Wildenbruch, Kreis Greifenhagen, Pommern
Mein Name ist Ortrud Antonie Johanna Vauk. Ich bin am 6. Februar 1925 in Wildenbruch (heute Swobnica), Kreis Greifenhagen, in Pommern geboren. Mein Vater heißt Erich Vauk und ist am 9. September geboren. Meine Mutter heißt Charlotte Vauk, geborene Vauk, weil mein Vater und meine Mutter Cousin und Cousine sind. Sie ist am 12. April geboren. Ich habe noch zwei Geschwister. Meine älteste Schwester heißt Eva, verheiratete Nigge, und ist am 9. September 1923 geboren. Meine jüngste Schwester heißt Ingeborg verheiratet Schminke und ist am 23. März 1927 geboren.
Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, weil uns nicht nur die Liebe und Fürsorge der Eltern erzog, sondern auch die Liebe der Großeltern, Tanten und Onkel. Mein Vater war Hauptlehrer in Wildenbruch. Er starb schon sehr früh.
1933, als Adolf Hitler an die Macht kam, wurde mein Vater nach Kronheide strafversetzt, weil er die Hakenkreuzfahne nicht sofort hissen wollte. Kronheide war ein kleiner Ort, den wir Kinder sehr liebten. Wir hatten soviel Freiheit und wir konnten uns richtig austoben. Dort hatten wir einen großen Schulhof, auf dem große Bäume wuchsen. Oben in den Bäumen hatten wir unsere kleinen Nester, die wir gerne aufsuchten und darin spielten.
1937 ist mein Vater an einer Kriegsverletzung aus dem ersten Weltkrieg in Stettin gestorben. Er hatte einen Freund in Kronheide, der Arzt war. Leider hat dieser Arzt erst auf Ischias getippt und hat ihn dementsprechend behandelt. Es war aber seine Schussverletzung, er hatte ein Explosivgeschoß im Oberschenkel. Das haben beide übersehen. Als er endlich nach Stettin ins Krankenhaus kam, ging es erst gut. Er wurde operiert, aber dann stellte sich heraus, dass er eine Blutvergiftung bekommen hatte. Daran ist er gestorben.
Wir sind dann nach Stettin umgezogen und dort bin ich mit meinen Geschwistern in die Arndt-Mädchen-Mittelschule gegangen. Meine Großeltern zogen mit zu uns. Wir haben in einer großen Wohnung zusammengewohnt. Mein Großvater sollte vielleicht ein bisschen den Vater ersetzen. Aber das klappte nicht so ganz. Mein Großvater, der Lehrer war, fühlte sich in Stettin sehr alleine. Alle seine Freunde und all die Schüler, die ihn immer begrüßten, fehlten ihm und er war in Stettin sehr einsam. Er ist bald gestorben. Wir hatten eine sehr schöne Kindheit. Meine Mutter war immer für uns da. Sie brauchte nicht zu arbeiten, weil sie die Hauptlehrerwitwen-Pension und die Kriegerwitwen-Rente bekam. Somit ging es uns immer sehr gut.
Als der Krieg ausbrach, kam es schlimmer. Die Bomben fielen und wir wurden zwei Mal in Stettin ausgebombt. Nach vielen Irrfahrten landete ich in Dänemark im Internierungslager Hoewelte. Bevor ich dorthin kam, war es sehr aufregend und anstrengend.
