Breslau, Schlesien

Mormon Deutsch Sonja BellersenMein Name ist Sonja Bellersen, geborene Glaubitz. Ich bin am 9. Juni 1930 in Breslau, Schlesien, geboren worden. Mein Vater heißt Bruno Glaubitz, meine Mutter Margarete Janitschke. Mein Vater war kein Mitglied. Seine Eltern waren katholisch, hatten sich aber von der katholischen Kirche abgewandt, weil sie mit der Lehre und dem Pfaffentum nicht einverstanden waren und von Letzterem unangenehm berührt waren. Mein Vater war „freireligiös“ und sehr gottesfürchtig. Obwohl er so gläubig war, hat er das Evangelium nicht angenommen. Das war wohl auch ein Versäumnis meiner Mutter, die durch die Heirat ziemlich inaktiv geworden war. Doch hat sie sehr darauf geachtet, dass meine Schwester und ich jeden Sonntag mit unseren Großeltern, die direkt nebenan wohnten, zur Kirche gingen.

Ich kann mich noch schwach erinnern, dass Heber J. Grant unsere Gemeinde besuchte und an amerikanische Missionare, die oft von meiner Großmutter, sie war 15 Jahre FHV-Präsidentin, zum Essen eingeladen wurden. Sie trugen Trenchcoats und Hüte und ich fand sie sehr interessant. Bevor der Zweiten Weltkrieg ausbrach und noch niemand von der Bevölkerung an Krieg dachte, wurden die Missionare aus Deutschland abgezogen. In der PV war es für unsere Lehrerin oft nicht leicht, das Thema zu geben. Die Jungen hatten viel Unsinn im Kopf und störten dadurch den Unterricht. Manchmal fiel die PV aus, weil die Lehrerin krank war. So konnte ich neben meiner Großmutter an der Sonntagsschule teilnehmen, was ich viel interessanter als die PV fand.

Der Krieg brach aus und unsere Brüder wurden zum Militär eingezogen. Es waren nur noch die älteren und kranken Brüder in der Gemeinde. Ich hatte nun das Alter erreicht, um getauft zu werden und unser Gemeindepräsident, Bruder Neugebauer, sprach mich oft an, ob ich mich nicht taufen lassen möchte. Aber ich hatte die Notwendigkeit der Taufe noch nicht verstanden. Am 8. Mai 1942 hatte Bruder Becker Fronturlaub und da ich ihn gern mochte und das Evangelium schon besser verstand, willigte ich in die Taufe ein. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Ich stand mit meiner Schwester Christa, sie war 8 Jahre alt, im weißen, langen Nachthemd am Ufer der Oder. Die Sonne war gerade untergegangen und es war kalt. Eine kleine Gruppe von Mitgliedern stand etwas abseits, darunter auch meine Großeltern und meine Mutter. Bruder Becker ging zuerst in das Wasser, um eine günstige Stelle für die Taufe zu finden. Dann kam er mir entgegen und holte mich in das bitterkalte Wasser, bis ich fast bis zum Hals darin stand. Für einen Augenblick dachte ich, du holst dir bestimmt eine Lungenentzündung, zumal wir anschließend noch lange mit der Straßenbahn nach Hause fahren mussten. Meine Zähne schlugen aufeinander und ich sagte zu Bruder Becker: „Huch, ist das kalt!“ Er drückte meine Hände und lächelte mir aufmunternd zu. Also, ich bekam keine Lungenentzündung, noch nicht einmal einen Schnupfen. Das war für mich ein Wunder und hat meinen Glauben wieder etwas mehr gestärkt.

Der Ursprung der Mitgliedschaft unserer Familie geht auf das Jahr 1922 zurück. Die Cousine meiner Großmutter, Anna Überschär, war Hebamme und war von ihrer Tochter, einer Frauenärztin, die nach Amerika ausgewandert war und einen amerikanischen Arzt geheiratet hatte, der Mormone war, gebeten worden, zu ihr nach Amerika zu kommen. Also wanderte Anna Überschär nach Amerika aus, machte ihr Examen noch mal in Englisch, lernte die Kirche kennen und hatte den Wunsch, sich taufen zu lassen. Aber das wollte sie unbedingt in ihrer Heimat und in der Oder an sich vollziehen lassen. So kam sie 1922 in Breslau an und erzählte meiner Großmutter, dass sie die einzig wahre Kirche kennengelernt hatte und sich nun in ihrer Heimat taufen lassen wollte. Meine Großmutter war im evangelischen Glauben erzogen worden. Ihr Onkel war Pastor und sie war von ihrer Kirche überzeugt. Sie war von dem Vorhaben ihrer Cousine entsetzt und schlug die Hände über ihren Kopf zusammen: „Anna, du kannst doch unserer Kirche nicht untreu werden!“

Damals hatten wir schon eine Gemeinde in Breslau und Anna überredete meine Großeltern (Großvater war katholisch, aber nur dem Namen nach) und deren Kinder Else, Frieda, Margarete (Gretel), Paul und Georg, mit ihr in die Kirche zu gehen, damit sie einen Eindruck davon bekommen sollten. Meine Großmutter war begeistert von den Liedern und meine Mutter, 17 Jahre alt, wie es auch heute bei den meisten jungen Damen ist, von den amerikanischen Missionaren. In Schlesien waren die Winter sehr kalt, als Anna Überschär, fest entschlossen, sich taufen ließ. Das Eis musste aufgehackt werden, bevor sie und der Täufer ins Wasser stiegen. Meine Familie war von solch einem tiefen Glauben überwältigt. Die Cousine fuhr wieder nach Amerika und meine Großeltern mit ihren Kindern Paul, Georg und Margarete (meiner Mutter) untersuchten das Evangelium. 1923 ließ als Erste sich meine Mutter Margarete taufen und ein halbes Jahr später, am 2. Februar 1924, meine Großeltern und ihre Söhne Paul und Georg. Ich weiß nicht, ob sie auch in der Oder getauft wurden oder ob es schon die Möglichkeit gab, im Hallenbad sich taufen zu lassen. Die Töchter Else und Frieda schlossen sich nicht der Kirche an. Es war schon merkwürdig, als meine Tante Frieda, schon eine verheiratete Frau, wenn sie krank war, zu ihrem Vater ging, und um einen Teelöffel gesegnetes Öl bat, um es einzunehmen.

Meine Mutter hatte eine sehr schöne Stimme und sang begeistert im Distriktchor mit. Es ist traurig, dass sie im Evangelium durch die Heirat schwach geworden war. Obwohl ich unendlich dankbar für meinen wundervollen Vater bin, für den das Werk stellvertretend im Schweizer Tempel getan worden ist, wo meine Mutter sich auch an ihn siegeln ließ und ich mich an meine Eltern.

