Ninikow, Greifenberg, Hinterpommern

Mormon Deutsch Martin BellinMein Name ist Martin Bellin. Ich wurde in dem kleinen Dorf Ninikow, Kreis Greifenberg, in Hinterpommem am 31.Marz 1939 geboren. Ninikow hatte circa 100 Einwohner. Es gab einen Gutshof und circa 6-7 Bauernhöfe. Ich habe eine Schwester die gut sechs Jahre älter ist als ich. Mein Vater heißt Otto und meine Mutter Liesbeth, geborene Labes.

In den ersten Kriegsjahren, bis ich 5-6Jahre alt war, habe ich vom Krieg nichts bemerkt. Bis dahin hatte ich eine glückliche Kindheit auf dem Hof meiner Eltern. Unser Dorf lag nicht weit von der Ostsee entfernt. Der nächste Badeort Reval lag ungefähr drei Kilometer fern von unserem Dorf. Meine Großeltern hatten auch einen Bauernhof in Ninikow.

Die ersten Auswirkungen des Krieges bemerkte ich in den Jahren 1944/45. Viele Menschen, die weiter im Osten ihre Heimat verlassen hatten, waren auf der Flucht und zogen mit ihren Ackerwagen auch durch unser Dorf. Wenn die Flüchtlinge des Nachts mit ihren beladenen Wagen über das Kopfsteinpflaster unseres Dorfes fuhren, erfüllten die Geräusche die Nacht. Es waren unheimliche Empfindungen. In den letzten Wochen vor Kriegsende wurde mein Vater noch zum Volkssturm eingezogen. Mein‘ Vater hatte auch einen Planwagen vorbereitet, der mit Lebensmitteln und anderen nützlichen Sachen beladen war. Da mein Vater zum Militär musste, sagte er zu meiner Mutter: „Nimm Pferd und Wagen und ziehe mit den Kindern in Richtung Westen“. Meine Mutter brachte jedoch nicht den Mut auf, mit uns Kindern einfach loszufahren und die Heimat zu verlassen. Einige Zeit später wurde dann der beladene Wagen mit den Pferden gestohlen.

Mein Großvater hat seine Gedanken über den Krieg zu offen geäußert und so wurde er vom Ortsbaumführer angezeigt. Die Anzeige landete bei der Polizei. Der Polizist war jedoch ein Freund der Familie. Er ließ die Anzeige dann verschwinden. Hatte er die Anzeige weitergeleitet, so wäre mein Großvater mit ziemlicher Sicherheit im Konzentrationslager gelandet. Der Ortsbauernführer, der meinen Großvater angezeigt hatte, gehörte durch Heirat zu unserer Familie. Seine Tochter war mit dem Bruder meiner Mutter verheiratet. Mein Onkel war also sein Schwiegersohn.

Unser Dorf wurde im März 1945 von den Russen beschossen. Sie vermuteten sicher deutsche Soldaten in unserem Dorf. Mein Großvater war dabei, die Pferde mit Heu zu versorgen. Er hatte das Heu unter dem Arm, als ein Geschoß von der Wand abprallte und in seiner Lunge stecken blieb .Er lebte nur noch einige Tage und verstarb dann am 8.April1945. Zu der Zeit gab es keine ärztliche Versorgung.

Irgendwann im Frühjahr 1945 kamen dann die Russen in unser Dorf. Einige Zeit später nach Kriegsende folgten dann die Polen. Sie mussten ebenfalls ihre Heimat verlassen und wurden dann nach Ost und Westpreußen, nach Schlesien und Pommern umgesiedelt. Die Polen wurden dann in unsere Hauser und auf unsere Höfe verteilt. Unser Hof wurde von einer Polin und ihrem 18 jährigen Sohn bezogen. So lebten wir dann mit den Polen unter einem Dach. Die Polin mit Sohn in unserer Wohnung und für uns blieb dann die Kammer der Magd.