Ich arbeitete beim Postscheckamt, das zum Teil nach Kohlberg evakuiert wurde. Als der Russe kam, wurden wir mitten in der Nacht aufgefordert: „Aufstehen, aufstehen, der Russe kommt!“ Wir hatten glücklicherweise schon etwas gepackt. Für den Fall eines Falles hatte ich mich mit zwei Kollegen verabredet, weil wir zusammen fliehen wollten. Wir haben uns dann auch getroffen, wir hatten nur einen Rucksack, das Nötigste. Wir wussten nicht, wie wir wegkommen sollten und gingen eine Straße entlang. Man sagte uns: „Hier könnt ihr nicht gehen, hier kommt der Russe“. Wir wandten uns einer anderen Straße zu und man sagte: „Hier könnt ihr nicht gehen, hier kommt der Russe.“ Dann sind wir in der Stadt umhergeirrt und kamen zu einem Haus. Da sammelte man die Unterlagen von einem Büro der NSDAP auf einen kleinen Lastwagen. Wir fragten, ob sie uns mitnehmen könnten, wir wären nur zu dritt und hätten ganz wenig Gepäck. Sie sagten: „Nein, können wir nicht“. Wir haben uns gefragt: „Was machen wir jetzt?“ Einer antwortete: „Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ihr geht den Russen mit einem Blumenstrauß entgegen, oder ihr geht ins Wasser“. Das war natürlich nicht ermunternd, aber wir hatten ein Stichwort „Wasser“. Kohlberg lag am Hafen, am Meer. So fiel uns der Hafen ein und die Möglichkeit, dass im Hafen Schiffe bereitliegen. Wir sind zum Hafen gegangen und tatsächlich kamen uns die Matrosen von einem Handelsschiff schon entgegengelaufen und halfen uns auf das Schiff. So haben wir ein paar Mal Anlauf genommen, um nach Eckernförde zu kommen, wo eine Freundin Verwandte hatte.
Unterwegs hatten wir sehr viel Pech. Wir waren bis Swinemünde gekommen und dann lief das Schiff nach Eckernförde aus – dachten wir. Auf See gab es plötzlich einen fürchterlichen Ruck und wir dachten, wir wären auf eine Mine gelaufen. Wir drei waren unten im Schiff in der kleinen Pantry, das ist die Durchreiche von der Küche zur Offizierskabine, wo die Offiziere essen. In dieser Offizierskabine waren nur Mütter mit kleinen Kindern untergekommen. Gegenüber war die Kabine vom ersten Offizier. Als das Schiff ruckte habe ich gesagt: „Die haben aber stark gebremst“. Sie haben mich ausgelacht, weil ein Schiff doch nicht bremst. Jedenfalls kam der erste Offizier raus, die Augen ganz groß aufgerissen und sagte: „Alle nach oben, schnell nach oben!“ Wir haben alles stehen und liegen lassen und sind nach oben gelaufen, weil wir dachten, jeden Augenblick gibt es eine Explosion. Als wir eine ganze Weile oben standen, legte sich das Schiff immer weiter auf eine Seite. Ich dachte bei mir, meine Güte, da sind noch so viele Frauen mit ihren Babys unten. Sie kamen alle nach oben mit ihren Kindern und standen an Deck. Man müsste doch für sie irgendetwas tun, dachte ich. Ich bin dann nach unten geschlichen und habe Decken geholt, und Sicherheitsnadeln habe ich auch gefunden. Oben habe ich dann die Mütter zusammen mit den Kindern in die Wolldecken gewickelt, damit sie sich gegenseitig ein bisschen Wärme geben konnten. Wir hörten, dass wir nicht auf eine Mine gelaufen seien, sondern nur auf ein Wrack. Von den Matrosen unten waren einige so beherzt, dass sie das Loch tatsächlich abgedichtet haben. Wir ahnten nichts davon. Oben gingen die Sirenen los. Wenn ich das noch höre, ist das furchtbar. Es war eine ganz große Aufregung. Schwimmwesten wurden verteilt. Sie reichten natürlich nicht aus für all die Flüchtlinge. Zu dritt hatten wir eine Schwimmweste, wir hatten immer zusammengehalten. Man sagte uns, dass wir uns daran klammern sollten. Uns war nicht klar, ob die uns halten würde aber wir haben uns eine Schwimmweste genommen. Die Freundin, die nicht schwimmen konnte, hat sie bekommen. Glücklicherweise hatte ich in der Schule schon den „Totenkopf“ geschwommen, ich konnte mich eine Stunde über Wasser halten.
Endlich kamen dann auch die Rettungsboote von anderen Schiffen und von Swinemünde, um uns zu holen. Wir wurden zurück nach Swinemünde gebracht und im Schützenhaus untergebracht. Man versorgte uns gut. Man gab uns zu essen und zu trinken. Die größte Überraschung war, dass die Matrosen kamen und uns unsere Sachen brachten, die wir schon abgeschrieben hatten.