Zurück in das Jahr 1929. Die Arbeitslosigkeit hatte bedrückende Ausmaße angenommen. Viele wanderten nach Amerika aus. Auch meine Eltern, jung verheiratet, bemühten sich um ein Visum und lernten eifrig englisch. Die Kosten für die Überfahrt hatten sie sich schon erspart. Da sollte ein Familienvater aus Onkel Pauls Firma entlassen werden. Paul hatte Mitleid und bat um seine Entlassung anstelle des Familienvaters. Er bemühte sich um einen neuen Arbeitsplatz, bekam aber keinen. Außerdem war er verlobt und wollte heiraten. So beschloss er, nach Amerika auszuwandern. Erstmals ohne seine Verlobte, aber ihm fehlte das Geld zur Überfahrt. Mein Vater hatte zu der Zeit noch Arbeit und so bot er seinem Schwager Paul an, ihm das Geld für die Überfahrt zu leihen, was dieser mit Dankbarkeit und großer Freude annahm. Seine Verlobte folgte ihm ein Jahr später.

Es war das Jahr 1930. Die Nazis fanden immer mehr Zulauf durch die Versprechungen, die sie dem Volk machten. Vati wurde arbeitslos und meine Großeltern mütterlicherseits traten von ihrer Wohnung an uns zwei Zimmer ab. Meine Großeltern väterlicherseits waren Sozialdemokraten. Großvater gründete, bevor mein Vater geboren wurde, das war 1905, mit einigen Männern in Breslau die AOK (Allgemeine Ortskrankenkasse). Man wollte ihn in den Vorstand wählen, aber er lehnte entschieden ab, er sei Handwerker und kein Bürokrat. Meine Eltern, ebenso überzeugte Sozialdemokraten, waren äußerst beunruhigt wegen des „Braunen Mobs“. Mutti verteilte heimlich Flugblätter gegen die Nazis, die sie unter der Kinderwagenmatratze versteckt hielt, worauf ich lag. Ich bin heute noch stolz darauf, unbewusst am Widerstand beteiligt gewesen zu sein.

Meine anderen Großeltern, Augustin Janitschke und seine Frau Johanna, geborene Torke, waren Preußen (ehrlich, treu, fleißig usw.), besonders meine Großmutter. Sie war, bevor sie heiratete, am kaiserlichen Hof in Berlin als Köchin tätig. Die Aussteuer und das Brautkleid bekam sie von der Kaiserin geschenkt. Vati bekam endlich wieder Arbeit. Meine Schwester Christa wurde am 28. August 1933 geboren und wir zogen in eine kleine Wohnung in der Nähe von Vatis neuem Arbeitsplatz. Die Nazis hatten nun endgültig die Macht übernommen. Es schien sich vieles zum Besseren zu wenden. Die Arbeitslosigkeit nahm zusehends ab. Wohnungen wurden für kinderreiche Familien gebaut. Hell und kinderfreundlich. Aber mein Vater ließ sich nicht täuschen. Georg, der jüngste Bruder meiner Mutter, ließ sich als Lehrling dazu verleiten, an die Toilettentür „Hitler verrecke!“ zu schreiben. Er wurde verraten und verhaftet. Mein Großvater wurde vorgeladen und versuchte, es als dummen, dazu verleiteten Jungenstreich darzustellen. Und um dem noch mehr Gewicht beizumessen, trat er in die Partei ein.

Schorschi, wie wir später ihn als seine Nichten nannten, blieb ein Rebell, auch später beim Militär. Er war ein Gerechtigkeitsfanatiker, aber ein sehr liebenswerter, gutherziger Mensch. Eines Tages, es war im Jahr 1936, rief der Chef meines Vaters ihn zu sich ins Büro. Sie waren allein. Mit leiser, aber eindringlicher Stimme sagte er: „Herr Glaubitz, sie werden beobachtet. Ich gebe ihnen einen guten Rat: bewerben sie sich schnellstens beim Militär, und zwar bei der „Kürassier-Kaserne“. Und die lag unweit der Wohnung der Großeltern. Vati hatte Glück. Er wurde angenommen und verdiente bedeutend mehr als zuvor. Ich erinnere mich noch sehr gut an Major Euler und Hauptmann von Holzhausen. Letzterer, ein schon etwas älterer, weißhaariger Herr, ließ mich auf seinem Pferd reiten. Es war wirklich so, Vati war sicher! Eine Wohnung wurde neben meinen Großeltern frei und ich wurde in der Yorg-Schule, einer Mädchenschule, eingeschult. Es war der Beginn einer sehr glücklichen Jugend. 1938 kam ich aus der Schule. Vati war, wie jeden Mittag, zum Essen aus der Kaserne gekommen, aber er war nicht in Zivil, sondern trug eine Uniform und das Mittagessen hatte er im Henkelmann mitgebracht. Es gab Sauerkraut! Ich hatte ein unbehagliches Gefühl. Es war ein warmer, diesiger Tag. Es sah nicht nach Regen aus. Die Sonne versuchte durch den Nebel zu dringen. Aus den Ritzen der Pflastersteine krabbelten fliegende Ameisen und schwirrten in die Luft.

Später, wenn ich mich daran erinnerte, war es wie ein böses Omen. Vati kam nun nicht mehr mittags nach Hause, auch am Abend nicht. Er war mit seiner Kompanie zur Befreiung des Sudetenlandes abkommandiert worden. Im Allgemeinen wurde die sogenannte Befreiung als gerecht empfunden, waren sie doch 1918 den Deutschen nach dem verlorenen 1. Weltkrieg weggenommen worden. Es wurde kein Krieg daraus, aber Vati kam nicht nach Haus, er und seine Truppe blieben im Sudetenland. Am 9. November 1938 wollten Mutti und ich in die Stadt zum Kaufhaus Wertheim. SA-Leute standen vor Häusern und eingeschlagenen Scheiben von Geschäften, die mit dem Judenstern und „Jude“ beschmiert waren. Wir sahen, wie Juden aus der brennenden Synagoge auf Lastwagen geschleppt wurden. Die Leute standen stumm und starr da, keiner wagte einzugreifen. Mutti zog mich an der Hand: „Komm schnell weg hier!“ Immer heftigere Propaganda wurde gegen die Juden verbreitet. Doch ich hörte von meinen Eltern nur Positives über sie. Aber andere Leute wussten zu berichten, dass Juden von Christen das Blut trinken. Und als ich an einem warmen Tag im Hof unseres Hauses bei meinem Großvater stand, der sich mit Frau Grätzer, einer alten, sehr freundlichen, feinen Jüdin, die sich über den Balkon lehnte, unterhielt, bat ich Opa um 10 Pfennig oder wie wir sagten um einen Groschen oder Böhm, um mir Brause zu kaufen. Da verschwand Frau Grätzer in der Wohnung und kam mit einem Glas dunkelrotem Saft auf den Balkon und reichte ihn mir mit den Worten: „Hier Sonni, den hab ich selbst gemacht.“ Ich dachte an Christenblut und sagte: „Danke, ich habe keinen Durst mehr!“ Ich sehe noch heute ihre betroffenen Augen und ich wünschte, ich könnte sie umarmen und um Verzeihung bitten.

