Danzig
Ich bin Hedwig Biereichel, geborene Dombrowski. Ich bin am 16. Mai 1915 in Danzig geboren. Mein Vater heißt Karl Dombrowski, geboren am 5. Oktober 1868. Meine Mutter heißt Amanda Kotzki, geboren am 27. Mai 1875. Beide sind auch in Danzig geboren. Wir waren neun Kinder. Meine Schwester, die 2006 in Salt Lake City verstorben ist, und ich waren die beiden letzten Kinder. Als ich geboren wurde, waren die ältesten Kinder schon siebzehn und fünfzehn Jahre älter als ich. Ich hatte gute Eltern und eine gute Jugendzeit
Seit dem 24. September 1924 bin ich Mitglied der Kirche. Als die Missionare zu meiner Mutter an die Tür kamen, hat sie sie gleich in die Wohnung rein gelassen. Sie war alleine in der großen Wohnung und hat einfach fremde Menschen herein gelassen. Die Missionare haben vom Evangelium gesprochen, sie hat zugehört und sie haben sie eingeladen, zur Kirche zu kommen. Die Kirche war in der Hoppischen Mädchenschule in Danzig. Meine Mutter ging hin und nahm meine schon verheiratete Schwester mit. Sie wollten sich das einmal anhören. Meine Mutter war katholisch, mein Vater evangelisch. Mein Vater sagte immer zu meiner Mutter, dass sie die Bibel lesen solle. Aber sie sagte: „Geh weg mit dem Teufelsbuch! Der Pfarrer in der Kirche hat uns gesagt, dass das ein Teufelsbuch sei, das sollen wir nicht lesen“. Die Menschen wurden in dieser Dummheit gehalten. Jetzt war sie doch mit meiner Schwester zur Kirche gegangen. Sie hörte von der katholischen Kirche die Glocken läuten und sagte: „Komm wir gehen da rein“. „Nein“, sagte meine Schwester, „wir gehen dahin, wohin die Herren dich eingeladen haben”!
Meine Mutter war so begeistert und hat alles aufgeschrieben, alle Schriftstellen, die genannt wurden. Zu Hause sagte sie zu meinem Vater: „Kannst du einmal diese Schriftstellen in deiner Bibel nachschlagen”? Mein Vater hat gleich die Bibel geholt, hat sie aufgeschlagen und sie gelesen. Meine Mutter sagte, dass sie nur wissen wollte, ob das wahr ist, was die Missionare gesagt haben. Sie war so begeistert und ist am nächsten Sonntag wieder hingegangen und den Sonntag darauf auch. Mittwochs ist sie zur GFV gegangen, immer mit meiner Schwester. Die Missionare kamen dann noch einmal nach Hause und haben mit ihr gesprochen und gefragt, wie es ihr gefallen habe. Sie hat ihnen alles gesagt, was sie im Herzen fühlte.
Bei uns waren die Missionare immer ein ganzes Jahr, weil wir wenige Brüder und damit kein Priestertum hatten. Ein Missionar war dann immer unser Gemeindepräsident. Zu Bruder Schmidt sagte sie, dass sie gerne getauft werden möchte. Meine Mutter wurde getauft und ist bis zum letzten Augenblick ein treues Mitglied gewesen. Sie hat uns Kinder auch in der Kirche erzogen. Meine Mutter ging sonst nie in die Kirche, aber in die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ging sie regelmäßig und wir Kinder mussten mitgehen.
Nebenbei bemerkt: Bruder Neuenschwander, ein Siebziger, war schon einmal bei mir. Wir lernten uns in Hannover kennen. Er kam damals aus Frankfurt und hat mich in meiner Wohnung besucht. Sein Vater war in Danzig Missionar.