Auf dem Hof gab es noch Hühner und ein paar andere Haustiere. Da wir auch etwas Nahrung brauchten, schnappte meine Mutter sich ein Huhn und wollte es schlachten. Dieses sah die Polin, die unseren Hof übernommen hatte. Sie war sehr erbost und machte meiner Mutter klar, dass jetzt alles ihr gehört und uns gar nichts. Einige Tage danach kam dann mein Vater aus dem Krieg zurück. Anfangs hielt er sich noch versteckt, denn es bestand die Gefahr, dass er nach Russland verschleppt würde. Mit den Polen konnten wir nicht mehr unter einem Dach leben, also sagte ein Freund meines Vaters aus dem Nachbardorf Hof zu uns: „Kommt doch zu uns, ihr könnt bei uns wohnen“ Er hieß Jüdes und war der Schmied des Dorfes. In diesem Dorf bestand noch eine andere Situation. Es war von russischen Soldaten belegt und sie wohnten auf dem Gut des Dorfes. Mein Vater hat dann unter den Russen auf dem Gut gearbeitet.

In unserem Dorf Ninikow gab es noch Kartoffelmieten, die uns oder den anderen Bauern einmal gehörten. Mein Vater sprach mit den Russen und bat darum, ein Pferdegespann auszuleihen. Als die Russen den Zweck dieser Aktion begriffen hatten, dass man bei Nacht die Kartoffel von den Polen holen wollte, waren sie gerne bereit ein Gespann auszuleihen. Das Verhältnis zwischen den Polen und Russen war äußerst gespannt. Um Kartoffel zum Essen zu besorgen, mussten wir unsere eigenen Kartoffeln stehlen.

Als die Russen das erste Mal in unser Dorf einrückten, mussten sich alle Dorfbewohner auf einem Hof versammeln. Man befürchtete schon, dass alle erschossen werden. Dann wurden jedoch alle Frauen und Kleinkinder in ein Haus getrieben. In dem einen Raum saßen dann die Frauen mit ihren Kleinkindern auf dem Fußboden, denn es gab keine Möbel im Raum. In dem anderen Raum befanden sich die Russen. Schon vor dem Krieg bis hinein in die Kriegszeit haben Polen als Knechte und Mägde bei den Bauern gearbeitet. Die Polen in unserem Dorf, bekamen von den Russen die Aufgabe, die Frauen auszuwählen und in den Nebenraum zu zerren, wo sie dann vergewaltigt wurden. Da unsere Familie bei den Polen gut angesehen war, wurde meine Mutter verschont.

Einige Bewohner des Dorfes hatten sieh versteckt. Die Familie unseres Nachbarhofes hatte sieh im Keller verkrochen. Sie wurden von den Russen gefunden und mussten zügig und schnell aus dem Keller herauskommen. Das älteste Familienmitglied – ein Mann – konnte nicht so schnell und wurde auf dem Kelleraufgang erschossen. Die Russen hatten bald herausgefunden, dass es noch weitere weibliche Wesen in unserer Familie gab. Meine beiden Tanten 26und 30 Jahre alt und meine Schwester 13 Jahre alt, hatten sich auf dem Heuboden versteckt. Als die Russen sie einmal fast entdeckt hatten, sprangen sie aus einer Heulucke ins Freie und versteckten sich im Getreidefeld.

Im Frühjahr 1946 mussten sich alle Einwohner von dem Dorf Hoff, wo wir jetzt wohnten, auf dem Dorfplatz versammeln. Damit begann für uns die Vertreibung aus der Heimat. Von vielen anderen Dörfern wussten wir bereits was auf uns zukommt. Innerhalb weniger Minuten mussten wir unsere Häuser verlassen. Mein Vater hatte einen kleinen Handwagen mit dem Nötigsten gepackt. Auch die anderen Deutschen hatten gepackt was sie so tragen konnten. Dann wurden wir zur nächsten Bahnstation getrieben. Am Weg hatten sich einige Polen eingefunden, die dann versuchten, uns die letzten Habseligkeiten abzunehmen. Mein Vater hatte den kleinen Handwagen so geschnürt, dass man an die geladenen Sachen nicht so ohne weiteres herankommen konnte. Man wollte uns den Wagen abnehmen. Meine Eltern haben es jedoch geschafft, den Wagen zu behalten. Auf der Bahnstation wurden wir dann in die Wagons verladen und nach Stettin transportiert. In Stettin waren wir nur eine kurze Zeit, dann ging es auf ein Schiff, mit dem wir nach Travemünde übergesetzt wurden. Auf der Überfahrt hatte man sich von der Besatzung des Schiffes ein Fernglas ausgeliehen. Meine Eltern und auch andere schauten noch einmal in Richtung Küste, um einen letzten Blick auf die verlorene Heimat zu werfen.