Kurze Zeit später war sie nicht mehr in ihrer Wohnung und andere gewöhnliche Leute zogen ein. Die Judenverfolgung nahm zu. Gerüchte über Konzentrationslager wurden hinter vorgehaltener Hand bekannt. Da kam eine Roselotte Katzer, die vor kurzem zugezogen war, nicht mehr in die Schule. Da war eine Alida Franke, von uns Mädchen wegen ihrer Schönheit, aber auch Freundlichkeit und Bescheidenheit bewundert und sehr beliebt. Die Eltern hatten ein Kaufhaus am Ring. Wir Mädchen kannten ihre hübsche Mutter und ihren kleinen Bruder. Eines Morgens trat Fräulein Hornig, unsere Klassenlehrerin, nachdem sie uns wie üblich mit „Guten Morgen, Mädchen. Bitte setzen!“, begrüßt hatte, ein. Übrigens wurde in unserer Schule nicht mit „Heil Hitler“ gegrüßt, es waren auch Lehrer und Lehrerinnen, die teils schon unsere Mütter unterrichtet hatten und es wohl als unfein empfunden mit „Heil Hitler“ zu grüßen, noch dazu Mädchen. Auch hatten wir einen Musiklehrer, Carl Brauner, ein Kammersänger. Er war im 1. Weltkrieg verwundet und hatte ein steifes Bein zurückbehalten. Von ihm lernten wir die alten Meister kennen, aber nicht ein einziges Nazi-Lied. Wie die Lehrerschaft es fertig gebracht hat, ist für mich heute noch ein Wunder.

Zurück zu unserem Fräulein Hornig. Wir spürten, dass es ihr schwer fiel, zu sprechen: „Meine lieben Mädchen, ich muss euch mitteilen, Frankes sind weggezogen.“ Wir sahen uns an und leise sagten wir zueinander: „Hoffentlich haben sie es geschafft!“ Wenn wir Kinder mit 8 oder 9 Jahren wussten, wohin die Juden verschleppt wurden, ist es eine Lüge von den Erwachsenen zu behaupten, sie hätten davon nichts gewusst.

1972 habe ich von einem alten Freund der Familie Franke erfahren, dass sie alle im KZ ermordet wurden. Am 1. September 1939 brach der 2. Weltkrieg aus. Zuerst Polen, dann Frankreich, Afrika, England, Russland und Amerika. Währenddessen ging die Judenverfolgung weiter. Eines Morgens wachte ich mit einem zugeschwollenen Auge auf. Mich musste etwas gestochen haben. „Bevor du zur Schule gehst, besuchen wir Frau Dr. Engel (unsere Kinderärztin) in ihrer Praxis.“ Sie war mit Professor Sammelsen, einem Juden, verheiratet. Sie hatte ihren Mädchennamen aus Sicherheitsgründen angenommen. Ihr Mann durfte nicht mehr praktizieren. Manchmal kam er doch heimlich zum Hausbesuch, wenn es dringend und seine Frau unabkömmlich war. Er war schon ein älterer Herr. Typisch Professor, weißes, lockiges Haar, von großer, etwas gebeugter Gestalt. An diesem besagten Morgen war unsere Frau Dr. Engel noch unterwegs zu einem Krankenbesuch und Mutti und ich warteten im Wartezimmer auf sie. Es dauerte nicht lange. Die Tür ging auf und Frau Dr. Engel kam in Trauerkleidung, ihr Gesicht von einem schwarzen Witwenschleier bedeckt, in das Zimmer. Mutti sprang erschrocken auf, lief mit ausgebreiteten Armen auf sie zu: „Frau Doktor, was ist passiert?“ Weinend sank sie in Muttis Arme: „Mein Mann ist tot!“ Und dann erzählte sie, was passiert war.

Sie begann aus ihrer Jugend zu erzählen. Sie wuchs in Kairo auf. Im Nachbarhaus wohnte eine Familie Hess, deren Sohn Rudolf der spätere Stellvertreter Hitlers war. Als es mit der Judenverfolgung begann, wandte sie sich bittend an ihren ehemaligen Spielfreund, aber vergeblich. Es läutete an der Haustür und zwei Gestapoleute standen vor der Tür, um ihren Mann abzuholen. Er bat, sich etwas zum Ankleiden im Schlafzimmer holen zu dürfen und hat sich vergiftet. In mir wuchs der Hass gegen die Bonzen, die stiernackig in ihren braunen Uniformen durch das eben zusammengefegte auf dem Bürgersteig stolzierten. Frau Kläsch, unsere Hausmeisterin, warf ihnen immer giftige Blicke hinterher. Wir sagten aber nicht Bürgersteig, sondern Trottoir, auch nicht Flur, sondern Entree, auch nicht Vetter, sondern Cousin und nicht Base, sondern Cousine. Es sollte alles ins Deutsche umgesetzt werden, aber das war schon schwierig, außerdem klang es nicht so vornehm. So ein Brauner war auch mein später angeheirateter Onkel. Franz Tiegel, ein Ortsgruppenleiter. Ein stiller Held, der sein Leben riskierte, wie ich später bei einem heimlich belauschten Gespräch zwischen Mutti und ihrer Schwester Frieda mitbekam. Onkel Franz glaubte, die Handschrift des Häuserwarts zu erkennen. Der Onkel war nicht unbedingt ein Freund der Juden, wusste aber, was mit ihnen passierte und konnte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren sie auszuliefern. So schrieb er mit der Schreibmaschine: „Sie sind denunziert worden!“ Ging nachts an deren Tür, klingelte oder klopfte bis er Geräusche bemerkte und warf den Zettel in den Briefschlitz, in der Hoffnung, sie würden rechtzeitig fliehen und irgendwo Unterschlupf finden – Juden, die glaubten noch nicht entdeckt worden zu sein, wurden anonym denunziert.

Der Krieg nahm an Heftigkeit zu. Immer mehr ausgebombte Frauen, Kinder und alte Leute wurden bei Familien einquartiert. Sie kamen hauptsächlich aus dem Ruhrgebiet. In Schlesien waren Luftangriffe, die großen Schaden anrichteten, noch selten. Wir übten fleißig, was wir zu tun hätten bei einem Luftangriff. So wurde ich mit 12 Jahren Feuermelder, bekam einen Helm, eine Gasmaske und eine weiße Binde um den Arm. Wir lernten, dass man Stabbomben, die wie Fackeln vom Himmel fielen und mit Phosphor getränkt waren, mit dem noch nicht brennenden Stab dort anzufassen und aus dem Fenster zu werfen. In der Schule standen Wassereimer, die einmal beim Herumtollen im Treppenhaus aus Versehen der Lehrerin, die gerade die Treppe hochkam, über deren Kopf entleert wurde. Und dann wurde es ernst. Vatis letzter Urlaub – November 1942.