Dann aber mussten wir den größten Bombenangriff auf Swinemünde erleben. Am nächsten Tag haben wir nochmals versucht, nach Eckernförde zu kommen. Wir waren mehrere Tage unterwegs, weil auf normalem Weg nichts mehr ging. Von Swinemünde fuhren wir mit einem Wehrmachtsauto nach Usedom, dann mit der Bahn im Güterwagen, die Nacht hindurch. Dann eine Nacht in einem Bahnhof, eine Nacht in einer Schule und eine Nacht sind wir durchgefahren. Endlich waren wir am Ziel. In Eckernförde hatten wir die Verwandten von der Freundin gefunden. Sie haben uns sehr lieb aufgenommen und uns wirklich sehr verwöhnt. Wir haben sogar eine Silberhochzeit miterlebt und es gab Kuchen. Nach drei Wochen war ich so gut erholt, dass mich der Gedanke, die Sorge um meine Familie stark genug machte, mich alleine auf den Weg zu machen, um nach ihnen zu suchen.
Für den Fall, dass wir uns verlieren, hatten wir einen brieflichen Treffpunkt bei Freunden meiner Eltern ausgemacht, bei Lehrer Kunze, Wilhelmstraße, Demmin in Pommern. Die Post konnte nicht mehr zugestellt werden. So wollte ich sie also aufsuchen. Auf meiner Bahnfahrt dorthin kam ich über Pasewalk dem Wohnort von lieben Verwandten. Ich stieg aus und hoffte, sie anzutreffen, oder auch von meiner Familie etwas zu erfahren. Doch es kam alles ganz anders.
Meine Verwandten waren gestorben und ich fand nur meine Freundin aus Stettin mit ihrer Mutter und noch einer Bekannten dort vor. Die Freundin mit ihrer Mutter sorgten sich sehr um ihre kleine Tochter, die sich noch in einem KLV-Lager (Kinderlandverschickungslager) in Sellin auf Rügen aufhielt.
Nach ein paar Tagen Rast wollte ich weiter, doch es gab noch einige Verzögerungen. Schließlich fuhren wir mit der Bahn und erlebten, dass russische Flugzeuge unseren fahrenden Zug beschossen. Der Zug blieb stehen und viele Menschen stiegen aus, weil sie einen Bombenangriff befürchteten. Aber dazu kam es nicht. Wir kamen bis Sellin und holten die kleine Tochter aus dem KLV-Lager ab. Meine Freunde wünschten nun ernsthaft, dass ich bei ihnen bleiben sollte. Sie wollten in Sellin bleiben. Mir war aber klar, dass der Russe die Insel einnehmen würde, da wir doch schon wieder die Kampfhandlungen hörten. Mir war auch klar, dass ich meine Familie dann nicht finden könnte, wenn ich auf der russischen Seite bliebe. Doch wie konnte ich den Russen entkommen? Meine Freundin fand einen Weg. Alle Rotkreuzschwestern, die solange die Kinder im KLV-Lager betreut hatten, sollten mit einem kleinen Schiff in den Westen nach Swinemünde gebracht werden. Sie wusste die Abfahrt, den Abfahrtsort und die Zeit und sie gab mir den Rat, mich einfach unter die Schwestern zu mischen. Ich war ihr sehr dankbar und es war ein besonderer Abschied. Es war sehr abenteuerlich, aber es gelang, wie geplant. Ich fuhr mit als Blinder Passagier. Sie haben die Schwestern nicht gezählt, sie haben sie nur auf das Schiff geschleust und ich bin mitgegangen. Das war die einzige Lösung.
Es kamen aber auch noch junge Flakhelfer gelaufen, die sich absetzen wollten und man wartete auf sie, solange, bis es nicht mehr zu verantworten war. Ich war erleichtert, als wir abfuhren, weil mir klar wurde, dass man mich auch nicht mehr zurückgewiesen hätte, wenn man meinen Plan erkannt hätte. Unser Schiff kam heil in Swinemünde an.
Die Suche nach meiner Familie war leider erfolglos geblieben. Wir hatten in Kolberg vom Postscheckamt schon für den Fall einer Flucht, wenn der Russe käme, einen Marschbefehl bekommen. Wir sollten uns in Bargteheide bei Hamburg (das ist ein Auffanglager gewesen, auch eine Zweigstelle vom Postscheckamt) melden. Die Dienststelle in Bargteheide nahm unsere Marschbefehle in Empfang, hatte aber keine Arbeit für uns. Somit hatte ich kein Ziel mehr und wollte zurück zu meinen Freunden nach Schleswig Holstein. Es fuhr aber kein Zug mehr. So musste ich wieder auf ein Schiff gehen. Es blieb mir keine andere Wahl. Ich war sicher, es würden nur ein paar Stunden sein, dann hätten wir in Eckernförde wieder festen Boden unter den Füßen. Doch es kam ganz anders.