In Lübeck stellte man fest, dass meine Mutter, meine Schwester und ich an Krätze erkrankt waren. Wir kamen dann ins Krankenhaus, wurden jedoch zuvor mit einem Entlausungsmittel bearbeitet. Mein Vater wurde schon auf die Insel Sylt verfrachtet. Diese Zeit im Krankenhaus habe ich in guter Erinnerung, denn wir bekamen nach langer Zeit regelmäßig Essen. Im Mai 1946 kamen wir dann auf der Insel Sylt an. Mein Vater war schon drei Tage zuvor angekommen. Wir wurden dann in das Lager Dickchendeel gesteckt, dass sich in einem Dünental südlich von Westerland befand. Das Lager bestand aus ca.8-10 Baracken. Wir wurden mit Essen und Trinken versorgt, es war nicht sehr schmackhaft aber es reichte zum Überleben. Am häufigsten gab es Kohlsuppe.

Meine Großmutter und eine meiner Tanten waren auch auf der Insel Sylt. Meine andere Tante wollte sich schon vor Kriegsende nach Berlin durchschlagen, blieb dann jedoch in Thüringen hangen und heiratete in dem Dorf Oberbösa.

Gleich nach dem Krieg gab es Lebensmittel nur auf Marken. Die Lebensmittelmarken musste man bei der Küche abgeben, um versorgt zu werden. Meine Eltern meinten jedoch, dass wir uns besser stehen, wenn wir uns die Lebensmittelmarken geben lassen, um dann mit den Marken selbst einzukaufen und uns selbst zu versorgen. Die Versorgungssituation war immer noch sehr bescheiden und daher versuchten meine Eltern etwas Essbares zu finden z.B. Kartoffelschalen. Einmal waren wir auch auf einem Schuttablageplatz, um nach Essbarem zu suchen. Das war aber auch nicht sehr ergiebig, denn zu der Zeit wurden keine Lebensmittel weggeworfen. In der entsprechenden Jahreszeit wurden Pilze gesammelt oder auch Fische geangelt Meine Großmutter hatte einen Bruder, der ca. 1920 nach Amerika ausgewandert war. Der schickte uns regelmäßig Pakete mit Lebensmittel und Kleidung. Dies löste bei uns immer große Freude aus.

Ende des Jahres 1947 mussten wir auf den Flugplatz Westerland umziehen. Der Flugplatz wurde nicht benutzt, da die Deutschen zu der Zeit keine Flugzeuge haben durften. Wir bekamen dort zwei Zimmer mit den nötigen Möbeln, circa 200 Quadratmeter Gartenland und einen Schuppen. Jetzt begann für uns eine bessere Zeit. Mein Vater sorgte dafür, dass wir Haustiere bekamen. Wir hatten vor allen Dingen Hühner und Kaninchen, aber auch zwei Schweine. Der Garten wurde bestellt und brachte uns Kartoffel und Gemüse. Jetzt war für uns die größte Not vorbei. Wir hatten wieder genug zu essen.

Es war im Juli 1970, als eines Nachmittags zwei junge Männer an unserer Haustüre klingelten. Sie stellten sich als Repräsentanten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage vor und hatten den Wunsch, mit uns zu sprechen. Es passte uns jedoch zeitlich nicht und ich hatte auch kein Interesse an dem Gespräch und so sagte ich dann, dass wir keine Zeit hätten. Die Missionare boten mir jedoch sogleich an, ein anderes Mal wiederzukommen Da die Missionare einen sympathischen Eindruck machten, vereinbarte ich mit ihnen einen Termin. Sie erzählten uns Dinge, die für uns neu waren, und sie stellten uns Fragen, die wir nicht beantworten konnten. Als sie uns die Vision von Joseph Smith erzählten, hatten wir das Gefühl, ein Märchen zu hören. Am Ende des Gesprächs baten die Missionare um einen weiteren Besuch. Wir lehnten jedoch ab. Eines hatte mich aber während des Gesprächs beeindruckt, die Missionare behaupteten häufiger, sie wüssten, dass Gott lebt. Sie sagten, auch wir könnten dieses durch das Gebet wissen.