Wir hatten 14 Tage in Ober-Schreiberhau im Riesengebirge Urlaub gemacht und hatten, zu Hause angekommen, mit unseren Verwandten gemütlich von Vati Abschied genommen, bevor er nach Stalingrad in den Kessel flog. Dazu später. Wir hatten die Verdunkelung vor den Fenstern, als wir das Licht gelöscht hatten, wieder aufgezogen. Es muss so um Mitternacht gewesen sein, als plötzlich die Sirenen uns aus dem Schlaf rissen. Die Fenster waren nun nicht verdunkelt, Licht durfte nicht angemacht werden wegen der feindlichen Flieger. Ich dachte nicht an Helm, Gasmaske usw., zog meinen Morgenmantel über, fand den Gürtel nicht, rannte im Dunkeln ins Wohnzimmer, weil ich meinte, ihn dort liegengelassen zu haben und griff aber anstelle dessen den Binder von Vatis Oberhemd, der über dem Stuhl hing, und band ihn um. Aufgeregt und völlig durcheinander rannten wir durch die Wohnung. Da fiel meiner kleinen Schwester Christa ein: „Mutti, lass uns den Hasenbraten, der noch auf dem Herd stand, mit in den Keller nehmen. Wir wissen nicht, ob eine Bombe einschlägt!“ Ich half noch einer Mutter mit ihren beiden Kindern, die eine Etage unter uns wohnte und deren Jüngstes noch im Kinderwagen lag, in den Keller zu gelangen, wo unsere ganze Hausgemeinschaft ängstlich zusammengedrängt und frierend auf die Entwarnung hoffte.

Eine Bombe war in der Altstadt gefallen und hatte einen großen Trichter in das Pflaster gerissen. Die Luftangriffe häuften sich. Im Januar 1943 kam die Sondermeldung über das Radio: „Stalingrad ist gefallen!“ Ich hörte die Nachricht im Wartesaal der 1. Klasse auf dem Hauptbahnhof, als ich meine Tante Elli, die als Kellnerin arbeitete, besuchte. Die Offiziere an dem Tisch, wo ich saß, standen auf und salutierten. Meine Tante kam zu mir, Tränen in den Augen und sagte zu den Offizieren: „Der Vater meiner Nichte ist in Stalingrad!“ Die Männer sahen mich voller Mitleid an. In mir war alles so merkwürdig still. Erst nach und nach begriff ich es. Dann kam auch ein Einschreiben. Vati wurde als vermisst gemeldet, davor aber Vatis letzter Brief, der für mich ein Vermächtnis seiner großen Liebe zu uns ist. Ich möchte aber noch davon berichten, was ich gefühlt habe, als Vati sich von mir verabschiedet hat. Er nahm mich in den Arm, küsste mich und sagte: „Pass gut auf Mutti auf!“ Mutti begleitete Vati. Als sie sie Straße überquerten, um zur Straßenbahn zu gehen, stand ich am Fenster – es waren Doppelfenster, denn die Winter in Schlesien waren eisig kalt. Ich hatte die erste Hälfte der Fensterflügel geöffnet und hauchte das Eis an der Scheibe an, bis ich durch ein aufgetautes Loch Vati erblicken konnte, wobei meine Tränen in Strömen flossen. Noch nie war mir der Abschied so schwer gefallen. Mutti war sehr tapfer, aber das Essen fiel ihr schwer. Sie hatte einen Kloß im Hals stecken. Ihre Mutter sagte zu ihr: „Gretel, wie kannst du das ertragen?“ Mutti antwortete ihr: „Mama, ich muss jetzt für meine Kinder da sein!“

Die Front kam immer näher. Die Nahrung war schon lange rationiert worden. Es gab Essenmarken, aber wir brauchten noch nicht hungern. Bei Wertheim, das jetzt Awag hieß, war eine Tauschzentrale eingerichtet worden. Man konnte dort Kleidung abgeben und bekam, je nach Wert, Punkte dafür. So konnte man z. B. für vier Kleider oder Mäntel Anzüge usw., einen Pelzmantel oder ein Abendkleid eintauschen. Mutti, die eine Schwäche für alles Schöne hatte, erwarb für mich, wenn ich eine junge Dame werden sollte, einen Traum von einem Ballkleid und das zu dieser Zeit! Beide Großeltern versorgten uns zusätzlich mit Nahrung. Vatis Eltern hatten ein Haus in Stabelwitz, etwas außerhalb der Stadt mit zwei Morgen Grundstück. Sie hielten zwei Ziegen, Hühner und Kaninchen. Muttis Eltern hatten einen Schrebergarten. Kirschen, Birnen, Äpfel, Pfirsiche, Aprikosen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Johannisbeeren, Pflaumen und alles Gemüse, was man sich vorstellen kann. Wir wurden also gut versorgt. Nur Südfrüchte fielen aus und natürlich Schokolade und Kekse, Sahne usw.

Einmal, es war aber schon vor 1942, fuhr Mutti mit uns nach Kreiwitz, dem Geburtsort ihres Vaters. Unter den Verwandten gab es auch Bauern. Vati hatte Mutti immer seine Ration von Zigaretten geschickt, um sie für wichtige Dinge einzutauschen. So fuhren wir mit den Zigaretten im Koffer zu den Verwandten. Ich hab noch nie so viele Eier auf einmal gesehen, ja, und Butter, und ich weiß nicht mehr, was noch. Nun war aber „Hamstern“ streng verboten und das Gepäck wurde, wenn es irgendwie auffällig war, vom Bahnvorsteher geprüft. Onkel Paul, der Bruder von Opa, gab Mutti den Rat: „Gretel, wenn dich der Bahnvorsteher anspricht, sag nur einen schönen Gruß vom Janitschke Paul!“ Und es hat wunderbar funktioniert.