Als ich getauft wurde, war ich neun Jahre alt. Ich wurde in der Ostsee getauft. Ich war Bienenkorbmädchen. Ich hatte den Nordstern als Symbol und der Nordstern hatte drei Eigenschaften: Ausdauer, Regelmäßigkeit und Beständigkeit. Aus diesen drei Worten mussten wir einen Namen selber aussuchen, meiner war Gelda. So heißt auch meine Tochter. Sie ist in Hannover geboren, als mein Mann aus der amerikanischen Gefangenschaft zurückkam. Das Standesamt hat bei dem Namen Gelda Kopf gestanden: „Den können wir nicht annehmen, den gibt es nicht”! Das ging hin und her und ich sollte einen andern Namen suchen. Am nächsten Tag fragte die Krankenschwester, ob ich denn nun einen Namen für die Tochter habe. Ich sagte: „Ja, Gelda. Ich komme aus Danzig und dort heißt jedes zweite Kind Gelda“. Das war gelogen, aber der Name wurde angenommen.
Mein Vater war ein guter Christ, aber ihm war nicht klar, dass es ein Weiterleben nach dem Tod gibt. Das ging ihm nicht in den Kopf. Er war ein kluger Mann und wusste alles, aber das glaubte er nicht. Jetzt ist er Mitglied, denn die heiligen Handlungen wurden für ihn im Tempel vollzogen und er ist an meine Mutter gesiegelt worden. Mein Vater war Schriftmaler von Beruf. Er konnte auch Bilder malen, aber er hat sich auf Schriftmaler spezialisiert. Er hat alleine neun Kinder großgezogen. Ich habe sehr zu meiner Mutter gehalten. Ich habe jung geheiratet. Mit den Kindern waren wir jeden Tag am Strand. Meine Kinder kennen keinen Kindergarten. Sie gehorchen heute noch.
Aus der Nazi-Zeit kann ich viel erzählen. Ich bin der einzige Mensch in Danzig gewesen, der im Krieg dem Sohn den Namen Iwan gegeben hat. Der Name wurde angenommen. In Danzig durfte keine verheiratete Frau arbeiten. Die Ehefrau hat sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert und der Mann hat genug verdient.
Als Hitler kam, wurden alle Sekten verboten. Unsere Kirche ist keine Sekte und das hat er anerkannt. Die evangelische-, die katholische- und die Mormonen-Kirche wurden nicht verboten. Die Baptisten, die Zeugen Jehovas, die Methodisten, die Heilsarmee und wie sie alle heißen, wurden alle verboten. Das war für mich immer ein großes Zeugnis. Hitler wusste doch, dass unsere Kirche aus Amerika kommt. Warum hat er sie nicht verboten? Also sind die Schriften wahr: Die Kirche wird niemals mehr von der Erde genommen werden.
ich hatte eine Schulfreundin, die bei der Heilsarmee war. Ich fragte sie: „Was macht ihr denn jetzt”? Sie sagte: „Wir gehen heimlich in unsere Wohnungen. Einmal bei dem und einmal bei dem“. Sie durften nicht öffentlich auftreten. Sie sagte mir: „Ihr könnt das? Ihr kommt doch von Amerika”! Ich sagte ihr: „Ja, unsere Kirche kann nicht weggenommen werden! Da hat ein anderer seine Hand dazwischen“.
In unserer Gemeinde gab es viele Mitglieder, aber es kamen nicht alle. Wir hatten in Danzig eine schöne Gemeinde. Wir wurden ständig bespitzelt. Wir durften nicht das Alte Testament lesen. Wir durften auch nicht aus dem Neuen Testament zitieren, wegen der Juden, der Israeliten. Auch wegen unserer Lieder sind wir bespitzelt worden. Bei dem Lied „Israel, der Herr ruft alle“ durfte Israel nicht ausgesprochen werden. Dafür haben wir in den Liedern gesagt: „Das Volk Gottes“. So wussten sie nicht, was wir meinten. „Israel“ durften wir nicht sagen und daran haben wir uns gehalten, denn wir wussten, dass immer fremde Leute in der Kirche waren, die uns bespitzelt haben. Das Abzeichen hatten sie unter dem Revers.
Die Missionare durften in keinem Restaurant essen, weil ein Missionar einmal krank geworden ist. Die Mission hat es dann verboten. Die Geschwister haben reihum die Missionare jeden Tag zum Essen eingeladen. Meine Eltern waren dienstags dran.