Nach einiger Zeit kamen die Missionare wieder bei uns vorbei. Ich war jedoch nicht zu Hause Meine Frau war im Garten. Die Missionare fragten über den Zaun, ob wir noch Fragen haben. Meine Frau sagte zu ihnen: „Mein Mann hat einige Fragen“ Einige Tage später kamen die Missionare wieder zu uns. Wir waren dabei unsere Sachen zu packen, um in Urlaub zu fahren. Wir vereinbarten einen neuen Termin. Es sollte der erste Sonnabend im September um 21.00 Uhr sein. Pünktlich zu dem vereinbarten Termin klingelte es an der Türe. Zwei unbekannte junge Männer standen vor dem Haus. In den folgenden Monaten besuchten uns dann Elder Mathusek und Elder Harrison. Ich schwankte zwischen dem Evangelium und dem weltlichen Leben. Als die Missionare uns die erste Lektion gaben, bot ich ihnen Bier an, sie lehnten jedoch dankend ab und meine Frau meinte nachher“ Die trinken wohl gar keinen Alkohol.

Für den November bekamen wir einen Tauftermin, den wir jedoch verstreichen ließen. Zu dem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, ein Mitglied der Kirche zu werden. Ich sagte mir jedoch, wenn ich wissen sollte, dass diese Kirche wahr ist, so würde ich mein Leben danach umstellen können. Wir gingen jetzt recht regelmäßig zur Sonntagsschule und lebten nach dem Wort der Weisheit. Ende Januar war meine Frau bereit, sich taufen zu lassen, sie wollte jedoch auf mich warten. Ich bekam gelegentlich Tauftermine, die ich jedoch alle verstreichen ließ.

Seit einigen Jahren hatte ich ein chronisches Leiden. Ich ging wöchentlich zum Arzt und bekam Bestrahlungen und Tabletten. Nachdem ich gut 6 Monate nach dem Wort der Weisheit gelebt hatte, besserte sich mein Gesundheitszustand so enorm, dass ich auf Arztbesuche und Tabletten verzichten konnte. Es war nun fast ein Jahr her, dass die Missionare das erste Mal bei uns waren. Jetzt war wieder Sommer und wir bereiteten uns auf unsere Urlaubsfahrt vor. Die Missionare wurden jetzt ganz besonders aktiv, sie meinten wohl, dass die Urlaubszeit besonders glaubensschwächend sein könnte und somit hätten sie uns gerne vor dem Urlaub getauft. Wir fuhren also nach Spanien in Urlaub, lebten wie Mitglieder und hielten auch das Wort der Weisheit. Im Urlaub dachte ich darüber nach, diesen Zustand auf die eine- oder andere Weise zu beenden. Während unseres Urlaubs wurde Elder Mathusek nach Hamburg versetzt. Er und sein Mitarbeiter haben uns dann weiter belehrt. Ich wollte eine Entscheidung herbeiführen und so hatte ich mir vorgenommen intensiv das Evangelium zu studieren. Ich fastete und betete und las das Buch Mormon zum dritten Mal. Durch das Beten und Studieren wurde mein Glaube gestärkt.

Mir wurde zum 21.August. ein neues Taufdatum gesetzt. Einige Tage vor dem 21.August. besuchten uns Elder Mathusek und sein Mitarbeiter. Ich wusste, dass ich gefragt würde, ob ich mich taufen lassen wollte. Schon einige Tage hatte ich das Gefühl, dass ich mich taufen lassen sollte, dass dies der richtige Weg sei. Als ich dann von Elder Mathusek gefragt wurde, sagte ich ja. Nachdem ich zugesagt hatte, gab Elder Mathusek sein Zeugnis. Ich hatte das Zeugnis von Elder Mathusek schon zigmal gehört, und es hatte in mir kaum besondere Gefühle hervorgerufen. Dieses Mal war es jedoch ganz anders. Während er sein Zeugnis gab, wurde ich von Gefühlen überfallen, die ich nicht beschreiben kann. Ich spürte Freude und Begeisterung und ein starkes Gefühl der Liebe zu meinem Erretter. Diese Gefühle waren so stark, dass ich sie nicht verbergen konnte. Dies war für mich die Beantwortung meiner Gebete, und ich hatte das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Am 21. August 1971 wurden meine Frau und ich im Pfahlhaus in Hamburg getauft. Wort der Weisheit. Im Urlaub dachte ich darüber nach, diesen Zustand auf die eine- oder andere Weise zu beenden.