Ende 1943 wurden in unserer Schule die weißrussischen Truppen unter General Wlassow untergebracht. Unsere Klasse wurde daraufhin nach Brandenburg verlegt. Mutti sagte: „Die Russen stehen vor der Tür. Wir bleiben zusammen und gehen ins Glatzer Gebirge, wo wir schon mal Urlaub gemacht haben.“ Das war auch gut so, denn wie ich später erfahren habe, sind einige Mädchen von den Russen vergewaltigt und nach Russland verschleppt worden. Nun war der Ort, wo wir hingingen, hoch droben auf der Alm. Acht kleine Bauernhäuser oder vielmehr drei Bauern. Die anderen gehörten Waldarbeitern, die sich noch zwei Kühe, Hühner und ein Schwein hielten und nebenbei ein Zimmer für Feriengäste vermieteten. Dann waren da noch eine Baude, eine Försterei und eine Schule mit nur einem Klassenraum, von der 1. bis zur 8. Klasse und von einem Lehrer unterrichtet wurde. Man muss sich vorstellen, aus dieser Schule schafften es Schüler nach Glatz auf das Gymnasium zu gehen. Allerdings mussten sie die Möglichkeit haben, bei Verwandten unterzukommen. Es gab kein Geschäft, man musste ca. acht Kilometer ins Tal laufen. Dort lernte ich auch Skilaufen, oft zur Erheiterung der Dorfjugend. Das Leben war einfach. Einfacher ging es nicht. Aber es war wunderbar. Am Ende des Dorfes bewohnte eine Familie aus Breslau ihre Skihütte. Das heißt, die Familie bestand aus Mutter, Sohn Karl-Heinz in meinem Alter, aber schon fast 1,80 Meter groß und stark, Tochter Bärbel und dem kleinen Lindchen. Sie hatten aus Breslau ihr Klavier mitgebracht und jeden Abend saßen wir mit unseren Müttern gemütlich beieinander, spielten und sangen. Lindchen sang mit ihren 3½ Jahren: „Harre meine Seele“. Dazu kam noch ein Junge, der etwas älter war als ich. Seine Mutter hatte ihn bei der Bäuerin untergebracht. Man kann auch sagen versteckt, denn sein Vater war Jude und nach Amerika emigriert. Das Einzige, was er von ihm als Andenken noch hatte war ein Fagott. Herbert, so hieß der junge Mann, schloss sich nun eng an uns an, denn außer Arbeit auf dem Hof, was auch verständlich war, denn die Bäuerin war mit ihren 3 Kindern allein, gab es nicht Kulturelles.

In 1945 wurde Breslau zur Festung erklärt. Die Eltern von Mutti verlassen mit dem letzten Zug in einem Viehwaggon Breslau nach Habelschwerdt. Es ist Januar und eisig kalt. Die Nachricht von ihrer Ankunft erhalten wir telefonisch aus der Försterei. Ich organisiere mit meinem besten und treuesten Freund Karl-Heinz im nächsten Ort einen Pferdeschlitten, mit dem wir meine Großeltern aus Habelschwerdt abholen. Oma wird in warme Decken gehüllt. Es ist ein Wunder, dass sie die Strapaze gesund überstanden hat. Wir haben für sie erstmals eine Bleibe im Nachbarhaus besorgt. Deutsche Soldaten versuchen vor den Russen zu fliehen. Russische Flugzeuge flogen über unser Dorf. Einmal bin ich auf dem Weg zur Försterei, da fliegt ein russisches Flugzeug über mich hinweg und schießt mit dem MG auf mich, aber ich glaube, er wollte mir nur Angst machen, denn sonst hätte er mich getroffen. Eigenartigerweise war ich ganz ruhig.

Die Lebensmittel wurden jetzt wirklich knapp. Mutti hatte vorher noch einen Sack mit geschrotetem Buchweizen gekauft. Das gab es dann morgens, mittags und abends. Mal mit Magermilch und dann mit Petersilie. Sogar Salz gab es nicht mehr, dafür hatten wir so ein Kräutersalz, das ziemlich grün aussah. 1945 – Ende April, Anfang Mai – sahen wir in der weiten Ferne einen roten Schein am Horizont und wussten, unser geliebtes Breslau brennt. Im Mai kapitulierte Breslau nach Berlin. Der Gauleiter hatte befohlen, sinnlos und verbrecherisch Breslau zu verteidigen, selbst unter Einsatz von Kindern. Ganze Häuserviertel, besonders in den sogenannten besseren Vierteln, dazugehörte der Süden, wo wir wohnten, wurden von den eigenen Leuten verbrannt. Sie sollten nicht in die Hände der Russen fallen. Flüchtlinge aus Siebenbürgen suchten Schutz bei unserem alten Häuslerehepaar. Da kam die Nachricht, die Russen lagern in Salzbrunn. Wir berieten uns, ob wir nicht sicherheitshalber in dem alten Fort, was einmal als Festung im 7jährigen Krieg 1742 gedient hatte, uns verstecken sollten, verschoben es aber auf den nächsten Tag.

Am Morgen hörten wir Poltern, russische Laute und Schreien. Meine Mutter, meine Schwester und ich standen zitternd in unseren Nachthemden und flehten um Hilfe zum Vater im Himmel. Nach einer Weile wurde es ruhig. Wir zogen uns schnell an und gingen vorsichtig in die große Bauernküche. Die Russen hatten sich nach draußen verzogen. Im Zimmer nebenan wimmerte die junge Frau aus Siebenbürgen. Sie war vergewaltigt worden. Dann kamen die Russen wieder, wie wir später erfahren haben, hatten sie in der Nacht, als wir überlegten, uns im Fort zu verstecken, schon dort übernachtet. Nicht auszudenken, was passiert wäre. Sie holten nun die Bewohner aus den Häusern und trieben uns auf die große Wiese. Dann lagerten sich einige mit ihren aufgestellten Maschinenpistolen um uns herum, während die anderen die Häuser plünderten. Nach einiger Zeit sammelten sie sich und zogen ab. Nur ein mongolischer Soldat kam mit seinem Pferd, das er am Halfter führte, auf meine Schwester von 11 Jahren zu, zog seine Pistole und sagte drohend: „Komm!“ Meine Schwester sah ihn an, unschuldig und fragend. Mutti hörte ich immer wiederholend sagen: „Lieber Gott, hilf, lieber Gott, hilf…“ Da pfiff der Offizier der Truppe ihn zurück. Die gleiche Truppe hatte einen jungen Ukrainer, der mit seinem Vater zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden war, erschossen, als dieser Junge ihm freudig entgegen rannte. Wir wurden oft auf wunderbare Weise von unserem Vater im Himmel beschützt. Nach den durchziehenden Truppen wurde es ruhiger.

