Stettin, Pommern
Ich bin Schwester Elli Polzin. Ich bin geboren am 9. Dezember 1913 in Stettin [heute polnisch Szczecin]. Als ich 1 Jahr alt war, starb mein Vater. Meine Eltern sind Max Zechert, geboren am 23.November 1875, und Auguste Zechert, geborene Bienert, geboren am 14.Januar. 1880. Meine Mutter hat nicht wieder geheiratet und ich habe mit meiner Mutter alleine gelebt. Sie hatte es sehr schwer. Es gab damals keine Renten und keine Unterstützung, und sie musste arbeiten gehen. Wir waren ziemlich arm.
Als ich 9 Jahre alt war, kam eines Tages eine alte weißhaarige Dame zu uns. Und sie fragte, ob sie hereinkommen darf. Sie stellte sich mit ihrem Namen vor und sagte: „Ich komme von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und ich möchte Ihnen eine schöne frohe Botschaft bringen. Meine Mutter ließ sie herein und sie unterhielten sich beide. Dann fragte sie mich: „Sag mal, hättest du nicht Lust, wenn ich dich am Sonntag mal abhole, mit in die Sonntagsschule zu kommen? Da sind viele Kinder ‚und da ist es sehr interessant, und das wird dir sicher gefallen.“0, ich war begeistert, ich war ein ziemlich einsames Kind, weil meine Mutter immer arbeiten musste. So sagte ich sehr erfreut „ja, ich komme gern mit.“
Sie kam tatsächlich am nächsten Sonntag und holte mich ab. Und es hat mir dort in der Sonntagsschule alles so gut gefallen. Damals war abends noch die Predigtversammlung. Da kam dann meine Mama auch mit. Stettin war eine wunderbare Gemeinde und der schöne Chor sang so herrliche Lieder, meine Mutter war so sehr beeindruckt, und als wir nach Hause gingen, sagte sie: „Weißt du was, da gehören wir hin.“ Und seitdem haben wir jede Versammlung besucht; meine Mama hat das Evangelium sofort begriffen und angenommen. Ein halbes Jahr später wurden wir beide getauft von Elder Rimmasch im Glambecksee. Das war ein ganz besonderes Erlebnis. Da war eine alte Schwester, die wurde auch getauft Ihr Sohn hatte Pferd und Wagen. So wurden wir alle mit dem Pferdewagen zum See gefahren. Es war am 12.Mai 1923, und es war Gewitter.
Seitdem war die Kirche für uns unser Leben. Meine Mutter stammte aus der Gegend Posen, und wir hatten keine Verwandten in Stettin, und so war die Kirche unsere Heimat. So kann ich das nennen. Die Gemeinde in Stettin war in der Hohenzollernstraße 22. Wir mussten über zwei Höfe laufen, und auf dem letzten Hinterhof stand ein lang gestrecktes Gebäude. Das war früher ein Kuhstall; da war unsere Gemeinde drin. Aber wir haben uns alle dort sehr wohlgefühlt. Leider wurde das Gemeindeheim während des Krieges zerbombt trotzdem waren wir nach dem Krieg noch einige Male dort, weil dieser Platz uns heilig und voller Erinnerung war. Ja, da waren wir nun zu Hause in der Gemeinde Stettin. Als Kind habe ich noch im Kinderchor mitgesungen, später im richtigen großen Chor, ich hätte mir ein Leben ohne die Kirche gar nicht mehr vorstellen können, und so geht es mir auch heute noch.
In der Gemeinde gab es einen Bruder Hans Polzin. Der stand eines Tages zu Hause vor meiner Tür und fragte ganz bescheiden, ob er mich ins Kino einladen dürfe. Meine Mama war gerade nicht zu Hause und ich sagte, ich müsse erst meine Mama fragen. Er wartete dann, bis sie kam. Sie sagte dann zu mir: „Du kannst gerne gehen ‚darfst aber nicht zu spät nach Hause kommen“. Nun gingen wir beide ins Kino, und wir haben uns allmählich angefreundet und über die Jahre kennen und lieben gelernt, bis wir dann am 27.Juli 1936 geheiratet haben. Einflechten möchte ich noch, dass mein Mann, als er zwanzig Jahre alt war, von Elder Clark berufen wurde, die Gemeinde Stargard zu leiten. So fuhr er jeden Sonntag in die etwa 100 Kilometer entfernte Gemeinde, um den dortigen Mitgliedern zu dienen.