Schleswig Holstein war bereits mit Flüchtlingen überfüllt und man nahm keine mehr auf. So verhandelte man mit Schweden und Dänemark. Deshalb lag unser Schiff drei Tage auf See. Schließlich erklärte sich Dänemark bereit, uns aufzunehmen. Das war anerkennenswert, hatten doch unsere Soldaten das Land einfach besetzt. Ich war zwanzig Jahre alt. Allein unter Fremden in einem fremden Land. Ich rätselte, wie ich da zu Recht kommen sollte. Ich konnte die Sprache nicht. Wie konnte ich meinen Lebensunterhalt verdienen? Doch alle Sorge war umsonst. Wir kamen in ein Internierungslager. Unser Schiff lag erst noch ein paar Tage in Hafen von Kopenhagen, dann brachte man uns mit Bussen nach Hoewelte in eine ehemalige deutsche Kaserne. Die Gruppe, zu der ich gehörte, wurde in dem ehemaligen Reitstall, der ganz und gar mit Stroh ausgelegt war, untergebracht. Wir waren dankbar, dass man für uns sorgen wollte, doch unsere Freunde waren sie sicher nicht. Stacheldraht umrahmte unser Lager. Dänische Soldaten marschierten mit aufgepflanzten Gewehren rundherum. Weil die sanitären Anlagen für so viele Menschen nicht ausreichten, wurden die anwesenden Männer dazu herangezogen, Latrinen zu bauen. Die Soldaten, die um das Lager marschierten, amüsierten sich und fotografierten sogar. Nach Möglichkeit wurden diese Plätze nur bei Dunkelheit aufgesucht. Gewaschen haben wir uns anfangs in einer Garage. Unsere Waschschüssel war ein Stahlhelm. Wir wurden gegen alle möglichen Krankheiten geimpft und gegen Läuse und Flöhe eingepudert. Ich habe aber nie welche gehabt. Trotzdem brach Typhus und Cholera aus. Ich hatte meinen Wohnplatz auf dem Stroh mit einer Wolldecke abgegrenzt. Am Kopfende lag ein Federkissen mit einem bunten Halstuch bedeckt. Auf meinem kleinen Koffer, der neben mir stand, lag mein schönstes Taschentuch. Darauf hatte ich ein paar Familienbilder gestellt, die mich daran erinnerten, wer ich war und woher ich kam. Als ich dann draußen noch eine Konservendose fand und ein paar Blumen, stellte ich sie dazu. So hatte ich doch einen ruhenden Pol, meinen Platz. Den Mitbewohnern gefiel das. Sie blieben oftmals davor stehen.
Die Verpflegung war nicht gerade reichlich. Aber einmal in der Woche bekamen wir einen besonderen Leckerbissen. Für mich wurde es ein Stückchen Kuchen, das war eine dicke frische Weißbrotscheibe, ein kleines Stückchen gute Butter und dazu etwas brauner Zucker. Köstlich. Ich strich die ganze Butter auf die Scheibe Brot und streute den Zucker darauf. Der Kuchen war fertig und schmeckte. Ich genoss das Ganze in meiner guten Stube. Nach sechs Wochen wurde dieses Lager aufgelöst und man brachte uns mit Bussen ganz in den Norden, nach Ålborg Ost, einem ehemaligen deutschen Kasernenkomplex. Man brachte uns in den Holzbaracken unter, die vorher von Soldaten bewohnt waren. Unsere Zimmer waren recht klein und dunkel. In jeder Zimmerecke standen drei Etagenbetten, also Betten für zwölf Personen. Alle diese Betten wurden auch belegt. Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch und vor jedem Hochbett ein Stuhl und zwischen den Betten standen noch vier schmale Kleiderschränke. Sicher tat man, was man konnte. Wir waren dem Krieg entronnen und waren zufrieden. Wir waren aber auch sehr geschwächt von all den Strapazen und Aufregungen. In drei Monaten hatte ich hintereinander in diesem Lager erst Scharlach, dann Diphtherie im Krankenhaus Ålborg, und dann noch Gelbsucht. Damit kam ich in die Krankenbaracke im Lager Ålborg Ost.
