich meine ganze Familie zu dir bringen und dir dienen“.

In dieser Nacht fanden über tausend Soldaten den Tod. Mein Vater, schwer verletzt, überlebte. In jenen letzten Kriegstagen wurde mein Vater in ein Lazarett in Schleswig gebracht und nach Ende des Krieges nach Heide entlassen. Hier fand auch unsere Familie wieder zusammen. Nachdem wir eine gemeinsame Wohnung bezogen hatten, fing mein Vater gleich an, sein Versprechen einzulösen. Er nahm mit vielen verschiedenen Glaubensrichtungen Kontakt auf, um herauszufinden, welche von ihnen die Richtige sei. Aber weder die Jehovas Zeugen, noch die Baptisten und andere fanden seine Zustimmung. Das alles war nicht das, was er suchte. Dann kamen die Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an unsere Tür. Mein Vater bat sie herein und ließ sich von ihnen belehren. Sie lehrten in den nächsten Zusammentreffen Grundsätze des Evangeliums, gaben Zeugnis vom Buch Mormon und überreichten meinem Vater das Traktat der Joseph Smith Lebensgeschichte und forderten meinen Vater auf, das zu lesen.

Nachdem mein Vater die Joseph Smith Lebensgeschichte gelesen hatte, empfing er sein Zeugnis über diese Wahrheit. Das war es, was er gesucht hatte. Das war es, wohin er seine gesamte Familie bringen wollte, wie er es in jener Kriegsnacht seinem Gott versprochen hatte. Fortan besuchte er die Versammlungen dieser Gemeinschaft. Er hat nie versucht, einen von uns zu überreden, mit ihm zu gehen, aber er hat immer begeistert Zeugnis gegeben und uns eingeladen, dass Evangelium zu untersuchen und seine Freude darüber mit ihm zu teilen. Ich weiß, dass mein Vater sehr viel dafür gebetet hat, wie er mir später in einem Gespräch einmal bestätigte, dass er seine Familie zum Herrn bringen könnte. So schlossen sich eine meiner beiden Schwestern im Juli 1956 der Kirche an und am 11. November des gleichen Jahres meine zweite Schwester und ich.

Auch meine eigene Bekehrung verdanke ich meinem Vater, der hier mit viel Liebe und Gottvertrauen agierte. Während der Zeit, da mein Vater durch die Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage belehrt wurde, war ich ein junger Mann von 17 Jahren. Ich spielte zu der Zeit aktiv Fußball im Verein. Da wir meistens am Sonntag unsere Fußballspiele austrugen, hatte ich natürlich keine Zeit einmal der Einladung meines Vaters, die schönen Versammlungen der Kirche mit ihm zu besuchen, anzunehmen. Das war für mich eine willkommene Ausrede, da ich mich zu der Zeit nicht viel mit Gott und Kirche beschäftigte. Ich spielte ja Fußball. Ich glaube, mein Vater hat zu der Zeit viele Gebete zum Himmel geschickt, um einmal die Gelegenheit zu haben, dass ich seine Einladung zum Versammlungsbesuch annehmen könnte. Und siehe da, der Tag kam. Ich wurde während eines Fußballspiels verletzt und musste ca. vier Wochen pausieren. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kam ich zu Hause an, nachdem mich der Vereinsarzt medizinisch versorgt hatte. Statt mich an der Haustür besorgt oder mitfühlend zu empfangen, stand mein Vater in voller Lebensgröße in unserer Haustür und fragte mich nicht, was passiert war, sondern lächelte mich ganz liebevoll an und sagte: „Siehst du mein Sohn, nun hast du Zeit, mit mir am Sonntag die Versammlung der Kirche zu besuchen.“ Ich wollte endlich Ruhe haben und besuchte am Sonntag mit ihm und unserer Familie die Versammlung der Kirche, denn ich war der Einzige, der noch keine Versammlung besucht hatte.

Was dann geschehen ist, kann ich nicht so genau beschreiben. Ich besuchte die Versammlung, und als ich die Kirchenlieder hörte, überkam mich ein besonderes Glücksgefühl. Mir gefielen diese Lieder, ich mochte sie. So etwas hatte ich während meiner ganzen Konfirmandenzeit in der evangelisch lutherischen Kirche nicht erlebt. So besuchte ich Sonntag für Sonntag mit meinen Eltern und meinen Schwestern die Versammlungen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Der Geist erfasste mich mehr und mehr. Nach gut vier Wochen, meine Verletzung war ausgeheilt, sagte mein Vater zu mir: „Nun mein Sohn musst du dich entscheiden – entweder für den Fußball und gegen die Kirche des Herrn oder gegen den Fußball und für die Kirche des Herrn.“ Ich entschied damals für die Kirche. Ich gab meinen Spielerpass an meinen Verein zurück und kehrte nicht auf den Fußballplatz zurück, denn ich konnte es nun nicht mehr mit meiner neu gewonnenen Erkenntnis vereinbaren am Sonntag Fußball zu spielen und nicht die Versammlungen der Kirche zu besuchen. Heute weiß ich, das war die beste Entscheidung meines jungen Lebens. Wie dankbar bin ich doch heute der liebevollen Einladung meines Vaters gefolgt zu sein, der schon damals erkannte, was uns auf ewig glücklich machen würde.

So ließen sich dann auch meine Mutter und mein Vater am 17. November 1957 taufen und schlossen sich endgültig der Kirche an. Mein Vater und meine Mutter deshalb zum Schluss, weil mein Vater erst seine Kinder zum Herrn bringen wollte, und dann sich selbst. Meine Eltern sind nun schon einige Jahre verstorben. Inzwischen haben wir eigene Familien und unsere Kinder haben auch schon wieder eigene Familien. Bis auf eine Schwester sind alle Familien in der Kirche aktiv, haben viele Berufungen erfüllt und haben im Tempel geheiratet. Unsere Söhne haben jeder eine Vollzeitmission erfüllt. Meine Frau und ich haben nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben für zwei Jahre im Frankfurt-Tempel gedient. Wir fühlen uns alle sehr gesegnet.

Noch heute und immer wieder, wenn ich daran denke, fühle ich tiefe Dankbarkeit für meinen Vater und sein großes Vorbild. Sein Versprechen, das er in einer wirren Kriegsnacht seinem Himmlischen Vater gab, hat mein Leben und das Leben unserer ganzen Familie nachhaltig beeinflusst und brachte uns allen reichen Segen und dafür werde ich meinem Vater, Friedrich Gottlieb Schumaier immer dankbar sein.