Am 17.0ktober 1937 wurde unsere Tochter Ingrid geboren, was uns beide sehr glücklich machte. Da am 1.September 1939 der Krieg ausbrach und mein Mann im März 1940 als Soldat eingezogen wurde, währte das Glück nicht lange. Zu diesem Zeitpunkt war ich im 3.Monat schwanger. Es war furchtbar, mein Mann war im Krieg und ich erwartete unser 2.Kind. Unser Sohn Klaus wurde am 3,November 1940 geboren.
Aufgrund fast täglichen Bombenalarms mussten 1943 alle Frauen mit Kindern unseren Heimatort Finkenwald – ein Vorort von Stettin – verlassen, unsere neue Bleibe war nun in Gienow, dies bedeutete die Evakuierung nach Hinterpommern. Untergebracht wurde ich mit meinen beiden Kindern im Pfarrhaus. Eines Tages erhielt ich eine Nachricht von meinem Mann‚ dass er in Guben (Deutschland) verwundet im Lazarett liegt. Ich fuhr sofort zu ihm. und er schilderte mir, dass er in Italien auf einer abschüssigen Straße mit dem Fahrrad fuhr. Über die Straße war ein Draht gespannt, den er nicht sah. In vollem Tempo fuhr er in Halshöhe gegen den Draht, wurde vom Rad geschleudert und brach sich die Schulter. Sein Arzt sagte, er hat großes Glück gehabt, es hätte viel Schlimmeres passieren können. Nachdem ich zwei Tage bei ihm war, musste mein Mann wieder zu seiner Kompanie und ich nach Gienow zurück. Dies war unser letztes Zusammensein für die nächsten Jahre, denn ein paar Wochen später geriet er in Gefangenschaft. Das wusste ich ja nicht, und ich war ganz unglücklich, dass überhaupt keine Post mehr kam, eineinhalb Jahre ohne ein Lebenszeichen – ich war verzweifelt.
Nach einem besonders intensiven Abendgebet hatte ich in der folgenden Nacht einen Traum. Ich träumte, ich kam in eine fremde Stadt. Dort gab es viele Menschen, einige erzählten mir von einem großen Gebäude, welches man sich ohne Bedenken anschauen könne. Als ich in dieses doch ziemlich lang gestreckte Gebäude gehe‚ sehe ich am anderen Ende meinen Hans stehen. Mein Mann war Friseurmeister und ich sehe ihn dort in seinem weißen Kittel stehen und jemandem die Haare schneiden ich ging langsam auf ihn zu, während mir der Mann, der mich rein ließ, sagte ‚dass ich mit niemandem sprechen dürfte. Wir sahen uns beide nur an, als ich ein Gas Wasser bemerkte, ich nahm es und reichte es ihm, sodass sich unsere Hände berührten. Danach wurde ich aufgefordert, das Gebäude wieder zu verlassen. Ich wurde wach, und mein ganzes Kopfkissen war nass, so habe ich während des Traumes geweint.
Ich weckte sofort meine Kinder und erzählte ihnen den Traum. Wir weinten alle drei. Ich holte dann die letzten Fotografien heraus, breitete sie auf dem Tisch aus und wir sahen sie uns an. Während wir dabei waren, klopfte es an der Tür und der Pfarrer kam herein. Er sagte „Frau Polzin, ich muss Ihnen heute leider eine ganz traurige Mitteilung machen. Ich habe Bescheid bekommen, dass Ihr Mann vermisst wird.“ Die Kompanie hatte wohl nachgeforscht, wo ich jetzt lebe und den Bescheid an die Adresse des Pastors geschrieben. Als ich dem Pastor erzählte, dass ich schon einige Jahre keine Nachricht von meinem Mann hätte, sagte er: „Er wird wohl kaum noch leben, denn ich habe aus den anderen Dörfern gehört’ wenn die Frauen den Bescheid bekamen, dass ihr Mann vermisst wird, erhielten sie einige Zeit später die Mitteilung, dass er nicht mehr lebt“. Da sagte ich zu ihm: „Nein, Herr Pastor, mein Mann lebt“. Er fragte „Wieso, haben Sie denn eine andere Nachricht erhalten?“ „Ich habe meinen Mann gesehen. Ich habe ihm gegenübergestanden! Ich habe ihn lebend gesehen. Er stand in seinem weißen Kittel und hat Haare geschnitten. Er lebt, das war kein Traum, das wurde mir gezeigt.“ Der Pastor staunte sehr und sagte: „Gibt es denn so was? In der Nacht träumen Sie das, und ich muss Ihnen heute diese Nachricht bringen und Sie sind überzeugt, dass ihr Mann lebt.“ Und ich habe dann immer, wenn ich gefragt wurde, mit Zuversicht gesagt „Mein Mann lebt. Ich weiß es“.