Der Aufenthalt in der Krankenbaracke verhalf mir später noch zu einer willkommenen Veränderung. Bevor man aber erkannte, dass ich an Gelbsucht erkrankt war, lag eine Zeit des Rätselratens. Ich hatte keinen Appetit, war immer müde und blieb im Bett, weil ich mich zu schwach fühlte. Somit wurde ich schließlich zur Beobachtung in die Krankenbaracke verlegt. Ich lag in einem Zimmer mit noch zwei Patientinnen und das Rätselraten ging weiter. Der Arzt äußerte sich bei der Visite nicht, aber die Zimmergenossinnen hatten schon eine Diagnose, sie ist schwanger. Ich war natürlich sehr unglücklich darüber. Wie konnte ich ihnen glaubhaft machen, dass ich noch mit keinem Mann zusammen war. Nach einigen Tagen kam dann die Rettung, der Arzt kam zur Visite, schaute mir in die Augen, die er vielleicht immer schon beobachtet hatte, und sagte: „Wir haben einen Kanarienvogel. Sie haben Gelbsucht“. Ich fühlte mich so frei, endlich war meine Krankheit offensichtlich. Ich war weder faul krank, noch schwanger. Als es mir dann wieder besser ging, durfte ich aufstehen. In der Krankenbaracke war zu der Zeit auch eine Entbindungsstation eingerichtet und nur ein paar Zimmer für Krankheitsfälle aus dem Lager reserviert. Mich zogen die kleinen Babys an, aber auch die unüberhörbar leidenden Mütter, wenn die Hebamme sie ihrem Schicksal überließ. Diese begrüßte das sehr und als ich gesund war, beantragte sie, dass ich in der Krankenbaracke wohnen sollte, um ihr zu helfen. So habe ich wohl bei zehn Babys Hilfestellung leisten dürfen. Ich siedelte also um, und das war eine wunderbare Verbesserung meiner Lage.
Jetzt waren wir vier junge Frauen in einem sonnigen, sauberen Zimmer und wir verstanden uns gut. Je besser wir einander kannten, umso mehr hatten wir Spaß miteinander. Die anderen drei hatten die Aufgabe, den Patienten das Essen zu bringen, in der Küche der Köchin zu helfen und die Patientenzimmer zu säubern. Wenn ich keine werdende Mutter zu betreuen hatte, oder bei der Geburt helfen musste, half ich bei der Betreuung der Patienten. Es tat so gut, wieder in einer sauberen Umgebung zu leben. Wir schliefen in weißbezogenen Betten und hatten Möbel für persönliche Sachen. Wir bekamen, genau wie die Patienten, gutes Essen sauber zugeteilt und reichlich. Nur manchmal meldete sich das Heimweh.
Ich wusste ein halbes Jahr nichts von meiner Familie und sie nichts von mir. Es war eine schlimme Zeit. Wir durften nicht schreiben und bekamen somit auch keine Post. Aber ich versuchte es trotzdem mit einer Krankenschwester aus der Krankenbaracke, die nach Deutschland heimkehren durfte, einen Brief nach Deutschland zu schmuggeln. Wir hatten innerhalb der Familie einen brieflichen Treffpunkt ausgemacht, falls wir uns verlieren würden. Tatsächlich bekam ich auf diesem Wege wieder Kontakt mit meiner Familie. In den gesammelten Briefen aus Dänemark und nach Dänemark kann man die Freude nachlesen.
Als ich dann nach 21 Monaten, wieder zu meiner Familie war, auch Arbeit beim Fernmeldeamt bekommen hatte, fiel es mir doch schwer mich „einzugewöhnen“; ich suchte nach dem Sinn des Lebens. Wem konnte man den noch vertrauen? Selbst von meiner Schwester wurde ich bitter enttäuscht. Ich fühlte mich so schwach und der Arzt stellte 75% Überfunktion der Schilddrüse fest. Zu der Zeit hatte ich noch gerne eine Zigarette nach dem Essen geraucht. Doch ich konnte feststellen, dass ich mich danach noch schwächer fühlte und gab es dann auf.