Zur Besatzung dieses Dorfes wurden in gewissen Abständen zwei russische Soldaten abkommandiert. Den einen Morgen, wir saßen gerade bei unserem Buchweizengrützebrei, als es an der Tür laut klopfte. Die Tür wurde geöffnet und zwei junge Rotarmisten standen in der Tür, über die Schulter die Maschinenpistolen gehängt. Sie knöpften ihre Kittel auf und zeigten ihre saubere Unterwäsche und machten einen freundlichen Eindruck. Die Häuslerin holte aus dem Versteck Brot und Eier, dazu etwas zu trinken und bat sie zu Tisch. Die beiden sahen zu uns und unserem kärglichen Mahl, nahmen ihre Speisen, gaben sie uns und aßen dafür unseren Brei. Dann setzten sie sich zu uns und stellten sich vor. Der Blonde kam aus der Ukraine und hieß Wassiliew Delida. Der andere sah aus wie ein Italiener und kam von der Krim. Sein Name war Leonhard Marus, Lonja genannt. Mutti hatte Vatis Bild in seiner Gala-Uniform auf dem Sims stehen, worauf Lonja hinzeigte. Mutti sagte: „Stalingrad“. Die beiden sahen Mutti ganz lieb und voller Mitleid an, deuteten auf Vati und meinten wohl, wegen seiner Uniform er wäre ein höherer Offizier, dabei war er nur ein Unteroffizier, und sie versuchten, sie zu trösten, aber sie konnten nicht ein Wort Deutsch. Wassiliew und Lonja zeichneten uns die Lage in Stalingrad auf ein Stück Papier auf. Stalingrad war von zwei Ringen eingeschlossen. „Njemski-Russko – Njemski-Russki“. Als sie sich verabschiedeten, bat der Häusler ihnen Schnaps an, worauf Wassiliew empört rief: „Nix, nix, Magda“, und dabei schlug er sich links und rechts ins Gesicht und deutete damit an, seine Mutter würde ihn dafür ohrfeigen.

Wenn wieder einmal Truppen durchzogen, standen sie schützend vor unserem Haus. Es waren Engel. Witzig war, sie waren bei einer Witwe mit zwei Kindern untergebracht, deren Haus dicht am Waldrand gelegen war und in dem Haus hielten sich ein deutscher Offizier mit seinem Adjutanten versteckt, mit dem Wissen der beiden Russen. Das hatte eine besondere Bewandtnis. Das deutsche Militär hatte zuvor Bunker in der Erde angelegt mit Lebensmittelvorräten. Keiner aus dem Dorf fand heraus, wo sie sich befanden. Nur Mutti glaubte, einmal einen Bunker gefunden zu haben. Sie entdeckte im Wald beim Pilzesuchen zusammen mit Christel und mir, eine Anhäufung von Steinen. Wir begannen, den Steinhaufen abzutragen und Mutti kam auf die Idee, sich von dem Häusler eine Schaufel auszuleihen, vielleicht würde er ihr beim Ausgraben der vermuteten Schätze helfen. Als sie ihm davon berichtete, fing er laut an zu lachen. „Frau Glaubitz, das sind die Grenzsteine vom Revier!“ Die beiden Deutschen wussten aber, wo sich die Bunker befanden und machten gemeinsame Sache mit den beiden Russen und versorgten nebenbei die junge Kriegerwitwe und ihre beiden Kinder. Als Lonja und Wassiliew abkommandiert wurden, haben sie und wir zusammen geweint.

Schlesien wurde den Polen zugesprochen, aber die Russen blieben als Besatzung, was oft zu Schießereien zwischen den beiden führte, denn die Polen mochten die Russen nicht, was man auch verstehen konnte, denn sie hatten sie aus einem Teil aus Polen vertrieben und ihnen Schlesien zugeteilt. Bevor die Polen kamen, hatte Mutti vom Bürgermeister in Spätenwalde, einem Nachbarort, etwas mehr zum Tal im Glatzer Gebirge hin, ein kleines Häuschen erworben, wo wir zusammen mit meinen Großeltern lebten. Im Juli 1945 machte sich Tante Elli, Muttis ältere Schwester, auf den Weg. Sie war dreimal unter Trümmern verschüttet worden, hatte ein Mädchen, das im Fenster eines brennenden Hauses stand und um Hilfe schrie, gerettet. Keiner der Soldaten wagte sich ins Feuer. Tante Elli zog ihren Mantel aus, tauchte ihn ins Wasser, stülpte ihn sich über, rannte in das brennende Haus, holte das Mädchen und bewahrte sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens vor dem sicheren Feuertod. Unser Häuserviertel war ausgebrannt, Breslau zu 80% zerstört. Aus den Wasserhähnen kam kein Wasser, es gab keinen Strom, keine Geschäfte, angekohlte Leichen lagen in Ruinen und Gärten. Die Straßen waren gespickt von Granaten. Schutt und Splitter von Bomben und Granaten verstopften die Wege. Massengräber waren eilig aufgeschüttet worden und verseuchten die Brunnen. Typhus und Ruhr brachen aus und keine medizinische Versorgung war möglich. Die Menschen starben wie die Fliegen. Sie wurden in Decken gewickelt und mit einem 2-rädrigen Plattenwagen zu dem ausgehobenen Massengrab gekarrt und einfach reingekippt.

Aus diesem Elend machte sich unsere hungrig Tante Elli auf den Weg. Sie ging zu Fuß bis Kamenz, denn bis dahin waren die Schienenwege der Bahn zerstört. In Strehlen setzte sie sich in den Zug und stieg in Habelschwerdt aus, um noch mal ca. 10 Kilometer zu laufen. Total erschöpft kam sie bei uns an, um uns mitzuteilen, dass unsere Häuser zerstört sind und wir kein Zuhause mehr haben. Die einzige Möglichkeit eine Unterkunft zu bekommen, sei in eine unbewohnte, aufgebrochene Wohnung einzuziehen. So entschlossen wir uns, mit Tante Elli ins Ungewisse zu gehen. Unser Gepäck legten wir in einen alten Kinderwagen und als Verpflegung zwei Spankörbe mit Blaubeeren. So fuhren wir, Tante Elli, Mutti, Christel und ich – die Großeltern ließen wir erstmals zurück – von -, von Habelschwerdt nach Kamenz. Von da ging es zu Fuß Richtung Breslau. Auf den Straßen Blutlachen, zerschossene Panzer. Aus den Fenstern der Bauernhäuser hingen gelbe Fähnchen. Das bedeutete Typhus. Man wusste nicht, ob wirklich Typhus ausgebrochen war, aber es war eine sichere Abschreckung gegen die Russen. Nach 30 Kilometer Fußmarsch kamen wir total erschöpft in Strehlen an. Eine russische Lastenwagenkolonne parkte auf dem Marktplatz. Tante Elli versuchte händeringend, Mutti davon abzuhalten, einen Fahrer des offenen Lasters zu fragen, ob er uns mit nach Breslau, jetzt Wroclaw, nehmen könnte. Das Gespräch verlief folgendermaßen: „Du Wroclaw?“ „Tak, tak (ja)“. „Du uns mitnehmen nach Wroclaw?“ „Tak, tak“. Tante Elli wimmerte nur noch. Die Besatzung des Autos bestand aus dem Fahrer, einem Beifahrer und zwei Soldaten, die auf dem Boden des offenen Lastwagens Platz genommen hatten. Sie halfen uns höflich auf das Auto mitsamt unserem alten Kinderwagen. Die beiden Soldaten, die hinter dem Führerhäuschen hockten, grinsten uns freundlich an. Mutti fühlte sich in ihrer Menschenkenntnis bestätigt und Tante Elli hatte sich beruhigt. Während der Fahrt hatte Mutti mit den Soldaten deren Kommissbrot und Speck gegen unsere Blaubeeren getauscht. Von Strehlen bis Breslau waren es ca. 60 Kilometer. So fuhren wir bei strahlendem Sonnenschein durch die zerstörte „Straße der SA“, ehemals „Kaiser-Wilhelm-Straße“. Tante Elli sagte zu Mutti: „Gretel, hier müssen wir aussteigen.“ Mutti klopfte an das Führerhäuschen: „Stoi!“ Der Fahrer und der Beifahrer drehen sich zu ihr um und grinsen. Die beiden Soldaten grinsen. Mutti klopft energischer: „Stoi! Stoi!“ Alle vier grinsen. Tante Elli fängt an zu weinen: „Ich hab es gewusst, sie verschleppen uns nach Sibirien!“ Mutti, jetzt wie ein aufgescheuchtes Huhn, rennt zum Ende des Wagens und winkt und schreit den nachfolgenden Wagen zu: „Stoi! Stoi!“ Und wieder zum Führerhäuschen: „Stoi! Stoi!“