Das war ja nicht umsonst, dass ich solchen Traum hatte. Die Zeit ging weiter und die russische Armee kam immer näher. Man hörte nachts manchmal schon den Geschützdonner und ich sagte mir, hier musst du mit den Kindern weg, hier kannst du nicht bleiben. Und dann habe ich mich mit ein bisschen Gepäck, was ich tragen konnte, eines morgens ganz früh mit den Kindern an die Straße gestellt und viele Autos angehalten und gefragt, ob sie uns mitnehmen könnten. Es klappte alles nicht. Aber am Nachmittag endlich hielt ein großer Lastwagen mit mehreren Soldaten und einem sehr netten Offizier. Als ich ihm sagte, dass ich mit meinen Kindern aus diesem Gebiet unbedingt herausmüsste, sagte der Offizier „Männer, wollen wir die Frau mitnehmen?“ Sie sagten alle ja und sie brachten uns bis nach Hause nach Finkenwalde. Aber lange konnten wir nicht bleiben, denn es kam der Befehl, dass die Frauen mit den Kindern wegmussten. Wir wurden also wieder evakuiert und kamen in einen wunderschönen Ferienort Binz auf der Insel Rügen. Wir wurden in einem Hotel „Dünenhaus“ untergebracht. Es war Winter, und das Zimmer hatte keinen Ofen. Ich ging mit den Kindern 2 Mal am Tag zur Post, um uns aufzuwärmen.
Dann kam der Monat Mai des Jahres 1945, und ich ging mit meiner Nachbarin morgens einkaufen Als wir so gingen ‚kamen uns Soldaten entgegen und ich sagte zu meiner Nachbarin „das sind doch keine deutschen Soldaten – sind das schon russische Soldaten?“ Ja ‚so war es .Die Insel Rügen wurde kampflos übergeben, es war der 8. Mai 1945. Es gab viele Frauen, die Opfer von Übergriffen und Plünderungen wurden ‚aber wir wurden immer beschützt. Eines Tages hieß es, „ihr müsst alle zurück in eure Heimatorte ‚denn hier könnt ihr keine Lebensmittelkarten mehr bekommen“ .So mussten wir eine neuntägige Reise auf einem offen Güterzug ohne Essen, Trinken und jegliche Waschmöglichkeit antreten.