Ich lerne gerne Gedichte und habe eins über Moses gelernt. Das ist ellenlang und dauert zehn Minuten, wenn ich es vortrage. Wir hatten eine Konferenz in einem schönen großen Saal, der voll war. Auch die Königsberger waren da. Bruder Wendel, ein Missionar, sagte zu mir: „Schwester Biereichel, können Sie ein Gedicht vortragen, von Moses”? Ich sagte: „Das kann ich nicht. Das muss ich erst ein bisschen durchlesen“. Er sagte: „Gehen sie in die Garderobe und sprechen sie“. Ich ging in die Garderobe, der Herr Gott weiß es, und wollte das Gedicht sprechen. Ich konnte nur: „Auf das . . . Felsenrücken steht ein Greis, gestützt am Stab“. Das war alles! Und das Gedicht ist so lang. Ich habe immer wieder angefangen. Von Moses, seine Kindheit, sein Leben und Sterben. Ich konnte es nicht. Die Versammlung fing an. Alle Missionare waren da, von Königsberg und dem ganzen Umkreis. Ich dachte, wenn er mich jetzt aufruft, springst du auf und gehst in die Garderobe. Ich bekam Angst, ich konnte nur einen Satz. Es war doch schon lange her, dass ich das gelernt habe. Er rief mich auf und ich war so frech und bin nach vorne gegangen. Ich habe das ganze Gedicht aufgesagt. Ich wusste nicht wieso, das erfuhr ich später. Als Schluss war, sagte Bruder Wendel zu mir: „Schwester Biereichel, das hat wunderbar geklappt. Sie mussten nach vorne kommen“. Das hatte einen Grund: Vorne saß die Gestapo, die ganze Reihe. Alle mit dem Hakenkreuz nach innen, damit wir das nicht sahen. Wir durften doch nicht von den Israeliten sprechen, deswegen das Gedicht von Moses, sein ganzes Leben. Die Männer kamen am Schluss alle zu mir und sagten, dass es wunderbar war. Da wusste ich noch nicht, wer sie waren, ich dachte, dass seien Brüder aus anderen Gemeinden. So sind diese Männer von der Gestapo mit Blindheit geschlagen worden, dass sie gar nicht merken, dass von Israel die Rede war. Ich könnte so viele Zeugnisse geben.
Letztens ist mein Sohn aus Colorado zu meinem Geburtstag hier gewesen und sagte zu mir: „Jetzt gehe ich in die Synagoge und werde dort Bescheid sagen. Du musst das Gedicht einmal in der Synagoge vortragen“.
Meinen Mann habe ich bei uns zu Hause kennengelernt. Meine Schwester war mit einem Mann verlobt, der auch Sport trieb und mein Mann war auch im Sportverein, natürlich Fußball. Da lernten wir uns kennen. Ich war damals 17 Jahre alt. Vorher war ich bei meiner anderen Schwester in Königsberg, die dort verheiratet ist. Meine älteste Tochter, die im April verstorben ist, hieß Lotte. Das zweite Kind: Iwan, dann Ingolf und Gelda. Wenn ich bei den Behörden die Namen meiner Kinder nennen musste und Iwan sagte, sagte man zu mir: „Iwan, der Schreckliche“. Daraufhin sagte ich: „Iwan, der Starke“. Ich hatte von meinem Vater ein Lexikon, das war uralt. Da stand das drin: „Iwan, der Starke“. Sie konnten nichts machen, ich bin immer gegen den Strom geschwommen. Bei der Gestapo bin ich gemeldet worden und sie sollte mich abholen. Die Kinder wollten sie mir wegnehmen.
1944 kam ein Holländer zu uns in die Kirche, den Nazis nach Danzig zur Arbeit verfrachtet haben. Er lebte mit anderen Gefangenen im Lager und sie mussten auf der Werft arbeiten. Sie konnten aber tun und lassen was sie wollten. Sie waren nie Gefangene. Der Holländer suchte seine Kirche in Danzig, die reorganisierte Kirche Jesu Christi, und fand sie nicht. Er kam dann in unsere Kirche. Er konnte gut Klavier und Harmonium spielen und wir brauchten so einen. Er kam dann jeden Sonntag in die Sonntagsschule.