Endlich hält der Wagen und hinter ihm die ganze Kolonne. Extra wegen uns! Alle grinsen und der Fahrer half uns höflich samt unserem alten Kinderwagen verschmitzt lächelnd von dem hohen Wagen herunter. Uns fiel ein Stein vom Herzen. Später haben wir noch öfter darüber gelacht und die sicher auch. So kamen wir durch das Villenviertel, das auch zum Teil schwer beschädigt war. Auf den Straßen standen Möbel, lagen aus dem Rahmen gerissene Ölgemälde, Bücher und ein Flügel, den sich Mutti unbedingt holen wollte. Tante Elli winkte müde: „Was willst du damit?“ Endlich kamen wir auf der Lenaustraße an. Auf der ganzen Straße stand nur noch ein Doppelhaus mit je vier Wohnungen. Die anderen Häuser waren alle ausgebrannt. Nur die Fassaden standen da. Am Anfang der Straße lag ein toter Schimmel und am Ende eine ausgebrannte Kutsche mit zwei toten Pferden. Wir bezogen im 1. Stock eine 3½ Zimmer-Wohnung. Tante Frieda mit Cousine Uschi hatte die Nachbarwohnung schon bezogen und Tante Elli wohnte in der 1. Etage.

Wir begannen erstmal, den Schutt aus dem Zimmer, das an das Nachbarhaus grenzte, fortzuräumen. In die Wand hatte eine Flügelgranate, die noch in der Mauer steckte, wohl ein Blindgänger, ein mannshohes Loch gerissen, in dem ein Junge aus dem Nachbarhaus saß und uns bei der Arbeit zusah. Die gegenüberliegende Wand war zur Hälfte eingestürzt. Wir stützten sie mit zwei Bücherschränken. Einen hatte Mutti besorgt. Das zerbrochene Fensterglas wurde durch Ölgemälde ersetzt. Das Wasser holten wir aus dem Brunnen im Garten. Daneben befand sich ein Massengrab. Tante Elli hatte sich während der Festungszeit aus einem brennenden Depot mit Mehl und Öl eingedeckt. Das Mehl roch verbrannt. Tante Elli teilte es mit uns, aber auch das ging zur Neige.

 

Von den Russen wurden wir zum Trümmerbeseitigen gezwungen. Einmal musste ich mit einem Mädchen auf dem Freiburger Bahnhof kaputte Schienen wegtragen. Außerdem hatten wir Angst vor den russischen Soldaten, die uns bewachten. So dachten wir uns einen Plan aus, um uns in Sicherheit zu bringen. Weglaufen konnten wir nicht. So täuschte das Mädchen starke Bauchschmerzen vor. Ich ging zu dem Russen und zeigte auf sie. Er erlaubte uns zu gehen. Wir nahmen den Weg quer durch die Schrebergärten, nicht ahnend, dass sie vermint waren. Der Hunger wurde unerträglich. Ich war nicht mehr in der Lage zu stehen. Aus meinem Hintern lief das Blut. Ich spürte keinen Hunger mehr und lag apathisch im Bett. Es war Sommer, das Fenster weit geöffnet. Da flog ein Spatz in das Zimmer. Mutti schloss schnell das Fenster, fing den Vogel, zog mit einem Ruck an seinem Köpfchen, so dass er sofort tot war, rupfte die Federn aus, nahm den Magen aus, der noch einen Regenwurm enthielt und kochte eine Brühe. Es war ein Wunder. Ich wurde gesund und kam zu Kräften.

Christel plagte die Sehnsucht nach unserem verbrannten Zuhause. Der Mond schien durch die Fenster der Fassade des ausgebrannten Hauses von der gegenüberliegenden Straßenseite und Christel hockte zusammengesunken und weinte bitterlich: „Mutti, ich will nach Hause!“ Nach und nach kamen polnisches Militär und polnische Familien mit Sack und Pack, deren Heimat von den Russen annektiert worden war. Viele kamen aus Lemberg. Um Platz oder ein Zuhause für sie zu schaffen, wurden die Deutschen aus ihrer Wohnung vertrieben. Wir hatten noch Glück, weil wir zwischen Trümmern lebten. Wir waren ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. So zogen wir, Tante Elli, meine Cousine Uschi, Mutti, Christel und ich, jeder einen Rucksack auf dem Rücken, durch die Keller der verbrannten Häuser, die durch einen Durchbruch miteinander verbunden waren, um notfalls von einem Haus, das brannte, in das Nächste zu gelangen.