Als wir in Stettin eintrafen, wurden wir schon von russischen Soldaten (Mongolische Einheit) empfangen, die uns auch noch unserer letzten Habe beraubten. Ich dachte ‚wo können wir nur hin? Ich hoffte, dass der Vater meines Mannes noch in Stettin lebt. Wir machten uns auf den Weg und fanden ihn in seinem kleinen Häuschen, in dem mein Mann seine Kindheit verbrachte. Wir blieben bei ihm .Es war eine Gegend ‚in der man sich sehr wohl fühlen konnte‚ aber der Schein trog. Die Nächte waren furchtbar jede Nacht wurde unsere Straße von einem Trupp Russen- meistens fünf Soldaten- heimgesucht, die in die Häuser eindrangen .Dieses spielte sich immer auf die gleiche Weise und sehr systematisch ab, so dass ich genau wusste ‚wann sie zu uns kommen würden. Jeden Morgen trafen sich die Frauen unserer Straße und klagten sich ihr Leid‚ welches sie in der vorangegangenen Nacht ereilte. Nun kam die Nacht, in der unser Haus dran kommen sollte. Die Kinder hatte ich zur Vorsicht angezogen ins Bett geschickt. Das Schlafzimmer war in der ersten Etage‚ aber vorn Fenster konnte ich die Haustür und einen Teil der Straße sehen. Ich stand hinter der Gardine‚ als drei Soldaten vor unserer Tür standen. Sie schlugen mit dem Gewehrkolben gegen Tür und Fensterläden und schrien: „Aufmachen Aufmachen!“ Es war deutlich zu merken, dass sie betrunken waren ich stand hinter der Gardine und betete ohne Unterlass: „Vater im Himmel ‚nur du kannst uns hier retten und helfen, verlasse uns nicht!“
Ich merkte an den Gesten und Bewegungen ‚dass der eine von den dreien plötzlich gehen wollte‚ doch die anderen machten unbeirrt weiter. Nach vielen Versuchen gelang es ihm, die anderen beiden zum Aufgeben zu überreden. Meine Erleichterung war unbeschreiblich, und ich dankte dem himmlischen Vater so sehr. Am darauf folgenden Morgen ging ich auch auf die Straße‚ wo besagte Frauen sich ihr Leid klagten‚ und erzählte von meiner Erfahrung der letzten Nacht‚ aber anstatt sich mit mir zu freuen‚ glaubten sie mir nicht und schimpften: „wir haben das jede Nacht durchgemacht‚ und Sie behaupten‚ dass Sie verschont wurden“!
Aufgrund dieser schrecklichen Geschehnisse beschloss ich ‚dass wir hier nicht länger bleiben konnten Eine Freundin, die ich in der Stadt traf, zeigte mir eine leer stehende Wohnung ‚die ich mit ihrer Hilfe mit den uns gegebenen Möglichkeiten bewohnbar machte. Eines Tages war ich mit meiner kleinen Tochter Ingrid (sieben) in dieser Wohnung ‚um sie weiter zu verschönern »Mein Sohn Klaus (vier) war vom Hunger schon so schwach ‚dass er bei meinem Schwiegervater bleiben musste »Zu der Zeit gab es eine Ausgangssperre ‚nach 21 Uhr durfte die deutsche Bevölkerung nicht mehr die Häuser verlassen. Während wir unsere neue Wohnung herrichteten, verpassten wir den Zeitpunkt, um vor 21 Uhr wieder zu Hause zu sein. Die Nachbarn dort im Haus sagten, dass ich jetzt nicht mehr auf die Straße dürfe, ich solle doch diese Nacht hier schlafen. Aber ich musste nach Hause, da ich meinen Sohn und meinen Schwiegervater nicht beunruhigen wollte. So nahm ich meine Tochter an die Hand und wir gingen los. Für eine lange Zeit war die Straße menschenleer. Der Mond schien, und die von Bomben zerstörte Stadt wirkte sehr unheimlich.
Dann hatten wir es fast geschafft. Wir brauchten nur noch um eine Ecke zu gehen, dann waren wir in unserer Straße. Auf einmal sahen wir in einer Haustür drei Männer stehen. Sie sahen gefährlich aus. Als sie uns sahen, brüllten sie los und fuchtelten mit den Händen. Einer kam auf uns zu und drohte mit der Fauststich. Ich dachte, er wird uns vielleicht schlagen. Ich blieb mit Ingrid stehen. Der Mann sah mich dann an, ließ die Hand fallen, drehte sich um und ging wieder weg. Er ging zu den beiden anderen Männern ohne ein Wort zu sagen. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Es war wie ein Wunder. Der Mann war gar nicht fähig, uns etwas zu tun. Trotz seiner großen Wut ging er wieder weg. Solange ich lebe, werde ich diese Situation nicht vergessen. Ich nahm dann meine Tochter bei der Hand und sagte: „Wir müssen jetzt da vorbei, sei ganz ruhig und tu nicht ängstlich.“ Wir gingen an den Männern vorbei. Keiner von denen sprach ein Wort oder rührte sich. Als wir dann um die Ecke herum waren, sind wir ganz schnell zu unserem Haus gelaufen. Es war ein großes Zeugnis für mich, denn es war eine Macht neben uns, die uns beschützt hat. Es ist gar nicht anders denkbar.