Hier im Schützenhaus war eine Revue-Veranstaltung und das war wunderbar. Die Holländer waren mit eingeladen. Der Holländer sagte uns, dass wir auch kommen könnten, wir seien eingeladen. Es waren über eintausend Menschen da und es war ein sehr schönes Programm. Ich saß mit meiner Mutter auf Stühlen und er saß hinten bei seinen Holländern. Zum Schluss standen sie alle auf und sangen das Horst-Wessel-Lied, „Die Fahne hoch“, aber ich nicht und mein Arm ist noch nie oben gewesen. Ich sprang auch auf und meine Mutter wollte das auch. Ich sagte ihr: „Bleib sitzen”! Sie wusste schon, was ich vorhatte. Ich fragte sie: „Was ist dir denn”? Das musste ich, sonst hätten sie mich verhaftet. Dann rief ich: „Meiner Mutter ist es schlecht geworden”! Ich habe meinem Sohn den Namen Iwan gegeben, und da soll ich „Heil Hitler“ sagen! Nein, nein. Wie sie zu Ende gesungen hatten, sagte ich immer wieder zu meiner Mutter: „Bleib sitzen”! (Nachher haben wir darüber gelacht.) Dann sangen sie noch das Deutschlandlied. Auch da bin ich nicht aufgestanden, weil das für mich kein Deutschland mehr war. Dann habe ich meine Mutter genommen und ganz laut gesagt, dass alle es hören konnten: „So, Mama, jetzt können wir gehen”! Es sollte jeder wissen, wie ich eingestellt war.
Am 10. August 1940 wurde mein Mann eingezogen. Mein Sohn, Iwan, wurde am 6. April geboren. Bis 1942 war mein Mann in Berlin und hatte dort nur Training gehabt. Ich bin mit einem Kind, die anderen blieben bei meinen Eltern, immer wieder zu ihm gefahren. Dort hatte ich ein Zimmer gemietet. Dann kam er nach Südfrankreich und von dort nach Süditalien. Er hatte einen guten Posten, er kam auf die Schreibstube, weil er englisch konnte. Als Kriegsgefangener hat er es bei den Amerikanern sehr gut gehabt. Er war bis zum Juni 1945 in Kriegsgefangenschaft. Mein Mann ist für die anderen Gefangenen Aufseher gewesen.
Als die Russen kamen, war ich in Danzig. Die gefangenen Russen mussten die Mülltonnen aus dem
Häusern holen. Wenn sie ins Haus rein kamen, gingen sie ein paar Stufen runter, durch einen langen Flur und noch ein paar Stufen zum Hof und da standen die Mülltonnen. In meiner Mülltonne war kein Müll drin. Da waren Brote drin, geschmuggelte Brote, mit Butter, Käse und Wurst. Ich habe das für die Russen gemacht, weil sie hungerten. Ich wusste, dass die Russen die Mülltonnen holen. Ich konnte vom Fenster aus sehen, wenn sie die Mülltonnen holten. Ich hatte ein großes Paket Brote gemacht und bin mit meinem sauberen Mülleimer runter gegangen. Mein Mann schickte aus Italien Verpflegung für uns. Ich sagte ihnen: „Brot“. Sie hatten Angst, dass ich sie irgendwie fangen wollte, oder so etwas. Dann haben sie aber ihre Steppjacken aufgemacht und sich die Brot-Pakete reingesteckt. Jede Woche habe ich meine russischen Gefangenen mit Brote gefüttert. Mein Mann schickte mir alles was ich brauchte.