In dieser Zeit griff der Herr ein! So sehe ich es heute. Die Missionare wurden zu uns geschickt. Sie erzählten mir später, sie hätten das Gefühl, sie sollten in unser Haus gegen. Meine Mutter und ich wohnten in einen Zwei-Familien-Haus in Göttingen. Ich hörte eines Tages, dass die anderen Mieter sehr laut jemanden abwiesen. Trotzdem klingelte es bei uns. Ich schaute aus dem Fenster, um zu wissen wen ich empfangen würde, es waren die Missionare. Sie stellten sich trotz allem – noch auf der Straße – als Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vor, die Menschen guten Willens suchten. Ich war beeindruckt von ihrer Beharrlichkeit – ich hatte eigentlich nur den Wunsch etwas wieder gutzumachen – und ließ sie ein. Doch ich sagte ihnen, dass ich evangelisch wäre und nicht die Absicht hätte die Kirche zu wechseln. Doch es kam anders. Ich brauchte ja wirklich den Sinn des Lebens ganz nötig. Die Missionare kamen dann jede Woche und ich stellte fest, dass sie mir wirklich den Sinn des Lebens erklärten, den Plan des Herrn darlegten.
Auch konnte ich in meinem Spiegelbild bemerken, wenn ich sie zur Tür begleitete, dass sich meine Ausstrahlung verändert hatte. Die Liebe des Herrn, die die Missionare lehrten, strahlten sie auch aus und sie nahm auch mich gefangen. Das konnte ich sehen und auch spüren. Es war etwas Besonderes mit mir geschehen. Ich beobachtete mich selbst sehr interessiert und musste feststellen, dass mich dieses besondere Gefühl nach ein paar Stunden wieder verließ. Die Missionare erklärten mir später, das wäre der Heilige Geist des Herrn, der die Missionare begleiten würde. Als sie weg waren, habe ich über alles gründlich nachgedacht.
Alle vorherigen Erlebnisse in meinem Leben hatten mich sehr vorsichtig werden lassen. Wem konnte ich noch vertrauen? Ich konnte mich nicht mehr fallenlassen. Die Missionare sahen, dass ich mit mir kämpfte, aber sie drängten mich zu nichts. Sie wollten mir helfen und machten den Vorschlag, dass wir doch einmal zusammen fasten und beten sollten, damit der Herr mir persönlich eine Antwort geben könnte, ob dies seine Kirche ist und ob das Buch Mormon wahr ist. Fasten bedeutet, vierundzwanzig Stunden nichts essen oder trinken. Ich stimmte zu. Ich arbeitete damals in der Telegrafie und ich hatte Kopfschmerzen vor Hunger. Ich wusste, ich sollte beten, aber wo? Schließlich ging ich auf die Toilette, riegelte mich ein, kniete mich hin und betete. Wie und wann die Antwort kommen würde? Ich hatte keine Ahnung. Am selben Tag ereignete sich nichts, aber am nächsten Tag, als ich gar nicht daran dachte, hatte ich plötzlich ein so warmes Gefühl im Herzen. Ich wusste, dass kam vom Herrn und ich wusste auch, dass dies seine Kirche sein musste, dass dies seine Lehre ist. Ich wusste auch, dass ich nun handeln müsse, sonst zieht sich der Heilige Geist wieder zurück. Endlich, nach neun Monaten, konnte ich mich vertrauensvoll in seine Arme fallen lassen. Leider waren die Missionare, die mich so geduldig und verständnisvoll geführt hatten, nicht mehr in Göttingen. Ob die Nachfolger es geschafft hätten? Sie waren gar nicht geduldig. Am 6. Juli 1960 wurde ich getauft.
Jetzt sind achtundvierzig Jahre vergangen und ich habe nie bereut, mit dem Herrn einen Bund geschlossen zu haben. Er hat mich durch alle Stürme begleitet und geführt. Er war und ist immer noch mein Berater, Beschützer, Führer und Tröster. Er ist wahrhaftig mein allerbester Freund.
Rückblickend kann ich feststellen, dass ich immer wieder in meinem Leben in gleiche Situationen kam: man glaubte mir nicht und ich wurde damit abgefertigt: „Das bildest du dir nur ein“. Jetzt, nachdem ich den Vater im Himmel kennengelernt habe, weiß ich, es gibt jemand, der alles weiß und die Gerechtigkeit ist, und zwar für alle Menschen. Mit dieser Gewissheit und diesem Vertrauen kann ich gut leben. Ich kann warten, bis ich oben bin.