Am nächsten Morgen ging ich wieder zu dem Haus mit der neuen Wohnung. Da kamen mir schon die Frauen weinend entgegen und sagten: „Sie müssen ja einen Schutzengel gehabt haben. Was denken Sie, was sich hier in der Nacht abgespielt hat. Die Russen sind hier eingedrungen und haben nicht eine Frau verschont, sogar vor einem 7-jährigen Mädchen haben sie nicht haltgemacht.“ Da wusste ich, warum ich das starke Gefühl hatte, an dem späten Abend noch zu gehen. In dieses Haus bin ich dann auch nicht eingezogen, denn es war ja dort genauso schlimm wie in der Straße bei meinem Schwiegervater. Es war eine sehr harte Zeit. Es gab auch nichts mehr zu essen. Kein Bäcker in der Stadt konnte mehr backen. Wir hatten noch einen Sack mit alten Kartoffeln, damit haben wir uns geholfen. Aber wir wurden immer schwächer. Mein kleiner Sohn war schon so schwach, dass ich ihn die Treppe zum Schlafzimmer huckepack tragen musste. Ich war verzweifelt und dachte, wir müssen verhungern. Ich habe dann eines Tages zum Himmlischen Vater gesagt: „Du kennst unsere Lage, Vater im Himmel, Du siehst, wie es uns geht, und nur Du kannst noch helfen, sonst werden wir verhungern.“
Nach diesem Gebet wollte ich mit den Kindern etwas spazieren gehen. Wir waren noch gar nicht weit vom Haus weg, als eine Frau direkt über die Straße auf uns zukam. Sie sah recht einfach aus, hatte ein Kopftuch um und eine Einkaufstasche bei sich. Ich dachte, was will sie uns tun. Ich konnte nicht erkennen, ob sie eine Polin oder Russin war. Sie kam direkt auf uns zu, blieb dann -vor uns stehen und reichte mir ihre Einkaufstasche. Sie hat kein Wort gesagt und ich frage „für mich?“ Sie nickte nur, drehte sich um und ging wieder weg. Meine Kinder und ich sahen dann sofort ganz neugierig in diese Tasche und die war voller Brot. Es waren Stücke, einzelne Schnitten und Kanten. Aber voller Brot. Es war für uns unfassbar. Wer war diese Frau? Aber ich wusste gleich, das war die Erhörung meines Gebetes, das ich gerade vor ungefähr 10 Minuten gesprochen hatte.
Und dann heute nach so vielen Jahren kommt mir immer wieder diese Schriftsteile in den Sinn, wo vom Engel zu Daniel (Dan.9) gesagt wird: „Als du anfingst zu beten, wurde ich ausgesandt zu dir“. Da denke ich, so war das auch bei mir. Als ich anfing zu beten, der Vater im Himmel möchte uns doch in unserer Not helfen, da wurde diese Frau schon geschickt, um uns das Brot zu bringen.
Eines Tages kam meine Mama nach Stettin, und sie nahm uns mit nach Wittstock, so hieß die kleine Stadt, in der schon bessere Verhältnisse waren. Aber Wittstock konnte uns nicht aufnehmen; die Stadt war total überfüllt von Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. So ging ich mit einer Schwester Gertrud Garbrecht, die auch aus Stettin war und sich bereits in Wittstock aufhielt, auf Wanderschaft, um eine neue Bleibe zu suchen. Wir sind dann letztendlich in einem Dorf, das Liepe hieß und nicht weit von Schwerin entfernt ist, gelandet.