Als dann die Russen bei uns drin waren, haben sie uns ernährt. Mein Sohn Iwan war der Familienretter. Als die Russen bei uns einmarschierten, ist gar nichts passiert. Sie kamen bei uns durch die Keller, von einem Haus in das andere. Uns wurde gesagt, dass wir die Soldaten gut aufnehmen sollten, ihnen gut zu Essen geben und vor allen Dingen sollten wir ihnen Zigaretten geben. Ich hatte tausende Zigaretten. In meiner Nähe war ein großes Haus voller Tabak. Das fing zu brennen an und sie haben große Kisten mit Zigaretten, alles fünfundzwanziger Packungen, durch die Fenster runter geworfen. Meine Schwester und ich holten uns diese Zigaretten. „Die nehmen wir“, habe ich gesagt. „Das ist unsere Rettung, weiß du was kommt”? Wir hatten den Schrank vorgerückt, dahinter die Zigaretten gestapelt und dann den Schrank wieder ran gerückt. Warum habe ich das gemacht? Der Herr hat mich geführt und geleitet. Als die Russen dann kamen und sagten: „Zigaretten“, sagte ich: „Jetzt können wir die gebrauchen, jetzt können wir sie ihnen geben“. Die Russen waren sauber und ordentlich. An der Haustür haben wir uns mit ihnen unterhalten, mit Händen und Füßen gesprochen. Sie fragten: „Wo Mann”? Ich sagte: „Italien“. Sie sagten: „Russland”? Ich sagte: „Nein, Italien“. Sie gingen dann alle weg und wir haben nichts mehr gesehen und gehört. Die danach kamen, das waren die Räuber. Sie haben geplündert und die Frauen vergewaltigt.
Meine Eltern wohnten in der Nähe und waren im Luftschutzkeller. Ich sagte, dass ich in keinen Luftschutzkeller gehe, ich bleibe mit meinen Kindern hier oben. Wenn ich sterben soll, dann muss ich sterben, aber in den Keller gehe ich nicht. Gerade da, wo diese Mülltonnen standen, musste ich die Klappe aufmachen, da ging eine kleine Treppe runter und dann kam ein kleiner Vorraum und dann ging es in meinen Keller rein. Meine Mutter ihre Freundin ihr Sohn hatte einen Kohlenhof. Er hat uns immer mit Kohlen beliefert. Ich hatte so viel Kohlen. Einen Keller hatten wir nur voll mit Kohlen. Luftangriffe haben wir nur gehört. Wir mussten ja im Keller sein. In meinem Keller, wo der Schornstein war, hat mein Vater eine Brennhexe aufgestellt. Da konnten wir die Kohlen gut gebrauchen, wir waren im Warmen.
Die Nachbarin kam zu mir und sagte, dass sie aus Danzig raus gehen wollen, weil sie ihr ihre Wohnung weggenommen haben. Sie sagte: „Sie kommen auch noch dran“. Ich sagte: „Nein, nur über meine Leiche”! Ich fragte: „Wohin”? Sie sagte: „Wir haben eine Stelle gefunden, bei der wir uns melden und raus können, Silberhütte, da ist eine Villa und da sitzt jemand, der alles aufnimmt. Dort werden Transporte zusammengestellt“. Ich wollte dahin gehen und ging erst einmal zu meinen Eltern. Als der Beschuss war, blieben meine Eltern bei mir im Keller. Ich sagte zu meiner Mutter: „Ich melde mich an, Silberhütte soll diese Stelle sein, wo wir raus können“. Meine Eltern haben sich nur auf mich verlassen. Vielleicht weil ich den Sohn Iwan genannt habe, ich weiß es nicht. Iwan hat neun Personen nach dem Krieg ernährt. Wenn die Russen Iwan hörten, wurden sie verrückt. Sie wunderten sich, dass ein Deutscher Iwan hieß. Mein Vater wollte nicht weg, er sagte, dass sie hier bleiben. Meine Mutter sagte aber: „Melde uns einmal an”! Ich sagte: „Das mache ich sowieso”! Ich kam dorthin und habe gesucht. Alles war kaputt, die Dächer, alles kaputt und eingeschlagen. An der Ecke saß ein Mann und schrieb alles in ein Buch. Er sprach gut Deutsch, aber die Polen konnten alle deutsch. Ich sagte: „Ich will raus aus meiner Wohnung“. Meinen Iwan hatte ich immer an der Hand gehabt. Allein fingen uns die Polen, aber hatte man ein Kind, haben sie uns nichts getan. Ich hatte immer die Urkunde von Iwan dabei. Als ich rausgehen wollte, ging die Tür auf. Ich dachte, dass die Polen und die Russen schon wieder plündern kommen.