Wir waren schon ganz mutlos. Ratten liefen durch die Gänge. Eine junge Katze lag ausgestreckt in einer Ecke. Drei winzige Kätzchen säugten vergeblich an ihrem Bauch. Sie hatte keine Zitzen. Christel rutschte auf einem verwesten Kinderköpfchen aus. Es war grausam. Plötzlich standen wir vor einem Holzverschlag. Tante Elli meinte: „Mutti, das glaube ich nicht, das würde stinken.“ Nahm einen Stock und brach den Verschlag auf. Ein Paradies tat sich vor uns auf. In den Regalen standen eingekochtes Gemüse, Zucker, Mehl und eingekochte Butter. Wir stopften unsere Rucksäcke voll. Als ich als Erste die Kellertreppe hochging, bemerkte ich an dem angrenzenden Haus, das noch unzerstört war, die polnische Flagge der Miliz. Die Miliz selbst war so betrunken, sie johlten und spielten auf der Ziehharmonika und hatten uns und den Einbruch nicht bemerkt. Ich rannte schnell wieder zurück, berichtete davon und rückwärts im Eiltempo und mit Herzklopfen bis zum Hals, uns immer wieder zurückschauend, ob wir nicht verfolgt wurden, kamen wir endlich sicher in unserem vorläufigen Zuhause an. Wir hatten die polnische Miliz bestohlen, hatten überhaupt kein schlechtes Gewissen, sondern sahen es als Segen von unserem Vater im Himmel an. Mit den Polen kam auch der Schwarzmarkt. Es wurde alles verkauft, was nicht niet- und nagelfest war. In der Zwischenzeit hatten wir Oma und Opa zu uns geholt. Mutti hatte noch in dem Häuschen im Gebirge auf dem Spitzboden unser Meißner-Porzellan und den großen wertvollen Teppich und einige Dinge, die wir als wir aus Breslau rausgingen, mitgenommen hatten, versteckt. Und damit niemand sie finden konnte, hatte Opa eine Bretterwand davor gebaut, so dass man annehmen musste, das ist das Ende des Spitzbodens. Ich wüsste zu gern, ob es gefunden wurde. Tante Elli, Opa und ich hatten uns auf gusseiserne Badewannen spezialisiert. Opa hatte einen zweirädrigen Planwagen, mit dem sonst die Toten transportiert wurden, organisiert. Es wurde überhaupt fast alles organisiert. Also wir montierten in zerschossenen und halb zerfallenen Häusern die Badewannen ab. Das war oft sehr gefährlich.

Einmal, in einem 4stöckigen Eckhaus in der Herder/Ecke Yorgstraße, das bis auf eine Wohnung im 1. Stock ausgebrannt war, wagten wir uns im Treppenhaus auf die Stufen, deren Holztritte verbrannt waren und nur das Blechgerüst betretbar war. Es war merkwürdig, die Wohnung war nicht beschädigt. Sogar in dem einen Zimmer hingen noch die Gardinen. Der Abtransport der Badewanne war unverantwortlich und Tante Elli schimpfte mit Opa. Aber für eine Badewanne bekamen wir 100 Zloty und für 100 Zloty 10 Brötchen. Mutti und Christel hatten sich auf Lichtschalter spezialisiert. Für Unterputz-Schalter gab es 10 Zloty und für Überputz-Schalter 5 Zloty. Wir ernährten uns hauptsächlich von gedörrten Kartoffelschnitzeln, die wir im Wasser dämpften und etwas Öl zugaben. Nebenbei musste ich aber immer noch Schutt wegräumen. Eines Tages, als ich von der Arbeit nach Hause kam, brutzelte auf dem Herd eine Ente. Mutti hatte meinen guten Wintermantel für die Ente eingetauscht. Ich war sehr wütend und traurig, hab aber nichts gesagt. Man hätte mich ja wenigstens fragen können. Ich hungerte nach Zitronen. Der Mangel an Obst machte sich bemerkbar. Da fanden Tante Elli und Mutti versteckt unter Kohlen eine Kiste mit Zitronensirup! Mein Vater im Himmel hat mich lieb!

An einem Morgen, Christa und ich lagen noch in unseren Betten, stand ein polnischer Offizier mit 2 Soldaten in unserer Wohnung, zeigte auf seine Uhr und sagte zu Mutti: „Fünf Minuten, dann du raus aus der Wohnung!“ Wir zogen uns hastig an und packten, was wir in Eile fassen konnten, in die Koffer. Mutti, wofür ich ihre Umsicht bewundere, die Dokumente, die auch später wichtig für unsere Genealogie waren und unsere Federbetten. Unser ganzes Haus wurde von polnischen Soldaten geräumt und für sich beschlagnahmt. Tante Elli war schon unterwegs und hatte nichts als nur das, was sie anhatte. Meine Großeltern waren geschockt, hatten aber wie wir einiges gerettet. Wir bekamen wenigstens zusammen eine andere Wohnung zugewiesen, aber nur für kurze Zeit, denn dann wurden wir aus unserer Heimat ausgewiesen. Wir hatten bis zuletzt gehofft, dass die Amerikaner uns befreien würden. Vergeblich.

Eine lange Kolonne von Vertriebenen sammelte sich auf dem Freiburger Bahnhof, wo wir in einem Güterzug geladen wurden und ab ging es nach Westen. Unterwegs versuchten junge polnische Männer auf den Zug aufzuspringen, um mit in den Westen zu gelangen. Einmal stoppte der Zug und Angst kam in uns hoch. Es ging das Gerücht um, dass Züge Richtung Osten, Russland, umgeleitet wurden, aber dann hörten wir englische Stimmen. Wir waren an der Grenze und von Engländern übernommen worden. In Marienborn war das Auffanglager. Wir wurden erstmal mit einem weißen Desinfektionspuder eingestäubt. Die glaubten wohl, wir hätten Flöhe und Läuse. Danach wurden wir registriert und unserem Bestimmungsort zugewiesen. Tante Frieda und Cousine Uschi nach Hechthausen, in der Nähe von Stade, wo auch meine Tante, die Schwester von Vati und seine Eltern verschoben wurden. Oma, Opa, Tante Elli und wir bekamen Stadthagen zugewiesen.

Mutti hatte versucht zu erreichen, dass wir mit nach Hechthausen fahren könnten. Der zuständige Beamte gab Mutti einen weisen Rat: „Gehen sie dorthin, wohin das Schicksal sie bestimmt hat.“ (Oder unser Vater im Himmel?). Wir stiegen zwar in Stadthagen aus, wurden aber wieder diesmal auf offene Lastwagen verladen und neun Kilometer entfernt in ein Dorf Niedernwöhren gebracht. Zum Glück kamen wir bei zwei Kriegerwitwen unter, die uns freundlich aufnahmen. Ansonsten begegnete uns mehr Feinseligkeit. Das Erste, was Mutti tat, als wir uns auf den Weg nach Stadthagen machten, sie fragte den ersten Polizisten, der uns in Stadthagen begegnete: „Wo haben die Mormonen ihre Kirche?“ Dieser kannte nun eine Frau, die bei einer Mormonenfamilie wohnte und im Hotel als Bedienung arbeitete. Wir fanden auch die Frau und sie gab uns die Adresse von Geschwister Hegemeister. Bruder Hegemeister war der Gemeindepräsident der kleinen Gemeinde. Von nun an besuchten wir jeden Sonntag bei Wind und Wetter, ob Regen, Schnee oder Hitze, die Gemeinde in Stadthagen, und das zu Fuß. Wobei man bedenken musste, dass die Versammlungen noch am Morgen und am Nachmittag stattfanden. Wenn Christel und ich manchmal keine Lust hatten, den weiten Weg zu laufen, war Muttis strenge Anordnung: „Ihr geht mit!“ Wir waren gehorsam – von wegen Kinder haben ihre eigene Entscheidung. Und wenn wir am Abend nach Hause trotteten, sagte Mutti: „War es nicht wieder schön?“ Und wir antworteten glücklich: „Ja! Danke, Vater im Himmel!“