Ich hatte dann an die Mission geschrieben und alles geschildert und dass wir so gerne wieder Anschluss an die Kirche haben möchten. Daraufhin wurden eines Tages von der Mission zwei Missionare nach Liepe geschickt. Sie haben eine kleine Versammlung mit uns gemacht und uns das Abendmahl gereicht. Das war so wunderbar für uns! Die Missionare sagten, dass es jetzt nach dem Krieg schon eine kleine Gemeinde in Schwerin gibt, bestehend aus lauter Flüchtlingen. Sie sagten, wir sollten unbedingt versuchen, nach Schwerin zu kommen. Wir machten uns also auf den Weg, und Schwester Garbrecht und ich gingen aufs Arbeitsamt. Man durfte nämlich nur in die Stadt ziehen, wenn man dort Arbeit hatte. Aber der Herr segnete uns, wir bekamen Arbeit und wir (meine Mutter, meine beiden Kinder und ich sowie Schwester Garbrecht mit ihrer alten Mutter) konnten nach Schwerin ziehen,
In der kleinen Schweriner Gemeinde gab es Königsberger Mitglieder, nämlich Geschwister Meyer, Geschwister Hellwig und Geschwister Christochowitz. Wir waren so glücklich, dass wir wieder in unserer Kirche zu Hause waren. Das war 1946.
Die ganze Zeit hatte ich keine Nachricht von meinem Mann. Endlich nach über drei Jahren erhielt ich die erste Postkarte von ihm aus russischer Gefangenschaft. Ich hatte an den Suchdienst in Berlin geschrieben, und auch mein Mann hatte sich dort hingewandt, sodass wir uns dadurch gefunden haben. Nach Hause aus der Gefangenschaft kam mein Mann dann einen Tag vor Weihnachten im Jahr 1949. Also war er seit dem Einzug in den Krieg 1940, bis er nach Hause kam, fast 10 Jahre weg.
Am 23.Dezember 1949 gingen die Kinder und ich schon eine Stunde eher zum Bahnhof und dort haben wir auf den Zug gewartet. Von weitem sah ich meinen Mann aussteigen. Aber er sah sehr verändert aus. Er hatte ja auch Furchtbares durchgemacht – fünf und halb Jahre russische Gefangenschaft. Er war oft sehr schwer krank hat aber alle schrecklichen Krankheiten wie Ruhr, Malaria und Ähnliche überstanden. Er erzählte, dass er in einer großen Halle gelegen hat, und um ihn herum sind die Gefangenen gestorben. Wenn ihm nicht manchmal die gesunden Kameraden eine Schüssel mit Kohlsuppe gebracht hätten, hätte er es wohl nicht überstanden. Niemand sonst kümmerte sich um die Schwerkranken. Aber nun war er zu Hause. Er sah sehr verändert aus, man konnte ihn kaum erkennen, weil er so ein aufgeschwemmtes Gesicht durch das viele Wasser im Körper hatte. Langsam erholte er sich und allmählich hat er dann auch ein bisschen mehr erzählt, was er erlebt und durchgemacht hat. Seine Gefangennahme hat er so geschildert.
Er war Sanitäts-Unteroffizier und musste Medikamente nach vorne an die Front bringen. Plötzlich kamen russische Panzer und überrollten den kleinen Bunker, worin sich die Deutschen versteckt hatten. Dann kamen die Russen mit ihren vorgehaltenen Waffen und schrien: „Alle rauskommen!“, und einige wurden gleich geschlagen. So begann die Gefangenschaft, und sie dauerte 5½ Jahre.
Unser Leben normalisierte sich allmählich. Im Jahr 1952 wurde mein Mann Gemeindepräsident in Schwerin. Er übte diese Berufung 12 Jahre aus. In dieser Zeit kaufte er das Grundstück, auf dem sich die Gemeinde heute noch befindet (allerdings jetzt mit einem schönen neuen Gemeindehaus). Er kaufte es damals auf seinen Namen, weil die Kirche in der DDR-Zeit keine Grundstücke kaufen durfte. Im Jahr 1986 wurde mein Mann zum Hohen Priester ordiniert. Er starb am 1.März 2004 in seinem 93.Lebensjahr im festen Glauben an unseren Erlöser.
Nachdem ich dies alles aus meiner Erinnerung aufgezeichnet habe, möchte ich abschließend noch mein eigenes Zeugnis hinzufügen: Es mag paradox klingen, aber die schlimmsten Erlebnisse und Prüfungen, die ich in den schweren Jahren hatte, haben dazu beigetragen, dass mein Zeugnis stark und unerschütterlich geworden ist. Denn gerade in den schwersten Situationen habe ich die Nähe und die Hilfe des Vaters im Himmel und unseres Herrn Jesu Christi spüren dürfen, und das ist unauslöschlich in mir verankert, und ich bin so dankbar dafür.