Da steht Bruder Eichler vor der Tür. Er hieß früher Dombrowski und ließ bei Hitler den Namen ändern in Eichler. Er ging auch nach Amerika und war schon sechs Wochen von Danzig weg. Er ist privat gefahren, nicht mit dem Transport. Sie kamen nach Wolfsgrün ins Mormonen-Heim. Da bin ich auch gewesen. Ich sagte: „Bruder Eichler, Sie”? „Ja“.
Bruder Richard Ramlack, [Ratgeber zu] unser Missionspräsident in Berlin, ist mit seiner Familie nach Berlin gekommen, er hatte vier Kinder. Er fragte Bruder Eichler: „Sie kommen von Danzig, sind in Danzig noch Mitglieder”? „Ja, es sind noch alle da“. Die Mitglieder sind alle weggegangen und unsere Führung hat uns nicht Bescheid gesagt. Sie sind alle nach Amerika gegangen und wir waren hier alleine. Ich sagte zu Bruder Eichler: „Ich will mich mit meiner Familie anmelden, dass wir hier aus Danzig rauskommen. Wir wollen weg von den Polen“. Er sagte darauf: „Schwester Biereichel, melden sie alle unsere Mitglieder an”! Ich war Sekretärin in der FHV und hatte die Listen mit Namen und Adressen. Bruder Eichler ging dann zu meinen Eltern in die Wohnung. Er sagte, dass er ein paar Tage hier bleiben müsse. Er kam von Berlin, vom Missionsbüro, nach Danzig. Er war vierzehn Tage unterwegs. Er wurde oft von den Polen aufgegriffen und eingesperrt. Er hatte vom Missionsbüro Geld bekommen, um nach Danzig zu kommen und uns zu holen.
Ich bin dann zu dem Büro gegangen und da sagte man mir, dass erst am 1. November 1945 ein Transport ginge. Mein Junge war fünf Jahre alt und mein Mann war noch Soldat, aber ich wusste nicht, wo er war. Wir hatten in Thüringen eine Stelle ausgemacht, wo wir uns melden können, für den Fall, dass uns etwas passieren sollte. Von da bekam ich Nachricht. Ich kam nach Hause und sagte: „Mama, wir sind alle notiert und am 1. November geht der Transport“. Die wollten die Adressen haben, weil sie deren Wohnungen haben wollten. Ein Pole sagte zu mir: „Wie ist es, wann gehen sie”? Ich sagte: „Ja, wir gehen weg, aber ich weiß noch nicht, wann. Es wird Ende Oktober sein“. Ich sagte ihm nicht genau wann. Er wollte dann die Wohnung haben. Ein paar Tage vorher mussten wir die Scheine abholen und da erfuhr ich, dass der Transport erst am 3. November ginge. Wir sollen dann um zehn Uhr vormittags zum Legetorbahnhof gehen. Der war in unserer Nähe.
Als wir dahin kamen, stand da ein langer Zug, Viehwagen mit Stroh. In der Mitte waren zwei Wagen zweiter Klasse, gepolstert. Aber alles war kaputt, zerrissen und aufgeschnitten. Die Fensterscheiben kaputt. Wir sind im offenen Zug gefahren. Mich fragte einer, wie ich heiße. Ich nannte meinen Namen. „Zweiundzwanzig Personen”? Ich sagte: „Ja“. „Ist das ihre Familie”? Ich sagte: „Ja, wir sind eine große Familie“. Was sollte ich sonst sagen? Wir hatten Decken mitgenommen und vor die Fenster gehängt. Eine Schwester Kirsch musste zwei Eimer mit sich tragen. Das war schlimm. Ich weiß, wie die Pioniere gelitten haben. Wir haben die Pionierzeit mit durchgemacht. Bruder Horn hat von der Frau die Eimer genommen und hat sie über Bord geworfen. Wir konnten kein Gepäck mit in den Zug nehmen. Und dann noch das Kind.
Wir sind vierzehn Tage von Danzig nach Küstrin gefahren. Auf jedem Gleis sind wir stehen geblieben. Wir hatten keine Verpflegung. In diesen Zügen waren Flüchtlinge aus Ostpreußen. Nachts kamen die Polen und haben denen das letzte Stückchen Brot gestohlen. Wir sahen das und gingen dorthin und da hieß es, dass da einer sei, der Brote verkaufe.
In Küstrin waren wir in einem Zimmer. Das Zimmer war so groß wie mein Bad. Beim Bauern haben wir Stroh geholt, das ausgelegt und da haben wir gehaust. Bruder Horn wollte, dass ich zur russischen Kommandantur gehe. Aber ich wollte das sowieso und ging mit meiner Urkunde hin. Von den Russen bin ich schon oft interviewt worden, wie ich dazu kam, meinem Sohn den russischen Namen zu geben. Ich bekam immer einen Dolmetscher, wenn ich auf der Kommandantur war. Jeden Tag bin ich zur Kommandantur gegangen. Die waren so nett zu mir. Mein Sohn, Iwan, war so ein hübscher kleiner Bengel von fünf Jahren und ging von Arm zu Arm. Draußen haben die Polen Brote verkauft. Für ein Brot mussten wir zwanzig Mark geben. Wir hatten Geld und wir haben fünf Brote gekauft. Der kleine Iwan hatte auch noch zwei Brote im Arm. Auf einmal stürzten die deutschen Gefangenen auf uns, die von Russland ausgeliefert wurden, und mit dem Zug nur bis Küstrin gekommen waren. Die waren so verkommen und baten um Brot. Wir haben ihnen ein Brot gegeben und ich sagte, dass ich nicht mehr geben könne, wir seien zwanzig Personen und so viele Kinder. Wir haben was durchgemacht! Wir konnten doch nicht mehr geben. Wir waren doch zwanzig Personen, die davon leben sollten.
Bruder Eichler sagte mir, dass wir sonntags in die Sonntagsschule gehen. Sie wohnten auf einem Berg, wo auch unser Gemeindepräsident, Bruder Horn, wohnte. Wir kamen dorthin, wo all die neuen kleinen Häuser waren. Da stand ein Polen mit dem aufgepflanzten Gewehr. Meine Schwester wollte umdrehen, aber ich wollte das nicht. Wir kamen vorbei und er schaute uns an, mehr nicht. Auf einmal sehen wir oben zwei große Lastwagen von den Russen stehen, mit Menschen, wie die Heringen zusammengeprügelt. Ich schaute nur geradeaus und sah die Autos da stehen. Ich dachte, gut, dass ich meinen Jungen mithabe, sonst wären wir d mit da drauf gekommen.
Wir kamen zu Bruder Horn rein und sahen alle weinen. Bruder Eichler war schon da. Schwester Horn hatte ein vier Tage altes Kind, das im Wäschekorb lag. Sie haben die zwölf Jahre alte Gisela geholt und sie war mit auf dem Auto. Die Mutter weinte; nun hat sie ein Kind geboren und die Älteste haben sie geholt. Das war so schlimm. Man sagte, dass sie mit den Leuten zur Kartoffelernte wollten. Aber wohin man sie verschleppt hat, weiß kein Mensch. Nun sollten wir Sonntagschule halten. Wir konnten das Abendmahl nehmen, weil Bruder Horn da war und Bruder Eichler. Bruder Horn durfte nicht nach Amerika reisen, weil er eine kranke Tochter hatte. Aber sie kamen wenigstens nach Kanada. Wir haben das Lied nur gesummt, nicht gesungen, damit uns keiner draußen hörte. Dann wurde ein Gebet gesprochen und als wir fertig waren, geht die Tür auf und Gisela kam rein! Der Posten hatte zu ihr gesagt, dass sie vom Wagen runter kommen und nach Hause gehen solle. Auf den Wagen waren viele junge Mädchen.
Ich wurde rausgeschmissen, ich bin kein Flüchtling! Ich bin eine Ausgewiesene. Die Polen waren die Allerschlimmsten. Sie kamen, setzten sich in die Wohnung und wir mussten raus. Ich hatte drei Kinder und meine Schwester ihr kleines Mädchen war zwei Jahre alt. Wir mussten raus. „Alles raus, die Wohnung ist unser“, sagten die Polen. Ich sagte: „Wo sollen wir hin”? „Das ist uns egal, raus, raus”! Zu diesem Zeitpunkt hatten die Russen Danzig schon verlassen und sind nach Berlin runter gezogen.
Wir sind von Berlin aus nach Wolfsgrün gekommen. Der Transport sollte am 3. November 1945, 10 Uhr, von Küstrin abgehen, aber er fuhr erst nachmittags ab. In jedem Waggon stieg ein Russe mit ein. Das wussten wir vorher nicht. Meine Schwester, die gerade an der Tür stand, erhielt von dem Russen ein langes Talglicht. Wir fragten uns, was wir mit dem Talglicht sollten, wo hier doch so viel Stroh ist. Ich sagte: „Erst einmal abwarten, bei den Russen habe ich keine Angst“. Der Russe steckte das Licht an. Der Zug ist dann gefahren und der Russe blieb mit diesem Talglicht an der Türe stehen. Es war Nachmittag und schon dunkel. Wir sind über die Oder-Brücke gefahren, da hielt der Zug und er stieg aus. Ich dachte mir, was das wohl zu bedeuten hätte. In jedes Abteil war ein russischer Soldat eingestiegen und so haben sie den Zug, also uns, bewacht, weil die Polen die Züge überfallen und geplündert haben.
Erst kurz vor Weihnachten waren wir in Berlin. Dort waren wir im Missionsbüro. Jedes Jahr bekam ich Tonsillen-Abszess. Da konnte ich nicht schlucken, nicht essen und nicht trinken und ich wurde jedes Jahr geschnitten. Nun bekam ich das im Missionsbüro. Bruder Paul Langheinrich, Ratgeber mit Bruder Ranglack, kam gerade an diesem Abend und sagte: „Was habe ich gehört, hier will jemand ins Krankenhaus”? Ich lag mit drei Kindern in einem Bett, ein Fünfjähriger, ein Vierjähriger und ein Zweijähriger. Meine Tochter war elf Jahre alt. Sie schlief oben bei meinen Eltern.
Zwei junge Brüder nahmen mich unter die Arme und brachten mich in Berlin ins Krankenhaus. Dort sagte man uns, dass man mich nicht aufnehmen könne, man habe nur noch ein Bett frei und da könne ich nicht rein, weil das eine Diphtherie-Station sei. Meine Mutter sagte zu Bruder Horn: „Segnen Sie sie doch noch“. Er sagte zu ihr: „Schwester Dombrowski, ich bin alleine hier, es ist kein Bruder weiter da“. „Machen Sie es doch alleine“, sagte meine Mutter. Bruder Horn hat mich gesegnet. Ich hatte vierzehn Tage nichts gegessen. Als ich nach der Segnung am nächsten Tag zu Schwester Ramlack rauf kam, sagte sie zu mir: „Geht es ihnen heute besser”? Die Segnung von einem alleine hat auch geholfen und ich habe die Nacht gut geschlafen und schlucken konnte ich auch. Ich habe so viel Zeugnisse erhalten, so viele Zeugnisse.
Meine Eltern wurden in Wolfsgrün nicht aufgenommen, weil mein Vater kein Mitglied war. Wir aber sind dort geblieben. Meine Mutter ist nach Cottbus, zu meiner Schwester gefahren. Ich war von November 1945 bis Ende Januar 1946 in Wolfsgrün. Mein Junge bekam die englische Krankheit, weil wir da nichts zu essen bekamen, wir haben gehungert. Wir bekamen keine Lebensmittelkarten, weil wir in einem Schloss waren, das sie haben wollten, aber die Mormonen waren da drin. Wir sollten raus. Dann haben sie Transporte zusammengestellt. Ein Transport sollte nach Kiel gehen und einer nach Köln. Unsere Führung hat das nicht angenommen, sie sagte, dass wie hier im Schloss bleiben, auch wenn wir hungern. Ich war der erste Vogel der ausflog. Ich bin mit meinem Jungen nach Berlin gegangen. Dort hat uns eine Tante aufgenommen. Meine Mutter musste in Cottbus frieren, weil sie ihre Federbetten im Sack im Missionsbüro in Berlin gelassen hatte. Wir waren auch in Cottbus bei Bruder Fritz Lehnig. Nach Hannover sind wir im Februar gekommen. Anschließend kam mein Mann aus Italien zurück. Seit dem wohnen wir in Hannover.